1. Kopernikus selbst wurde nie von der Kirche verfolgt. Seine heliozentristische Hypothese (ich betone: Hypothese!) wurde zu seinen Lebenszeiten von Rom sogar unterstützt. Aber sie ist eine Hypothese geblieben, bis sie ein paar Jahrhunderte später bewiesen wurde.
Moin allerseits:
Bezugnehmend aufs fett gedruckte: Ich dachte eigentlich, dass schon Galilei die heliozentrische Hypothese bewiesen hatte, indem er erstmals die Venusphasen durch die Teleskope beobachten konnte und dieses nur durch eine heliozentrische Theorie erklärbar wurde. Näheres weiß ich aber nicht, denn dann müsste ich erst nachschlagen. Wollte es nur mal aus dem Kopf einwerfen, dass es wohl nicht "Jahrhunderte" dauerte.
4. Wurde diese Frage im Islam (im Mittelalter/früher/später) diskutiert? Wenn nein, welche Weltsicht herrschte dort vor?
Zu Kopernikus (natürlich findet man davon nichts in der Wiki, nicht mal in der Diskussion, wo es typischerweise in 99% der Beiträge um die Nationalität, statt um sein Wirken geht :autsch
:
In den letzten 50 Jahren sind in Forschungsprojekten zahlreiche Manuskripte untersucht worden, die belegen, dass
die mathematischen Berechnungen, die Kopernikus u.a. zu seinem heliozentrischen Weltbild führten,
arabischen Ursprungs sind. Er hat teilweise sogar die Fehler, die dort gemacht wurden, wortgetreu übernommen, z.B. bei der Berechnung des Planeten Merkurs durch Ibn asch-Schatir († 1375). Diese arabischen astronomischen Berechnungen wurden schon z.B. zwei bis dreihundert Jahre vor Kopernikus betrieben, und vom ihm teilweise auch in seinem Werk "De Revolutionibus" zitiert (selbst die Buchstaben Zuordnungen in seinen Skizzen entsprachen den arabischen Pendants), allerdings ohne die ursprünglichen arabischen Quellen zu nennen, z.B.:
- Thābit Ibn Qurra Ibn Marwan al-Sābī al-Harrānī (836 - 901)
- Al-Battānī Abū ‘Abdullāh Muhammad Ibn Dschābir Ibn Sinān al-Harrānī as-Sābī (ca. 853 - 929)
- Al-Zarqālī Abū Ishāq Ibrāhīm Ibn Yahyā al-Naqqāsch (1028–1087)
- Mu'ayyad al-Din al-'Urdi († 1266)
- Nasir al-Din at-Tusi († 1274)
- Ibn asch-Schatir († 1375)
Abgesehen nun von Kopernikus: Obige Namen sind nur einige wenige der mind. 534 arabischen Astronomen, deren Namen uns die Geschichte aus der islamischen wissenschaftlichen Blütezeit aufbewahrte! Da gibt es also noch ein weites Feld für Dissertationen...
Wahrscheinlich
nicht beachtet bzw. keine Kenntnis hatte Kopernikus oder andere westl. Gelehrte von
al-Biruni (973-1048), der die Kopernikanische heliozentrische Wende im astronomischen Denken schon 500 Jahre vor Kopernikus erkannte, ohne sie aber mit letzter Gewissheit mathematisch oder optisch beweisen zu können, und damit in der Tradition von Aristarch von Samos oder dem Chaldäer Seleukos von Babylon stand. Er konnte allerdings zeigen, dass die Erde sich um die eigene Achse dreht. Al-Biruni wiederum fußte mit seiner heliozentrischen Erkenntnis im Wesentlichen auf
Abū Ma'schar al-Falakī Dscha'far Ibn Muhammad al-Balkhī (787 - 886), der
"...it has now been "quite convincingly shown" that even Copernicus's heliocentric system which placed the sun and not the earth at the centre of our universe, was in truth inspired by an Arabic text brought to Italy by Greek scholars who fled Constantinople when it fell to the Turks in 1453. ...
It has now been acknowledged that in his 'Revolutions' Copernicus reproduced the Tusi couple. Tusi's original experiment as reported in his Arabic manuscript was vital in enabling Copernicus to arrive at his heliocentric view of our solar system.
Copernicus remained silent about his Arabic sources and it probably did not occur to his contemporaries to track the source of his inspiration to its Islamic origins. ..."
aus:
Tracing the impact of Latin translations of Arabic texts on European society
Wie kam Kopernikus an arabisches Wissen?
Man muss wissen, dass es etliche zeitgenössische Gelehrte Kopernikus' gab, die in den Nahen Osten reisten, um arabisch zu lernen (oder es auch direkt im Okzident z.B. in Venedig oder Rom lernten.) Während ihrer Reisen brachten sie tausende wissenschaftliche Manuskripte mit in die westlichen Bibliotheken, z.B. aus Konstantinopel, Damaskus, usw. die man heute noch in Rom, Paris, Venedig, etc. studieren kann. Unter den Manuskripten befanden sich auch griechisch-byzantinische Manuskripte, die öfters Übersetzungen aus dem Arabischen waren. In seiner Ausbildungszeit in Italien kam er nun in Kontakt zu dieser polyphonen Gelehrtenzunft. Es war also damals nicht zwingend erforderlich, dass alle Manuskripte in Lateinisch übersetzt werden mussten, um deren Inhalt zu kennen, da es westl. Gelehrte gab, die die wissenschaftliche
lingua franca Arabisch beherrschten. Bezeichnend ist, dass es zu der Zeit üblich war, nicht nur die antiken Originale vom Arabischen oder Griechischen ins Lateinische zu übertragen, sondern mehr Wert darauf gelegt wurde, die arabisch kommentierten, die überarbeiteten, die von Orientalen weiter entwickelten Werke der Antike, oder gänzlich eigene Forschungen zu übersetzen.
weitere Lesetipps zur Vertiefung des islamischen Einflusses auf Kopernikus, aber auch auf Galilei und Kepler:
Copernicus and Arabic Astronomy: A Review of Recent Research
Z.B.:
George Saliba: Islamic Science and the Making of the European Renaissance. 2007. ISBN-10: 0-262-19557-7
weitere Online-Infos zu Kopernikus und der arab. Einfluss auf die Astronomie:
Transmission of Muslim Astronomy to Europe
science1.html
Conclusions:
science1.html
Kurzinfos zu islamischen Wissenschaftlern und deren lateinisierte Namen:
MuslimHeritage.com - Topics
(Falls jemand die hier verwendeten arabischen Namen nicht kennen sollte, sondern nur die lateinische Form)
Zum muslimischen Weltbild:
Im Morgenland war letztlich (wie im Abendland) das Ptolemäische Weltbild vorherrschend, welches seinerseits auf den Beobachtungen von Hipparch von Anatolien beruhte. Z.B. beim bedeutenden und (auch auf das Abendland) einflussreichem
Al-Hassan Ibn al-Haytham Abū ‘Alī (965 - 1039/40).
Daran hat sich auch nichts geändert, wenn z.B. al-Biruni die heliozentrische Hypothese formulierte.
Im 12. Jahrhundert kamen dann langsam Zweifel und Kritik am Grundlegenden des Ptolemäischen Weltbildes auf, vereinzelt im Osten der islamischen Welt, vermehrt in Spanien und Marokko.
Beeinflusst u.a. durch Aristoteles strebten
Dschābir Ibn Aflah al-Ishbīlī Abū Muhammad(1100 - ca. 1150),
Ibn Bādschdscha Abū Bakr Muhammad Ibn Yahyā Ibn al-Sā'ig († 1138) und seine Nachfolger
Abū Bakr Muhammad Ibn Tufayl al-Qaysī (ca. 1100-1185),
Ibn Ruschd Abū al-Walīd Muhammad Ibn Ahmad (1126 - 1198), Al-Bitrūdschī Nūr al-Dīn Ibn Ishāq († 1204), usw.
"natürlichere" Erklärungen entgegen des Ptolemäischen Weltbildes zu finden, dieses in Frage zu stellen und eigene Modelle dagegen zu stellen, ohne, dass sich aber ein Modell in der Wissenschaft durchsetzte.
zu der islamischen Astronomie schaut euch hier mal um:
MuslimHeritage.com - Topics
http://www.islamicamagazine.com/issue18/science.pdf
Ansonsten wurde einiges auch schon hier erwähnt:
http://www.geschichtsforum.de/f36/wir-den-arabern-verdanken-521-post274987/#post274987
Wenn auch nicht so detailliert, Kopernikus betreffend.
Cheers und LG lynxxx
PS: Ich habe mal die ganzen arabischen Namen ausgeschrieben, um eventuellen Verwechslungen vorzubeugen.