Kriegsrecht/Völkerrecht - historische Entwicklung

Aber das "begrenzten" ist doch mE ein Schwachpunkt: Wer nimmt die Grenzziehung vor? Wie genau ist sie? Welche Kriterien gelten dafür?
Wenn es damals "umstrittene Bereiche" gab, dann vermutlich auch heute noch.

Da hast Du recht,
aus genau dem Grunde hat sich das IMT bei einem der höchsten Admirale der Allierten versichert, und sich auch als Vergleich den Pazifik ausgesucht.

Was soll man mehr tun, die völkerrechtliche Lage ist hochkompliziert und war umstritten, siehe zB einen kleinen Ausschnitt hier:
http://www.geschichtsforum.de/f62/bewaffnete-handelsschiffe-im-1-wk-16739/
 
Aber das "begrenzten" ist doch mE ein Schwachpunkt

Das würde ich so nicht sagen. Wir reden hier über Völkerstrafrecht, also über strafrechtliche Verfahren. Diese sind bei dem jeweiligen Angeklagten notwendig auf seine Handlungen begrenzt, wobei Handlung auch ein Unterlassen sein kann.
Die Anklage erhob einen konkreten Schuldvorwurf; das Gericht prüfte diesen.
Insoweit ergibt sich die Grenzziehung fast von selbst.

Wenn es damals "umstrittene Bereiche" gab, dann vermutlich auch heute noch.
(Die Frage nach neueren Texten ziehe ich zurück, will da keine Mühe machen.)

Es gibt weniger umstrittene Bereiche, aber natürlich gibt es sie und manchmal werden alte Fässer wieder aufgemacht. Guantanamo etwa hängt mit der Frage nach dem Rechtsstatus der Inhaftierten zusammen. Sind sie Kombattanten? Oder haben sie als Kriminelle zu gelten? Oder noch etwas anderes? Wenn sie etwas anderes sind, welche Folgerungen sind hinsichtlich ihrer Rechte zu ziehen? Das wäre z.B. ein Punkt.
Oder etwa die Zulässigkeit von Präventivschlägen, die mittlerweile wieder umstritten ist.
Aktuell ist natürlich auch die Frage, ab wann ein Verhalten Folterung darstellt.

Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich niemand mehr mit "tu quoque" verteidigen kann, dass dieser Grundsatz keinen Strafausschließungsgrund mehr darstellt.
Es wird (juristisch) nicht mehr quittiert.
 
Nach nochmaliger Lektüre des ganzen Threads fasse ich meine Meinung wie folgt zusammen:

1. In #86 habe ich mich darüber mokiert, dass in solchen Diskussionen ständig "aufgerechnet" wird. Dies war gegen den traditionellen völkerrechtlichen Rechtfertigungsgrund (defence) "tu quoque" gezielt, der dann in #89 erstmals benannt wird. Der Hintergrund ist nicht streitig: Ließe man "tu quoque" durchgängig gelten, dann würde das Völkerstrafrecht in einer unerträglichen Weise ausgehöhlt und, jedenfalls bereichsweise, wertlos.

2. Die weiterführende Diskussion beginnt mit der Hyothese (aaO), "tu quoque" sei in Nürnberg "überwunden" worden - den Hinweis auf S. Haffner würde ich gern noch etwas genauer erläutert bekommen - und deshalb z. B. im IStGH-Status auch nicht mehr akzeptiert (#92); wiewohl eingeräumt wird, der Begriff "überwunden" sei "vielleicht etwas zu positiv formuliert" (aaO), könne sich jedenfalls "niemand mehr mit 'tu quoque' verteidigen" (#103).

3. Es besteht Einvernehmen darüber, dass im Fall Dönitz (#36, 90ff.) "tu quoque" quittiert wurde, und zwar auf der Grundlage einer gutachterlichen Stellungnahme, die ein anderer Admiral (Nimitz) für seinen "Kollegen" abgab. [Ehe jemand Schaum vorm Mund bekommt: Das Wort "Kollege" habe ich gewählt, weil ich glaube, dass hier die "Profession" eine Rolle gespielt hat - dazu könnte gern ein neuer Thread aufgemacht werden.]

4. "Ob diese Ausführungen [des Gerichts zu Dönitz] auf eine implizite Anerkennung des Tu-quoque-Grundsatzes hinauslaufen, kann ... dahinstehen, denn in den Nachfolgeverfahren wurde seine Anwendbarkeit, soweit er überhaupt relevant wurde, eindeutig verneint" (Ambos, Der Allgemeine Teil des Völkerstrafrechts: Ansätze einer Dogmatisierung, Berlin: Dunker & Homblot, 2002, S. 123 ff. m.w.N.).

5. Mit der folgenden Argumentation stehe ich vor einem Minenfeld, vor dessen Betreten ich feststellen möchte: Der Nürnberger Prozess, der im Hintergrund der erwähnten Diskussion steht, war ein notwendiger Prozess, dessen Ergebnisse cum grano salis rechtlich nachvollziehbar sind und einen Meilenstein in der Entwicklung des Völkerstrafrechts darstellen. (Prinzipielle Einwände habe ich als Gegner der Todesstrafe nur gegen dieses Strafmaß.)

6. Hiernach komme ich auf die Frage zurück, inwieweit "tu quoque" als definitiv überwunden gelten kann. Jedwede Theorie dazu muss sich an der völkerrechtlichen Praxis messen lassen bzw. daran, ob sich jedermann unter allen Umständen daran hält. In der Hoffnung, nicht mißverstanden zu werden (siehe 5.), spitze ich dieses Kriterium wie folgt zu:
(a) In Nürnberg saßen Sieger über Besiegte zu Gericht, wobei sie die von letzteren vorgebrachte Einrede "tu quoque" [mit besager Ausnahme] nicht gelten ließen.
(b) "Tu quoque" sehe ich als "überwunden" in dem Falle an, in welchem ein unabhängiges Gericht eine Siegerpartei (1) wegen deren Verbrechen anklagt und (2) ggfs. eine "tu quoque"-Einrede der Siegerpartei nicht quittiert.

7. Die diesbezügliche Skepsis ist weit verbreitet. So hat z. B. Böhm (http://www.jahrbuch-menschenrechte.de/Online/archiv-jmr2000/boehm2000.pdf) beklagt, "daß die Mächte, die die Nachkriegsordnung prägten und Richter sowie Ankläger [des IMT} stellten, sich den Nürnberger Prinzipien in späteren Jahren in ihren eigenen Ländern selbst nicht konsequent unterwarfen. ... Zu viele Staaten, allen voran Sicherheitsratsmitglieder, könnten wegen ihrer seit 1945 begangenen Verbrechen angeklagt werden. Und auch mit Dresden oder Hiroshima hätten sich internationale Gerichte befassen sollen, auch wenn diese Forderung häufig auch dem durch das IMT gekränkten kollektiven Narzißmus vieler Deutscher entspringt" (zu letzterem siehe meinen Hinweis in #87). Und Gerd Hankel (vulgo Hanke, #97) befürchtet unter Hinweis auf - hier nicht auszuführende, vgl. #103 - zeitgeschichtliche Daten: "Das längst überwunden geglaubte Tu-quoque-Argument in bezug auf das Verbot des Angriffskriegs droht in Zukunft wieder zur Rechtfertigung herangezogen zu werden, und was wir bisher ... wissen, zeigt einmal mehr, daß das ius in bello in seiner Wahrnehmung und Durchsetzung verschiedenen Maßstäben zu gehorchen scheint" (http://www.his-online.de/download/Leseprobe/3936096082.pdf).
 
Zu den Quellen habe ich einige Fragen:
-Gerd Hankel formuliert die besagte Sorge am Textanfang; hab ich die entscheidende Passage überlesen oder geht er in der Tat im Folgenden nicht mehr darauf ein, weshalb er Sorge trägt, dieses Prinzip könnte wieder anerkanntes defence werden?
....kleine Anmerkung zum "völkerrechtswidrigen" Kosovokrieg; Kriege können durch die UN auch nachträglich auch konkludent als gerechtfertigt behandelt werden und sind dann nicht völkerrechtswidrig; bedenkt man ferner, dass der Einsatz nur deswegen ohne den Segen der UN erfolgte, weil zwei Staaten im Sicherheitsrat (Russland und China) blockierten, steht diese Rechtsauffassung nicht auf den sichersten Füßen
- Böhm hält zwar den Grundsatz für unumstößlich, was nicht näher begründet wird und diskutabel erscheint, fußt darauf allerdings seine Kritik an der Selektivität, die gleichwohl zu folgendem Ergebnis führt:
"Die Kritik an der Selektivität
soll jedoch nicht den Schluß nahelegen, daß Tribunale
nicht stattfinden sollen: »Aus der mit Sicherheit
zutreffenden Annahme, daß weder wegen
alter Verbrechen ermittelt noch daß alle Verbrechen
würden verurteilt werden können, folgt natürlich
keineswegs die Notwendigkeit, gleich jedes
Verbrechen ungeahndet zu lassen« (J. Ph. Reemtsma,
Frankfurter Rundschau vom 15. Januar 1996)."
Allerdings muss man darauf sehen, dass er "tu quoque" als allgemeines Rechtsprinzip im Sinne eines Gleichbehandlungsgebotes begreift und nicht als völkerrechtlichen Strafausschließungsgrund.
Oder verstehe ich ihn da falsch?

Ein Wort noch zur causa Dönitz:
Hier muss nicht zwingend mit tu quoque verteidigt worden sein. Vielmehr gab es damals für diesen Bereich bestenfalls unzureichende Vorschriften und die Dönitz vorgeworfene konkrete Schuld resultierte Handlungen, die teilweise in missverständlichen Anweisungen bestanden. Man könnte also hier statt von Strafausschließung durch tu quoque auch von einer negativen Feststellung hinsichtlich des Tatbestandes und seiner Merkmale reden. Das vermeintlich strafbare Verhalten wäre demnach völkerrechtskonform gewesen, weil dieses Verhalten völkergewohnheitsrechtlich anerkannt war. In diesem Fall läge also wegen des amerikanischen Verhalten erst gar kein offence vor, gegen das man mit tu quoque hätte verteidigen müssen und können.
Berücksichtigt man die ansonsten vom IMT vertretene Rechtsauffassung, dass tu quoque nicht greifen könne, da das Verhalten der Alliierten nicht Verfahrensgegenstand sei, dürften die besseren Gründe für die zweite Annahme sprechen.
 
Gerd Hankel formuliert die besagte Sorge am Textanfang; hab ich die entscheidende Passage überlesen oder geht er in der Tat im Folgenden nicht mehr darauf ein, weshalb er Sorge trägt, dieses Prinzip könnte wieder anerkanntes defence werden?
Auf "tu quoque" geht er nur am Anfang ein, seinen "Pessimismus" macht er später an anderen Aspekten fest. (Bitte aber selbst nachlesen.)

Allerdings muss man darauf sehen, dass er [Böhm] "tu quoque" als allgemeines Rechtsprinzip im Sinne eines Gleichbehandlungsgebotes begreift und nicht als völkerrechtlichen Strafausschließungsgrund. Oder verstehe ich ihn da falsch?
Das "allgemeine Rechtsprinzip" steht hier offenbar im Vordergrund. Dass es (mindestens) zwei Aspekte gibt, hatte ich bereits erwähnt (#90); mein vorläufiger Eindruck - nach Lektüre weniger Schriften - ist allerdings, dass ein sehr enger Zusammenhang zwischen beiden besteht. Man könnte das diskutieren am Beispiel des deutschen Bombenterrors gegen England 1940/41 und 1944/45: Der erschien gar nicht erst auf der Prozess-Agenda, auch weil von vornherein klar war, dass ihm "tu quoque" mit Erfolg entgegen gehalten werden könnte. (Will aber kein neues Fass aufmachen.) Logischerweise geht die Frage, was man überhaupt anklagt, der Frage, womit man sich rechtfertigt, voraus. (Siehe zum Sprachgebrauch z. B. Justiz in Bayern - Oberlandesgericht Nürnberg - (Neu)Der Nürnberger Prozess, ausführliche Fassung unter 5.).

J. Ph. Reemtsma, Frankfurter Rundschau vom 15. Januar 1996 [nebst Zitat]
Völlig einverstanden. "Weil das Ziel der internationalen Strafverfolgung dasselbe sein sollte wie das nationaler: das Maß an Grausamkeit auf der Erde zu senken, muß eine Strafpraxis sich an diesem Ziel orientieren. Die legalisierte Tötung von Menschen ist immer ein Beitrag zur Verrohung" (Reemtsma: Über den Sinn eines internationalen Strafgerichtshofs, in: Wette/Ueberschär, Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, S. 519 ff. [531]). Insoweit war Nürnberg in der Tat ein Präzedenzfall, was schon Telford Taylor wusste: "Wir (haben) uns selbst durch das Richten und Bestrafen von Menschen nach den Nürnberger Grundsätzen eine große Verpflichtung auferlegt" (Die Nürnberger Prozesse, Zürich: Europa, 1951, S. 137).

Ein Wort noch zur causa Dönitz: Hier muss nicht zwingend mit tu quoque verteidigt worden sein
Tatsache ist, dass die causa in 90 % der von mir gelesenen Literatur (die Stichprobe ist aber nur klein:red:) mit "tu quoque" in Verbindung gebracht wird.
 
Man könnte das diskutieren am Beispiel des deutschen Bombenterrors gegen England 1940/41 und 1944/45: Der erschien gar nicht erst auf der Prozess-Agenda, auch weil von vornherein klar war, dass ihm "tu quoque" mit Erfolg entgegen gehalten werden könnte.

Das Argument passt irgendwie nicht mit der Tatsache zusammen, dass insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten vergleichbare alliierte Vorfälle nicht erfolgreich mit "tu quoque" als Rechtsgrund einer Strafausschließung herangezogen werden konnten. Die Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen wurde ohne eine Prüfung etwaiger alliierter Verstöße angeordnet und vollzogen.

Tatsache ist, dass die causa in 90 % der von mir gelesenen Literatur (die Stichprobe ist aber nur klein) mit "tu quoque" in Verbindung gebracht wird.

Streite ich ja gar nicht ab. Aber ob es richtig ist, hier von "tu quoque" zu reden, kann fraglich sein. Wenn man der von mir vorgestellten alternativen Argumentationslinie folgt, bleibt "tu quoque" außen vor. Und soweit ich das beurteilen kann, sprechen gute Gründe für diese Variante. Gegebenenfalls liegt hier auch eine Wertungsfrage vor, ob man der Auffassung ist, hier sei Gewohnheitsrecht anerkannt worden oder nicht. Wenn man diese Frage verneint, kommt man natürlich zu "tu quoque", muss dann aber auch die Frage beantworten, warum dieses Prinzip hier auf einmal greifen solle, gleichwohl an anderer Stelle dieser dann ebenso berechtigte Einwand schlicht missachtet wurde. Findet man darauf keine Antwort, sollte man vielleicht noch einmal überlegen, ob die Lösung der Vorfrage (Gewohnheitsrecht ja/nein) nicht doch anders zu beantworten ist.
 
Das Argument passt irgendwie nicht mit der Tatsache zusammen, dass insbesondere im Zusammenhang mit dem Krieg im Osten vergleichbare alliierte Vorfälle nicht erfolgreich mit "tu quoque" als Rechtsgrund einer Strafausschließung herangezogen werden konnten. Die Bestrafung bestimmter Verhaltensweisen wurde ohne eine Prüfung etwaiger alliierter Verstöße angeordnet und vollzogen.
Der Osten ist ein weites Feld. :hmpf: Bei meinem Beispiel bezog ich mich - für viele - auf James S. Corum: Spätere deutsche Luftangriffe richteten sich "nur noch auf die Demoralisierung der Zivilbevölkerung. Die Allierten folgtem demselben Weg. Unter diesen Gegebenheiten verzichteten die Alliierten darauf, die Bombardierung von Zivilisten zu einem Verhandungspunkt des Nürnberger Tribunals zu machen" (Die Luftwaffe, ihre Führung und Doktrin und die Frage der Kriegsverbrechen, in Wette/Überschär [Hg.], a.a.O., S. 288 ff. [299]). Was soll daran "unpassend" sein?

Streite ich ja gar nicht ab... kann fraglich sein... soweit ich das beurteilen kann... Wertungsfrage... gleichwohl an anderer Stelle...
Ich bin weit davon entfernt, eine Meinung, die von der herrschenden abweicht, als "falsch" qualifizieren zu wollen; auch deshalb akzeptiere ich die Qualifizierung als "Wertungsfrage" sofort. Sicherlich gibt es Spezialliteratur zur causa Dönitz, die auch dem komplizierten Aspekt des Völkergewohnheitsrechts Rechnung stärker trägt.
Was den Nürnberger Umgang mit Rechtfertigungsgründen (oder auch Strafmilderungsgründen, vgl. http://www.freidok.uni-freiburg.de/..._in_Strafverfahren_wegen_Kiregsverbrechen.pdf) "an anderer Stelle" betrifft, freue ich mich auf weitere lehrreiche Beispiele.:scheinheilig:
 
Was soll daran "unpassend" sein?

Unpassend ist die Überlegung, dieses Thema wegen des "tu quoque" nicht zu verhandeln, wenn eben dieser Einwand an anderer Stelle rigoros beiseite geschoben wurde. Ich vermute daher, dass man dieses Verhalten als nicht strafwürdig wertete und sich damit ein mögliches "tu quoque" mangels Tatbestand a priori erledigte.

mit Rechtfertigungsgründen (oder auch Strafmilderungsgründen

Ja, die Begriffsvielfalt ist für den deutschen, oder besser den Juristen des Civil Law, recht verwirrend. Man muss hier bedenken, dass die Unterteilung in offences und defences, im Gegensatz zu unserer Trias aus Tatbestand-Rechtswidrigkeit-Schuld, aus dem angelsächsischen Rechtsraum kommt. Man wird bei der Auslegung und Anwendung dieser Begriffe auf ihre Reichweite in den Rechtstraditionen des Common Law zu achten haben. Vorliegend sollten wir uns aber am besten auf Strafausschließungsgründe als terminus technicus einigen. Sonst wird das für jeden Nichtjuristen schnell völlig unverständlich.
 
Unpassend ist die Überlegung, dieses Thema wegen des "tu quoque" nicht zu verhandeln, wenn eben dieser Einwand an anderer Stelle rigoros beiseite geschoben wurde. Ich vermute daher, dass man dieses Verhalten als nicht strafwürdig wertete und sich damit ein mögliches "tu quoque" mangels Tatbestand a priori erledigte.
"Unpassend" ist ein untechnischer Begriff - ist unzulässig gemeint? Und auf wen ist er bezogen: auf mich (so las ich #107) oder auf die seinerzeit Handelnden? -
Ob die Vermutung richtig ist, kann nur durch eine Analyse der internen Willensbildungsprozesse bei den Alliierten geklärt werden. Was steht uns denn insoweit zur Verfügung?

Ja, die Begriffsvielfalt ist für den deutschen, oder besser den Juristen des Civil Law, recht verwirrend. ... Vorliegend sollten wir uns aber am besten auf Strafausschließungsgründe als terminus technicus einigen.
D'accors! Die erwähnte Monographie von Ambos versucht bereits, der Verwirrung entgegenzuwirken. Ich weiß noch von einer spezielleren rechtsvergleichenden Untersuchung von Nill-Theobald ("Defences" bei Kriegsverbrechen am Beispiel Deutschlands und der USA, Freiburg: iuscrim, 1998), worin § 24 von "Tu quoque" handelt - aber das ist natürlich auch "nur" eine Stimme von vielen.
 
Ein Wort noch zur causa Dönitz:
Hier muss nicht zwingend mit tu quoque verteidigt worden sein. Vielmehr gab es damals für diesen Bereich bestenfalls unzureichende Vorschriften und die Dönitz vorgeworfene konkrete Schuld resultierte Handlungen, die teilweise in missverständlichen Anweisungen bestanden. Man könnte also hier statt von Strafausschließung durch tu quoque auch von einer negativen Feststellung hinsichtlich des Tatbestandes und seiner Merkmale reden.

Streite ich ja gar nicht ab. Aber ob es richtig ist, hier von "tu quoque" zu reden, kann fraglich sein. Wenn man der von mir vorgestellten alternativen Argumentationslinie folgt, bleibt "tu quoque" außen vor. Und soweit ich das beurteilen kann, sprechen gute Gründe für diese Variante. Gegebenenfalls liegt hier auch eine Wertungsfrage vor, ob man der Auffassung ist, hier sei Gewohnheitsrecht anerkannt worden oder nicht.

So sehe ich das auch.
Die Aussage von Nimitz als Befehlsgeber im Seekrieg wurde benutzt für die Klärung der Frage, was seekriegsrechtlich zulässig gewesen ist.
 
Unpassend meint hier "überzeugt mich nicht", ist "nicht schlüssig". ;)
Ausgangspunkt war, das zwei Elemente m.E. nicht zueinander zu passen scheinen.
Hier die rigorose Ablehnung des tu-quoque, wann immer er vor dem IMT erhoben wurde.
Dort läßt man die Anklage fallen, weil ihr mit tu-quoque entgegen getreten werden könnte.
Wieso sollte man einen Anklagepunkt fallen lassen, weil er mit einem defence angegriffen werden könnte, den man in den Verfahren, wann immer er eingesetzt wurde, regelmäßig beiseite schob?
Das ist mein Problem mit dem Ansatz, in der causa Dönitz oder an dieser anderen Stelle könne man tu-quoque herauslesen.
Würde denn andernfalls die Grenze zwischen Völkerkriegsrecht und dem jeweiligen Gewohnheitsrecht nicht verwischt werden? Immerhin macht es, wenn ich das richtig verstehe, doch einen Unterschied, ob man völkerkriegsgewohnheitsrechtlich anerkannte Handlungen begeht oder ob man gegen Völkerkriegs(gewohnheits)recht verstößt, aber der Verstoß nicht bestraft wird, weil auch die anderen gegen dieses Recht verstießen.
Wobei man damit dahin gelangt, dass Unrecht Unrecht rechtfertigt, was ja auch nicht wirklich befriedigend ist.
 
..das zwei Elemente m.E. nicht zueinander zu passen scheinen. Hier die rigorose Ablehnung des tu-quoque, wann immer er vor dem IMT erhoben wurde. Dort läßt man die Anklage fallen, weil ihr mit tu-quoque entgegen getreten werden könnte. Wieso...
Als ich mich ins Thema einmischte, hatte ich keinesfalls geplant, die Ankläger und Richter von 1946/48 zu verteidigen...;)
Ich meine indessen, dass wir im Abstand von 60 Jahren "leicht reden" haben, insbesondere was bestimmte Inkonsistenzen betrifft. In dieser Form und Größenordnung wurde damals viel juristisches Neuland betreten, man war in gewisser Weise "rechtsschöpferisch" tätig (auch ein ständiger Kritikpunkt!), und dann waren da noch die internen Konflikte zwischen den Siegermächten, die vielleicht eine eigene Betrachtung verdienten.

Würde denn andernfalls die Grenze zwischen Völkerkriegsrecht und dem jeweiligen Gewohnheitsrecht nicht verwischt werden?
Ja natürlich, und ich weiß nicht, wie man seinerzeit dieses Problems lückenlos und widerspruchsfrei hätte Herr werden können. Heute sind wir (vielleicht) etwas weiter - siehe IStGH-Statut...

völkerrechtliche Gesetze gibt es nicht!
... und nationale Gesetze wie das deutsche Völkerstrafgesetzbuch (http://www.bundesrecht.juris.de/bundesrecht/vstgb/gesamt.pdf) mit dem extrem kühnen § 1, wonach Straftaten von der deutschen Justiz zu verfolgen sind, egal von wem und wo sie begangen wurden. (Noch ein separates und heikles Thema!)
 
elysian schrieb:
Wieso sollte man einen Anklagepunkt fallen lassen, weil er mit einem defence angegriffen werden könnte, den man in den Verfahren, wann immer er eingesetzt wurde, regelmäßig beiseite schob?
Das ist mein Problem mit dem Ansatz, in der causa Dönitz oder an dieser anderen Stelle könne man tu-quoque herauslesen.
Würde denn andernfalls die Grenze zwischen Völkerkriegsrecht und dem jeweiligen Gewohnheitsrecht nicht verwischt werden? Immerhin macht es, wenn ich das richtig verstehe, doch einen Unterschied, ob man völkerkriegsgewohnheitsrechtlich anerkannte Handlungen begeht oder ob man gegen Völkerkriegs(gewohnheits)recht verstößt, aber der Verstoß nicht bestraft wird, weil auch die anderen gegen dieses Recht verstießen.
Wobei man damit dahin gelangt, dass Unrecht Unrecht rechtfertigt, was ja auch nicht wirklich befriedigend ist.
Das Problem bei to-quoque ist in der Tat, dass von diesem Argument, wenn es akzeptiert wird, eine das Recht auflösende Wirkung ausgeht. Wenn sich ein jeder zur Rechtfertigung seiner eigenen Rechtsverstöße auf die (gleichartigen) Verstöße der anderen berufen kann, dann gibt es bald kein Recht mehr.

In Abgrenzung zur Normbildung durch faktisches Verhalten entsteht Völkergewohnheitsrecht jedoch erst, wenn die Völkergewohnheit in der Überzeugung ihrer rechtlichen Gebotenheit praktiziert wird. Die auf das Handeln bezogene Rechtsüberzeugung ist eine unentbehrliche Tatbestandsvoraussetzung für das Entstehen, den Untergang oder die Änderung völkergewohnheitsrechtlicher Regeln.

Übertragen auf den Fall Dönitz lohnt es sich den Blick darauf zu lenken, wie das IMT die Handlungen von Dönitz bewertete und warum es z.T. auf deren Ahndung verzichtete.
So sehe ich das auch.
Die Aussage von Nimitz als Befehlsgeber im Seekrieg wurde benutzt für die Klärung der Frage, was seekriegsrechtlich zulässig gewesen ist.
Das ist zu generell formuliert.

Das IMT arbeitete sehr geschickt heraus, dass Dönitz gegenüber der neutralen Schiffahrt einen rechtswidrigen uneingeschränkten U-Boot-Krieg führte:
"The order of Doenitz to sink neutral ships without warning when found within these zones was, therefore, in the opinion of the Tribunal, violation of the Protocol."

Auch stellte es klar, dass die Befehle von Dönitz, die völkerrechtlichen Regeln über die Rettung von Schiffbrüchigen und Passagieren nicht anzuwenden, rechtswidrig waren: "The evidence further shows that the rescue provisions were not carried out and that the defendant ordered that they should not be carried out. The argument of the defence is that the security of the submarine is, as the first rule of the sea, paramount to rescue and that the development of aircraft made rescue impossible. This may be so, but the Protocol is explicit. If the commander cannot rescue, then under its terms he cannot sink a merchant vessel and should allow it to pass harmless before his periscope. The orders, then, prove Doenitz is guilty of a violation of the Protocol."

Nachdem es diese Rechtsverstöße herausgearbeitet hatte, verzichtete das Gericht auf eine Ahndung dieser Rechtsverstöße:
"In view of all the facts proved and in particular of an order of the British Admiralty announced on the 8th May, 1940, according to which all vessels should be sunk at sight in the Skagerrak, and the answers to interrogatories by Admiral Nimitz stating that unrestricted submarine warfare was carried on in the Pacific Ocean by the United States from the first day that nation entered the war, the sentence of Doenitz is not assessed on the ground of his breaches of the international law of submarine warfare."

Fazit: das Gericht hielt diese Befehle von Dönitz für rechtswidrig (also nicht für seekriegsrechtlich zulässig) und verzichtete dann dennoch auf eine strafrechtliche Ahndung dieser Verstöße.

Quelle: The Avalon Project : Judgment : Doenitz

Nach nochmaliger Lektüre des ganzen Threads fasse ich meine Meinung wie folgt zusammen: ...

Die weiterführende Diskussion beginnt mit der Hyothese (aaO), "tu quoque" sei in Nürnberg "überwunden" worden
Nun ja, auch in Nürnberg fand "to-quoque" noch seinen Wiederhall - sei es in Form von Strafverzicht oder, was in den Folgeprozessen häufiger geschah in Form von Strafmilderungen.
 
Anderes Thema

Der Krieg gegen die Sowjetunion und die Genfer Konvention betr. Kriegsgefangene

Waltzog, Kriegsgerichtsrat der Luftwaffe, erläutert zu Art. 82 Abs. 2 des Abkommens vom 27. Juli 1929 folgendes:

Art 82 Abs. 2: Falls in Kriegszeiten einer der Kriegführenden nicht Vertragspartei ist, bleiben die Bestimmungen dieses Abkommens gleichwohl für die kriegführenden Vertragsparteien verbindlich.

Kommentar:
Art. 82 Abs. 2 ist insofern von Bedeutung, als er einen Bruch mit der bisher in völkerrechtlichen Verträgen üblichen Allbeteiligungsklausel darstellt. Das Kriegsgefangenenabkommen bleibt zwischen den Vertragsparteien auch dann in Kraft, wenn am Kriege beteiligte es nicht ratifiziert haben. Die Bestimmung des Abkommens bedeutet eine Weiterentwicklung der völkerrechtlichen Anschauungen und kann auch als völkerrechtlicher Grundsatz da herangezogen werden, wo die Allbeteiligungsklausel scheinbar noch Verbindlichkeit besitzt. Man kann sie dann als durch Art. 82 Abs. 2 überholt ansehen, …


Soweit, so gut. Eine ähnliche Position formulierte zB der BGH in den 50ern bei Urteilen über Kriegsverbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen. Dieser Kommentar von Waltzog wurde nun im August 1941 abgeschlossen, als soeben der Krieg gegen die Sowjetunion eröffnet worden war. Deshalb wurde - wohl redaktionell, aber ohne Abstimmung zur Kommentierung des Artikels 82 - als Vorbemerkung zu Artikel 1 eingefügt:

„Dieses Abkommen ist in Deutschland unter der marxistischen Regierung [sic!] vollzogen worden. Das Dritte Reich hat es 1934 durch Ratifikation ausdrücklich anerkannt (RGBl. II 1934, S. 207). Im gegenwärtigen Krieg ist es für fast alle Gegner, mit Ausnahme der UdSSR, Grundlage für die Behandlung der Kriegsgefangenen.

(die weitere Begründung ist dann der Kommentierung zu Art. 2 HLKO zu entnehmen, da die UdSSR das Kriegsgefangenenabkommen nicht unterzeichnet habe und sich auch nicht daran halten wolle)

Eine juristische Dokumentation des begonnenen Vernichtungskrieges, der zu diesem Zeitpunkt nur wenige Wochen lief.
 
Waltzog, Kriegsgerichtsrat der Luftwaffe, erläutert zu Art. 82 Abs. 2 des [Genfer] Abkommens vom 27. Juli 1929 folgendes: ...
als Vorbemerkung zu Artikel 1 eingefügt:
„Dieses Abkommen ist in Deutschland unter der marxistischen Regierung [sic!] vollzogen worden. Das Dritte Reich hat es 1934 durch Ratifikation ausdrücklich anerkannt (RGBl. II 1934, S. 207). Im gegenwärtigen Krieg ist es für fast alle Gegner, mit Ausnahme der UdSSR, Grundlage für die Behandlung der Kriegsgefangenen.“ ...
Eine juristische Dokumentation des begonnenen Vernichtungskrieges, der zu diesem Zeitpunkt nur wenige Wochen lief.
Ganz offensichtlich waren zu diesem Zeitpunkt bereits alle rechtlichen und moralischen Dämme der Nazis gebrochen!

Aus dem DRZW-Beitrag von Rüdiger Overmanns (Bd. 9/2, S. 729-875, davon zur speziell zur Sowjetunion S. 799-825) geht hervor, dass die Sowjetunion ihrerseits am 17.7.1941 erklärte, "sie wolle auf der Basis von Gegenseitigkeit die HLKO einhalten, der sie bis dahin nicht beigetreten war. Die Beachtung der Genfer Verwundetenkonventionen von 1929, welche die Sowjetunion ratifiziert hatte, sicherte sie gegenüber den Staaten zu, die diesem Abkommen ebenfalls beigetreten waren; hierzu gehört auch das Deutsche Reich" (S. 800).

Gegen den Rat des Auswärtigen Amtes und der Wehrmachtsführung stellte Hitler in der deutschen Antwortnote vom 21.08.1941 fest: "Angesichts zahlloser, von den Soldaten der Roten Armee begangener Kriegsvölkerrechtsbrüche lehne Deutschland die Anwendung der HLKO ab" (ebd.).

In den Bestimmungen des OKW vom 25.07.1941 hieß es noch: "Der arbeitswillige und gehorsame Kriegsgefangene ist anständig zu behandeln" (S. 806). Die Praxis sei freilich ganz anders aus: Vernichtung durch Hunger, Kälte, Krankheit, Arbeit - umstritten ist allenfalls, ob dem "eine willentliche Tötungsstrategie" zugrunde lag (S. 822).
 
Gegen den Rat des Auswärtigen Amtes und der Wehrmachtsführung stellte Hitler in der deutschen Antwortnote vom 21.08.1941 fest: "Angesichts zahlloser, von den Soldaten der Roten Armee begangener Kriegsvölkerrechtsbrüche lehne Deutschland die Anwendung der HLKO ab" (ebd.).

Richtig jschmidt,
in den ADAP zum August 1941 sind die Vorgänge dokumentiert, dazu dieser post:
http://www.geschichtsforum.de/312550-post81.html
 
Wie sich die Diskussionen gleichen:

1921 schreibt Vize-Admiral Michelsen in Negierung der HLKO 1907 und der Haager Seekriegsrechtsbestimmungen folgendes:

"Der Krieg ist ein Akt der Gewalt, in dessen Anwendung es keine Grenzen gibt...Diesen Grundsätzen entspricht es, wenn früher [Anm: gemeint ist der Weltkrieg!] bei uns Kriegsverbrechen Angehöriger der Deutschen Wehrmacht nur dann verfolgt wurden, wenn sie gegen unsere Kriegsinteressen, insbesondere wenn sie gegen Ordnung und Manneszucht der Deutschen Wehrmacht verstießen."


Auch die Klagen sind dieselben wie nach 1945:

"... Und nun das Völkerrecht, dessen GRundsätze auch rückwirkend (!) gegen unsere Frontkämpfer anwendbar sein sollen. Es ist auch noch heute kein feststehendes Gesetz, wie das Reichsgericht selbst anerkennt, vielmehr ist seine Anwendung stets zweifelhaft und schwankend. Große und schnelle Entschlüsse, die sich aus Kriegsnotwendigkeiten ergeben, müssen es stets wieder in den Hintergrund drängen."

Sodann folgt die Darstellung des Prozesses um die Vernichtung von Rettungsbooten eines Lazarettschiffes durch U 86, mit der vorgetragenen Behauptung, man habe in der Annahme amerikanischer Fliegeroffiziere an Bord der Rettungsboote gehandelt.

Michelsen, Das Urteil im Leipziger U-Boot-Prozeß, Ein Fehlspruch?


[P.S. dass die Ausführungen von Michelsen zum Reichsgericht interessengeleitet und fehlerhaft sind, erwähne ich der guten Ordnung halber]
 
Zuletzt bearbeitet:
Theorien des Friedens und des Krieges vom Altertum bis 1830
Stephan Nitz: Theorien des Friedens und des Krieges. Kommentierte Bibliographie zur Theoriegeschichte, Band I: Altertum bis 1830

Danke für den Hinweis! Ein Riesentrumm, dessen erster Band sich offensichtlich "nur" auf die "Friedenstheorie" bezieht und auch "nur" bis 1830 reicht. Es gibt neben über die Angaben von Hans von Hentig [1] hinaus sicher noch vieles zu entdecken, und die Leute von der HSFK sind dafür sicher am besten präpariert.

Gespannt bin ich auf die "Theorien des Krieges" - ob es über die existierenden Myriaden von Abhandlungen hinaus da noch etwas Originelles zu erwähnen gibt?


[1] Der Friedensschluss. Geist und Technik einer verlorenen Kunst (amerik. 1951, dt. 1964)
 
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