Die Inquisition als Grundlage unseres Rechtssystems?

Daß die Inquisition de facto die erste übergreifende abendländische Strafprozeßordnung beinhaltete wurde ja bereits hinreichend dargelegt,insbesondere in Raffaels hervorragendem Beitrag, ebenso der Bezug zum römischen Recht.
Hierbei sei jedoch noch eine Anmerkung gestattet
Nicht erst im 13. Jahrhundert in Frankreich erlebte das römische Recht eine Art Comeback. Bereits ab Mitte des 12.Jahrhunderts benutzten die Hautevilles in Sizilien das spätimperiale römische Recht um die königliche Justiz und damit die Zentralgewalt zu stärken.und gleichzeitig eine gegenüber dem Papst unabhängigere Stellung zu behaupten. Friedrich II setzte diese Tradition in seinem sizilianischen Teilreich fort und die Kirche griff diese Sache recht schnell auf,um ihrerseits auch eine gewisse Unabhängigkeit in den Katharerprozessen zu erreichen. Hätte man sich in Oczitanien nämlich vom lokalen Rechts- und Gerichtssystem abhängig gemacht, so hätte dies vermutlich den Erfolg der gesamten Katharerverfahren gefährdet und auch das traditionelle Kirchenrecht war hier wohl nicht geeignet. Man benötigte also ein unabhängiges Verfahren,das geistliches und weltliches Strafrecht verband und griff deshalb auf spätrömische Rechtstradition zurück,die man entsprechend modifizierte.
 
Zusammenhang von Inquisitionsprozess und Folter

Es gibt schon etliche Threads, worin das angesprochen wird [1], aber ich denke, dieser ist der richtige, zumal Rafael hier [2] bereits sehr viel Wichtiges gesagt hat.

A. Wertungen und Kontroversen

Kurze Wiederholung: Rafael vertritt dezidiert die Auffassung, "dass der Inquisitionsprozess [IP.] im Recht wirklich zur einer 'Verbesserung' führte, auch wenn die Folter für die Urteilsfindung ein sehr schlimmes Übel war, das man nicht schön reden kann" (ebd.) bzw. dass man den IP. "als Fortschritt anerkennen" müsse, "auch wenn die Folter an diesen gekoppelt war".
Mein Unbehagen über diese Wertung, die Timotheus noch verstärkt [3], habe ich in zwei Beiträgen formuliert [4]. - Der Fortschritt ist, so vielleicht der gemeinsame Nenner, bisweilen ein ambivalentes Ding.

Scorpio schrieb: "Die Prozessform war der IP., mit der Inquisition hat das nur wenig zu tun." [5]. Dass man zwischen Inquisition und IP. unterscheiden muss, ist klar, wohingegen das "wenig" im zweiten Halbsatz diskussionsfähig ist - siehe Rafaels Hinweis, dass die Inquisition den IP. "oftmals nutzte Geständnisse zu erlangen - für Verbrechen, die es nicht gibt" [6]. Hierüber grübelnd, kam ich auf die Spur einer Kontroverse: Treten Folter und IP. nach 1200 gleichzeitig auf und kommen sie aus der gleichen Denkrichtung?

Eberhard Schmidt schreibt in seinem Standardwerk [7], dass die auf die Folter bezogenen Quellen ähnlich weit zurückreichen wie die zum IP. (S. 91). Er geht sodann der Frage nach, ob die Folter aus dem römischen Recht entlehnt sei und verneint sie: "Die Folter ist ... mit dem IP. zusammen in Deutschland selbst ohne Entlehnung und Nachahmung fremder Vorbilder in Gebrauch gekommen" (S. 93). [8] Besondere Foltermethoden wurden zunächst nicht ersonnen, sondern man behandelte die Delinquenten in der "üblichen" gewalttätigen Weise.

Die Gegenmeinung ist bei Weiler wiedergegeben [9]. Hiernach hat sich die Folterpraxis "von Italien aus nach Deutschland ausgebreitet" (S. 77); es wird angenommen, "dass die Folter in Deutschland zunächst in der Ketzerverfolgung durch die Kirche eingesetzt wurde und darüber schließlich Eingang auch in die weltliche Strafverfolgung fand" (S. 78). "Die in dieser Zeit stattfindende Einführung des IP. in Deutschland hat die Anwendung der Folter begünstigt." (S. 79)

Gibt es noch andere Auffassungen dazu?

B. Folter und Macht

Warum verbreitete sich die Folter ab dem 13. Jh. so rapide? Für Hexen- und Ketzerprozesse des 15.-17. Jh. hat Timotheus notiert, dass die Opfer "eine [vermeintliche] Gefahr für die göttliche Weltordnung und damit das eigene Seelenheil dar(stellten)." [10]

Eine etwas profanere Deutung gibt Schmidt (S. 98, Hervorh.i.Orig.):
"Es ist sehr bezeichnend, dass es gerade die Prozesse gegen Ketzer gewesen sind, die zur Verwendung der Folter seitens der Kirche geführt haben. Der Ketzer bedroht die Machtposition und die Herrschaft der Kirche über die Seelen. Als Machtinstitution fühlt die Kirche sich angegriffen. Nirgends aber ist die Versuchung, nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu handeln, größer als da, wo Macht verteidigt oder durchgesetzt werden soll. [...] Die Sorge um die Macht verdrängt alle Rücksichten, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und aus sonstigen ethischen Gesichtspunkten sich einstellen und zu vorsichtigem und behutsamem Vorgehen gegen den Gegner nötigen könnten."
C. Keine/wenig Folter in England!?

Der von Rafael zitierte Baldauf gibt an, dass "auch in England gefoltert (wurde), allerdings nur selten". [11] Die dort erwähnte "häufig vertretene Auffassung", dass man gänzlich ohne Folter ausgekommen sei, habe ich auch bei Gerlach gefunden [12]: "Die Tortur wurde in England niemals institutionalisiert ... und deshalb auch nie offiziell abgeschafft." Mit einer wichtigen Ausnahme allerdings.

Ob selten oder gar nicht - erstaunlich ist diese reale Differenz zum Kontinent schon, und ich finde auf Anhieb keine plausible Begründung dafür.


[1] Auch in: http://www.geschichtsforum.de/f288/die-abschaffung-der-folter-preu-en-und-die-folgen-19347/
[2] http://www.geschichtsforum.de/396290-post13.html
[3] http://www.geschichtsforum.de/396015-post10.html
[4] http://www.geschichtsforum.de/396043-post11.html ; http://www.geschichtsforum.de/398091-post39.html
[5] http://www.geschichtsforum.de/408281-post2.html
[6] http://www.geschichtsforum.de/407321-post13.html
[7] Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl. Göttingen 1965
[8] So auch noch Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte. 4. Aufl. München 2004, S. 278
[9] Auszüge: Grundlagen und Grenzen des ... - Google Bücher
[10} http://www.geschichtsforum.de/398091-post37.html mit Verweis (dort #30) auf http://www.geschichtsforum.de/f13/hexenprozesse-inquisition-und-die-verantwortung-der-kirche-11163/
[11] Die Folter: eine deutsche ... - Google Bücher
[12] Festschrift für Ernst-Walter Hanack ... - Google Bücher
 
Sehr schöne Beiträge, die hier in letzter Zeit geschrieben wurden.
Deinen differenzierten Beitrag mit einer sehr richtigen und wichtigen Fragestellung, auf die ich nicht gekommen bin, jschmidt würde ich gerne mit einer guten, grünen Bewertung würdigen, doch ist mir dies noch nicht gestattet. Deshalb sei hier mal mein Lob ausgesprochen.
Auf deine aufgeworfenen Fragen kann ich, trotz damaliger eingehender Beschäftigung mit dem Thema, leider noch nicht antworten.
Die Beiträge jedoch zeigen, dass das letzte Wort noch nicht gesprochen und eine weitere Beschäftigung mit dem Inquisitionsprozess und der Folter lohnenswert ist.
Ich hoffe, dass ich auch bald wieder inhaltlich hierzu schreiben kann, und lasse erstmal euch den Vortritt.

Mich würde nun vor allem auch interessieren, wie funktionierte dann die Rechtsprechung in England, wo man anscheinend ohne die Folter Inquisitionsprozesse führte? Gab es weniger Verurteilungen oder gab es Modifikationen, die Urteile auch auf anderen Wegen als Geständnis und Augenzeugen erlaubten?
 
Zuletzt bearbeitet:
Es gibt schon etliche Threads, worin das angesprochen wird [1], aber ich denke, dieser ist der richtige, zumal Rafael hier [2] bereits sehr viel Wichtiges gesagt hat.

A. Wertungen und Kontroversen

Kurze Wiederholung: Rafael vertritt dezidiert die Auffassung, "dass der Inquisitionsprozess [IP.] im Recht wirklich zur einer 'Verbesserung' führte, auch wenn die Folter für die Urteilsfindung ein sehr schlimmes Übel war, das man nicht schön reden kann" (ebd.) bzw. dass man den IP. "als Fortschritt anerkennen" müsse, "auch wenn die Folter an diesen gekoppelt war".
Mein Unbehagen über diese Wertung, die Timotheus noch verstärkt [3], habe ich in zwei Beiträgen formuliert [4]. - Der Fortschritt ist, so vielleicht der gemeinsame Nenner, bisweilen ein ambivalentes Ding.

Scorpio schrieb: "Die Prozessform war der IP., mit der Inquisition hat das nur wenig zu tun." [5]. Dass man zwischen Inquisition und IP. unterscheiden muss, ist klar, wohingegen das "wenig" im zweiten Halbsatz diskussionsfähig ist - siehe Rafaels Hinweis, dass die Inquisition den IP. "oftmals nutzte Geständnisse zu erlangen - für Verbrechen, die es nicht gibt" [6]. Hierüber grübelnd, kam ich auf die Spur einer Kontroverse: Treten Folter und IP. nach 1200 gleichzeitig auf und kommen sie aus der gleichen Denkrichtung?

Eberhard Schmidt schreibt in seinem Standardwerk [7], dass die auf die Folter bezogenen Quellen ähnlich weit zurückreichen wie die zum IP. (S. 91). Er geht sodann der Frage nach, ob die Folter aus dem römischen Recht entlehnt sei und verneint sie: "Die Folter ist ... mit dem IP. zusammen in Deutschland selbst ohne Entlehnung und Nachahmung fremder Vorbilder in Gebrauch gekommen" (S. 93). [8] Besondere Foltermethoden wurden zunächst nicht ersonnen, sondern man behandelte die Delinquenten in der "üblichen" gewalttätigen Weise.

Die Gegenmeinung ist bei Weiler wiedergegeben [9]. Hiernach hat sich die Folterpraxis "von Italien aus nach Deutschland ausgebreitet" (S. 77); es wird angenommen, "dass die Folter in Deutschland zunächst in der Ketzerverfolgung durch die Kirche eingesetzt wurde und darüber schließlich Eingang auch in die weltliche Strafverfolgung fand" (S. 78). "Die in dieser Zeit stattfindende Einführung des IP. in Deutschland hat die Anwendung der Folter begünstigt." (S. 79)

Gibt es noch andere Auffassungen dazu?

B. Folter und Macht

Warum verbreitete sich die Folter ab dem 13. Jh. so rapide? Für Hexen- und Ketzerprozesse des 15.-17. Jh. hat Timotheus notiert, dass die Opfer "eine [vermeintliche] Gefahr für die göttliche Weltordnung und damit das eigene Seelenheil dar(stellten)." [10]

Eine etwas profanere Deutung gibt Schmidt (S. 98, Hervorh.i.Orig.):
"Es ist sehr bezeichnend, dass es gerade die Prozesse gegen Ketzer gewesen sind, die zur Verwendung der Folter seitens der Kirche geführt haben. Der Ketzer bedroht die Machtposition und die Herrschaft der Kirche über die Seelen. Als Machtinstitution fühlt die Kirche sich angegriffen. Nirgends aber ist die Versuchung, nach reinen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu handeln, größer als da, wo Macht verteidigt oder durchgesetzt werden soll. [...] Die Sorge um die Macht verdrängt alle Rücksichten, die aus Erwägungen der Gerechtigkeit und aus sonstigen ethischen Gesichtspunkten sich einstellen und zu vorsichtigem und behutsamem Vorgehen gegen den Gegner nötigen könnten."
C. Keine/wenig Folter in England!?

Der von Rafael zitierte Baldauf gibt an, dass "auch in England gefoltert (wurde), allerdings nur selten". [11] Die dort erwähnte "häufig vertretene Auffassung", dass man gänzlich ohne Folter ausgekommen sei, habe ich auch bei Gerlach gefunden [12]: "Die Tortur wurde in England niemals institutionalisiert ... und deshalb auch nie offiziell abgeschafft." Mit einer wichtigen Ausnahme allerdings.

Ob selten oder gar nicht - erstaunlich ist diese reale Differenz zum Kontinent schon, und ich finde auf Anhieb keine plausible Begründung dafür.


[1] Auch in: http://www.geschichtsforum.de/f288/die-abschaffung-der-folter-preu-en-und-die-folgen-19347/
[2] http://www.geschichtsforum.de/396290-post13.html
[3] http://www.geschichtsforum.de/396015-post10.html
[4] http://www.geschichtsforum.de/396043-post11.html ; http://www.geschichtsforum.de/398091-post39.html
[5] http://www.geschichtsforum.de/408281-post2.html
[6] http://www.geschichtsforum.de/407321-post13.html
[7] Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege. 3. Aufl. Göttingen 1965
[8] So auch noch Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte. 4. Aufl. München 2004, S. 278
[9] Auszüge: Grundlagen und Grenzen des ... - Google Bücher
[10} http://www.geschichtsforum.de/398091-post37.html mit Verweis (dort #30) auf http://www.geschichtsforum.de/f13/hexenprozesse-inquisition-und-die-verantwortung-der-kirche-11163/
[11] Die Folter: eine deutsche ... - Google Bücher
[12] Festschrift für Ernst-Walter Hanack ... - Google Bücher

Das sind sehr gute Fragen, ich kann dazu nichts Weltbewegendes beitragen, aber mal ein paar Gedanken:

A.
Das Gute am Inquisitionsverfahren ist eigentlich die Übernahme der rechtlichen Initiative durch den "Staat" (auch wenn man damals noch nicht von Staat sprechen konnte). So schön nämlich manches mal der Einfluß der Parteien auf die Rechtsverfolgung mit der Möglichkeit von gütlicher Einigung und Täter-Opfer-Ausgleich klingt, so häufig kann das in der Realität dazu führen, daß nur Mächtige sich ihr Recht verschaffen können. Weiterhin wäre auf lange Sicht positiv hervorzuheben der Einzug rationaler Beweisführung anstelle von Leumundsbeweisen, die wiederum bestimmte Kreise bevorzugten.

B.
Daß rationale Beweisführung einem auch auf die Füße fallen kann, wenn die Vernunft in bestimmter Weise vorbelastet ist, zeigt die Folter, die ja als Instrument im IP eingesetzt wurde. Wenn man den Tatbeweis führen muß, aber dazu die Mittel fehlen (nicht genug Zeugen, keine Spuren) bleibt eben das verlockende Mittel der Folter, um das ultimative Beweismittel zu erzielen, das Geständnis. Daher verbreitet sich meiner Meinung nach die Folter auch mit dem 13. Jhr. zunehmend. Reicht es für den Freispruch, wenn ein paar Leumundszeugen auftreten, brauche ich keine Folter.

Die Verbindung von (kirchlicher) Inquisition, Hexenprozeß und Folter, wie bei den zitierten Stellen aufscheinend, finde ich problematisch. Zwar haben einige Inquisitoren den typischen späteren Hexenprozeß mit Ketzervorwurf und Teufelsbuhlschaft am Beginn des 15. Jhr. angestoßen, aber die Prozesse wurden ja meist von der weltlichen Obrigkeit durchgeführt, eher selten von der Inquisition. Die Folter war zu der Zeit schon etabliert und wurde eben benutzt.

C.
Die Unterschiede in den Verfahrensweisen in den einzelnen Ländern sind interessant, aber teilweise schwierig zu erklären. Ich vermute, die englische Praxis hat etwas mit der angelsächsischen Rechtstradition germanischen Rechts zu tun, die dem römisch-normannischen Einfluß länger standhielt, sowie evtl. früher Formen von Gedanken zu "Bürgerrechten". Ich müßte dazu noch mal näher nachlesen.

Solche regionalen Besonderheiten gab es ja mehrere. In Italien unter der Hoheit der römischen Inquisition verzeichnet man beispielsweise auch wenig Hexenprozesse und Zurückhaltung bei der Prozeßführung.
 
Nun ja,de Magna Carta datiert 1215 und vermutlich fanden die dahin enthaltenen Rechtsgedanken auch Eingang ins dortige Strafrecht.
Parallel dazu läßt es sich aber auch mit den politischen Verhältnissen erklären.
Die englisch-irische Kirche pflegte schon immer eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber Rom , hinzu kam wohl auch in Folge der der französisch-päpstlichen Annäherung eine gewisse Distanz zu Rom , der zum englischen Sonderweg im Rahmen der Inqisitionsverfahren führte.
 
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