Souverän der USA

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Hallo,

in der "Enzyklopädie der Neuzeit", Band 4, steht in einem Kapitel zur Gewaltenteilung ein Abschnitt über die amerikanische Verfassung. Der Abschnitt schließt mit folgenden Worten:

"Das Volk der USA ist aber nicht der Souverän im europ. Sinne; denn seine ursprgl. Autorität hat es mit dem Akt der Verfassungsgebung ausgeübt. Seine politischen Rechte sind nicht Einfluss seiner Souveränität, sondern aus der Verfassung abgeleitete Rechte. Damit ist in den USA eigentlich die Verfassung und nicht das Volk der souverän."

Ich verstehe nicht ganz, wo hier der Unterschied zur europäischen Sichtweise liegt. Was macht in Deutschland das Volk zum Souverän und nicht die Verfassung?
 
Sehr gute Frage eigentlich.

Was vielleicht weiterhelfen könnte ist der verschiedene Status des 'geschriebenen Rechts' in den USA und Deutschland. Deutschland hat ein Recht, das ausschließlich auf Gesetzestexten basiert, deren Wirksamkeit dadurch gegeben ist, dass sie im Namen des Volks von der Legislative (dem Parlament) beschlossen werden... alle bis auf die Grundgesetze, und die sind natürlich auch im Namen des Volks (wenn auch im speziellen deutschen Fall nicht direkt vom Volk beschlossen, wenn ich mich recht entsinne).

In den USA hingegen hat man ein Common Law, das viel durch Rechtstradition wirksam ist, also Präzedenzfälle u.ä. Zwar sind auch hier die vom Parlament beschlossenen Gesetze (Statutes) wichtiger als der Präzedenzfall, aber das Recht ist von Staat zu Staat sehr unterschiedlich. So extreme Dinge wie Todesstrafe usw. sind dort kein Bundesrecht, sondern Recht in den Einzelstaaten. Staatenübergreifend sind die Constitution, die Federal Statutes und das Seerecht (sehr lustig übrigens, das Admirality Law gilt sogar in einem Tümpel mitten in der Wüste, theoretisch).

Jedenfalls sind die gewachsenen Rechtstraditionen und flexiblen Auslegungsspielräume in den USA sehr wichtig, man spricht bei den USA auch manchmal von einem "Gesetz, das aus Erfahrung wächst". Diese Erfahrung ist aber eher in der Judikative und bei den Juristen zu verorten, weniger beim Volk. Sowas gibt's in Deutschland nicht.

Ich glaube nicht, dass das deine Frage hundertprozentig beantwortet (wie das meistens ist bei guten Fragen), aber vielleicht geht das schon mal in eine vielversprechende Richtung.
 
Seine politischen Rechte sind nicht Einfluss seiner Souveränität, sondern aus der Verfassung abgeleitete Rechte.
Steht da nicht: Ausfluss ?
Wenn ich nicht unter einer spätabendlichen Bewusstseinstrübung leide, soll das eher das Gegenteil von dem besagen, was der Korinther meint.
Die politischen Rechte der US-Bürger wären keine vorgesetzlichen, naturrechtlichen (Menschen-)Rechte. Sie wären erst durch die Verfassung konstitiuert und gewährt worden, wie auch die europäischen monarchischen Souveräne "ihren" Völkern "gnädigst" einige Rechte zu gewähren geruhten.
 
"Das Volk der USA ist aber nicht der Souverän im europ. Sinne; denn seine ursprgl. Autorität hat es mit dem Akt der Verfassungsgebung ausgeübt. Seine politischen Rechte sind nicht Einfluss seiner Souveränität, sondern aus der Verfassung abgeleitete Rechte. Damit ist in den USA eigentlich die Verfassung und nicht das Volk der souverän."
Wirklich sehr abstrakt - steht denn da nichts zur Begründung?

Das erste, was zu klären wäre, ist zweifellos der Souveränitätsbegriff. Einem niegelnagelneuen Fachlexikon [1] zufolge ist die sog. "innere Souveränität" - die äußere tut hier nichts zur Sache - identisch "mit der Selbstorganisationsfähigkeit der Staatgewalt". Weiter heißt es: "In demokratischen Republiken und parlamentarisch-demokratischen Monarchien ist das Volk Träger der S. (Prinzip der Volkssouveränität)."

Für Deutschland ist die Sache demnach klar: Gemäß Art. 20 GG geht "alle Staatsgewalt ... vom Volke aus." Lässt sich an Bestimmungen der US-Verfassung belegen, dass das dort anders ist?

Status des 'geschriebenen Rechts' in den USA und Deutschland... In den USA [ist] das Recht ist von Staat zu Staat sehr unterschiedlich. So extreme Dinge wie Todesstrafe usw. sind dort kein Bundesrecht, sondern Recht in den Einzelstaaten.
Die "Verteilung" zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht (und/oder Richterrecht) ist in USA sicher eine andere als bei uns. Aber mir fällt es schwer, von daher eine Linie zur Souveränitätsfrage zu ziehen.

Sicher hat der Förderalismus dort einen anderen Stellenwert, was übrigens den Obersten (Bundes-) Gerichtshof nicht hindert, mehr oder weniger wegweisende Entscheidungen etwa zur Vollstreckung der Todesstrafe zu treffen - bis hin zur (zeitweiligen) Aussetzung.

Die politischen Rechte der US-Bürger wären keine vorgesetzlichen, naturrechtlichen (Menschen-)Rechte. Sie wären erst durch die Verfassung konstitiuert und gewährt worden, wie auch die europäischen monarchischen Souveräne "ihren" Völkern "gnädigst" einige Rechte zu gewähren geruhten.
Lass uns das Problem praktisch angehen: In welchen politisch-rechtlich-gesellschaftlichen Fragen käme der Unterschied, so er existiert, zum Tragen?


[1] Recht A-Z, Hg. Bundeszentrale, Bonn 2010, S. 413
 
"Das Volk der USA ist aber nicht der Souverän im europ. Sinne; denn seine ursprgl. Autorität hat es mit dem Akt der Verfassungsgebung ausgeübt. Seine politischen Rechte sind nicht Einfluss seiner Souveränität, sondern aus der Verfassung abgeleitete Rechte. Damit ist in den USA eigentlich die Verfassung und nicht das Volk der souverän."
Womit wir wieder am Ausgangspunkt Deiner Überlegung angekommen sind: Wer hat die Verfassung gesetzt? "We the People of the United States, ...".

Die Verfassung stellt nach amerikanischem Verständnis eine Anordnung des Volkes dar, mit der die United States organisiert werden, z.B. die gesetzgebende Gewalt "einem Kongreß der Vereinigten Staaten" übertragen wird. Das Volk bleibt Auftraggeber/Souverän und regelt die Kompetenzen, Rechte und Pflichten seiner Beauftragten/Diener. Die Verfassung ist nur die Urkunde, in der diese Anordnung nachgelesen werden kann, falls es über deren Inhalt und Auslegung Streit geben sollte.
 
Ich hab in dem Kontext des Zitats, das wir hier gerade diskutieren, Souveränität auf ganz einfache Weise verstanden: ich bin davon ausgegangen, dass das hier nur 'jemanden' meint, dem das Rechtssystem letztverantwortlich ist, also den ultimativen Referenzpunkt des Rechtssystems. Schwammig, aber halt ne Arbeitsdefinition. Wobei ich aber sagen muss, dass dein Einwand den Nagel auf den Kopf trifft: der Souveränitätsbegriff wäre definitiv noch sauberer zu klären. Deine Ausführungen dazu finde ich sehr spannend - gern mehr, wenn du hast!

Für Deutschland ist die Sache demnach klar: Gemäß Art. 20 GG geht "alle Staatsgewalt ... vom Volke aus." Lässt sich an Bestimmungen der US-Verfassung belegen, dass das dort anders ist?

Ich hab die Verfassung jetzt bloß kurz quergelesen, aber ich sehe schon, wie man zumindest auf den Gedanken kommen kann, dass das Volk Souveränität 'abtritt' und stellvertretend die Constitution walten lässt. Die US-Verfassung selbst behandelt vornehmlich die Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung und eben die Rechte, die der Staat dem Bürger einräumen muss. Einleitend steht da aber eine Preamble, die den Eindruck erweckt, als sei damit nun aber wirklich alles von Bürgerseite aus gesagt und geklärt:

PREAMBLE
We the people of the United States, in order to form a more perfect union, establish justice, insure domestic tranquility, provide for the common defense, promote the general welfare, and secure the blessings of liberty to ourselves and our posterity, do ordain and establish this CONSTITUTION for the United States of America.


Das kann man schon so lesen, als würde die Verfassung für den Bürgerwillen an und für sich stehen, und dass selbst der Bürgerwille späterer Generationen an den Bestimmungen der Constitution auch erstmal vorbeimuss (etwa über Auflagen bei den Amandments). Zuletzt würde ich noch zu bedenken geben, dass die Constitution ja ziemlich vom Naturrecht geprägt ist. In dem Kontext braucht es ja nicht unbedingt den Bürgerwillen, um Menschenrechte als universale und immerdar geltende Bürgerrechte festzusetzen.


Die "Verteilung" zwischen Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht (und/oder Richterrecht) ist in USA sicher eine andere als bei uns. Aber mir fällt es schwer, von daher eine Linie zur Souveränitätsfrage zu ziehen.

Unmittelbar ist der Kontext nicht, richtig, schon gar nicht ohne Definition von Souveränität. ;) Und du hättest auch recht, wenn du einwenden würdest, dass die aktive GesetzGEBUNG ja auch in beiden Systemen von der Legislative ausgeht. Bei meinem Einwurf ging's mir eigentlich nur um eine Tendenz, die mir als Kontext recht interessant erschien.

So wie ich die Sache verstanden habe, ist bei uns in Deutschland das Recht einfach viel direkter an die Legislative gekoppelt als in den USA, und damit *an eine direkt vom Souverän Volk gewählte Vertretung.* In den USA hat die Judikative viel mehr Gestaltungsspielraum und viel nuanciertere Eingriffsmöglichkeiten auf die Natur der Gesetze; sie hat u.a. auch durch die Vielfalt und Eigenständigkeit der bundesstaatlichen Regelungen ein wesentlich größeres und komplexeres Reservoir an rechtlichen Entscheidungen, auf deren Rücken man die widersprüchlichsten Argumente und Entscheidungen rechtfertigen kann.

Der Berufsstand des professionellen, nicht gewählten Juristen, der sich in diesem abgekoppelten "inneren" Rechtsdiskurs bewegt, ist damit viel einflussreicher als in Deutschland, und dadurch sind die Gesetze dem Volk in den USA noch etwas mehr entrückt als hier... jedenfalls theoretisch, wenn man davon ausgeht dass das Parlament die Wünsche des Volks tatsächlich direkt umsetzt nur weil es gewählt ist, und die Richter sich an ihrem eigenen Diskurs mehr orientieren als an der Welt um sie herum, nur weil sie nicht gewählt sind.

Es ist natürlich in der Praxis nicht genauso holzschnittartig wie ich es hier um des Arguments willen (und zugegebenerweise etwas umständlich) darstelle. Aber ich verstehe diese unterschiedliche Systemstruktur als ein Vergleichsmoment, das möglicherweise - und da sind wir wieder bei der ursprünglichen Fragestellung - für eine Orientierung an verschiedenen Souveränen spricht.

In den USA ist es wichtiger, die Verfassung zeitgemäß zu interpretieren, deswegen gibt es eine viel organischere und unabhängigere Rechtstradition. In Deutschland ist es wichtiger, den Wählerwillen in Gesetzen umzusetzen, deswegen ist die Legislative auf mehr Ebenen zuständig.

Soviel einfach zur Erklärung meiner konfusen Gedanken... wir müssen das jetzt auch nicht weiter vertiefen. Der Vergleich der Rechtssysteme war bloß ein Gedanke und ich finde auch, dass dein klarer Weg über die Frage nach Definitionen sehr viel fruchtbarer ist, um die Frage in diesem Thread wirklich zu beantworten.

Lass uns das Problem praktisch angehen: In welchen politisch-rechtlich-gesellschaftlichen Fragen käme der Unterschied, so er existiert, zum Tragen?

Keine Ahnung, vielleicht in einem krisenhaften Zustand, wenn's im System ans Eingemachte geht und man genau wissen muss, wo der letztgültige rechtliche Referenzpunkt zu finden ist, damit man auch weiß, wann die letzte Bastion gefallen und das System offiziell durch ein anderes abgelöst ist? Bis dahin - und natürlich bis wir Souveränität vernünftig definiert haben - ist es einfach eine interessante Frage. :O

Ich werde also erstmal zusehen, dass ich hier was Intelligentes zu Souveränität finde, was ich gemäß deiner Anregung auch noch beitragen könnte. Ich werde wohl bis nächste Woche brauchen, aber... I'll be back. :inarbeit:
 
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Die Verfassung stellt nach amerikanischem Verständnis eine Anordnung des Volkes dar, mit der die United States organisiert werden...
We the people of the United States ... do ordain and establish this CONSTITUTION for the United States of America.
Zum Vergleich unsere GG-Präambel: "... hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben."


Aber noch etwas anderes:

Ich habe gelesen (aber wo? irgendein demokratietheoretisches Lehrbuch vermutlich), dass die Souveränität des amerikanischen Volkes tatsächlich "eingeschränkter" sei als die des deutschen oder französischen. Die Begründung ging irgendwie so:
Die US-Verfassungsväter wollten nicht, dass das Allgemeinwohl - Rousseaus volonté générale - so bestimmend und durchsetzungsfähig werden könnte, dass die Freiheit des Einzelnen dadurch gefährdet würde. Deshalb das ausgeprägte System der "checks and balances", die beinahe gleichstarken Mächte Kongress und Präsident usw.

Kann jemand etwas damit anfangen?
 
Von mir auch etwas anderes:

Hier kann man die Verfassung der USA von 1787 nachlesen: Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (1787) und
hier im Vergleich dazu das modernere Grundgesetz der BRD: http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/gg/gesamt.pdf

Bei einem Vergleich wird klarer, dass die US-Verfassung stärker die Rolle der Institutionen beschreibt. Dadurch wirkt diese auch fragmentarischer. Aber das Selbstverständnis das dahinter steckt ist die des Volkes als Anordnenden:
"Alle in dieser Verfassung verliehene gesetzgebende Gewalt soll einem Kongreß der Vereinigten Staaten übertragen sein, der aus einem Senat und einem Repräsentantenhaus bestehen soll."
"Das Repräsentantenhaus soll aus Abgeordneten zusammengesetzt sein, ..."
Das klingt sehr bestimmend (auch wenn das grundgesetzliche "Alle Staatgewalt geht vom Volke aus" fehlt).
 
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... der Souveränitätsbegriff wäre definitiv noch sauberer zu klären.
Eine "Klärung" kann ich vorerst nicht anbieten, aber mir ist vorhin wieder jene berühmt-berüchtigte Definition von Carl Schmitt eingefallen:
"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet"
hieß der erste Satz seiner Politischen Theologie (1922).
 
Eine "Klärung" kann ich vorerst nicht anbieten, aber mir ist vorhin wieder jene berühmt-berüchtigte Definition von Carl Schmitt eingefallen:
"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet"
hieß der erste Satz seiner Politischen Theologie (1922).
Das ist das Glaubensbekenntnis des Anti-Demokraten. :pfeif:

Souverän ist in einer Demokratie, wer bestimmt, wie der Staat zu funktionieren hat ("We the People of the United States, ...") und diese Ordnung durch die von ihm gewählten Organe auch durchsetzen kann.:fs:
 
Eine "Klärung" kann ich vorerst nicht anbieten, aber mir ist vorhin wieder jene berühmt-berüchtigte Definition von Carl Schmitt eingefallen:
"Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet"
hieß der erste Satz seiner Politischen Theologie (1922).

Argh, der berüchtigte Satz... naja, die Schmitt/Agamben-Kombination ist halt zur Zeit sehr beliebt. Ich seh das Ganze auch eher skeptisch.

Ich hab aber im Zusammenhang mit dieser State-of-Exception-Rhetorik neulich einen interessanten Aufsatz von Judith Butler gelesen ("Indefinite Detention" in ihrer Essaysammlung "Precarious Life" von 2004). Sie stimmt der Schmitt-Definition im Prinzip zu; sie schreibt unter anderem, dass weder Governmentalität (in etwa: die konkreten Abläufe und Prozesse des Regierens) noch Souveränität (das legitimierende Element, auf das sich Herrschaft immer bezieht) auf das Gesetz herunterzubrechen seien, also beide über- oder zumindest außergesetzliche Räume sind.

Für Butler ist daran vor allem problematisch, dass in den USA zur Zeit systematisch Räume geschaffen werden, die nicht nur teilweise, sondern vollständig außergesetzlich sind (Guantanamo etc) und wo daher kleine Bürokraten 'souverän' über Leben und Tod von Menschen entscheiden. Damit greift Butler auch direkt Foucaults ursprüngliche Grundannahme zur Governmentalität auf, die nämlich besagt, dass Macht nie nur von einem einzelnen zentralen Akteur (etwa dem Staat) ausgeht, sondern in allem Institutionen von allen institutionell einbezogenen Personen reproduziert wird.

Was uns das sagen will: Souveränität kann auch ein Begriff sein, der in Grauzonen verwendet wird und nicht nur im Bezug auf Größen wie "Volk" oder "König" vorkommen muss.

Der direkte Kontext mit Guantanamo ist zwar eher ein Problem der heutigen Zeit und gehört nicht direkt in ein Geschichtsforum, kann aber vielleicht als Beitrag zur Begriffsdebatte so stehengelassen werden.
 
Argh, der berüchtigte Satz... naja, die Schmitt/Agamben-Kombination ist halt zur Zeit sehr beliebt.
Ja, da wird Buch auf Buch publliziert - aber warum gerade jetzt?

Foucaults ursprüngliche Grundannahme zur Governmentalität auf, die nämlich besagt, dass Macht nie nur von einem einzelnen zentralen Akteur (etwa dem Staat) ausgeht, sondern in allem Institutionen von allen institutionell einbezogenen Personen reproduziert wird. Was uns das sagen will: Souveränität kann auch ein Begriff sein, der in Grauzonen verwendet wird und nicht nur im Bezug auf Größen wie "Volk" oder "König" vorkommen muss.
Ich habe den Foucault nicht mehr parat, aber auch er ist offenbar "im Kommen" [1].

Die Frage der "Rangordnung" zwischen den denkbaren Trägern der Souveränität ist bekanntlich recht alt. Herbert Krüger zitiert Bodin: Eine höchste Gewalt müsse nicht unbedingt die einzige sein, aber eine einzige Gewalt notwendig die höchste [2]. Die "realistische" Theorie stellt hierbei darauf ab, wer faktisch die "Macht" (im Sinne von Verfügungsgewalt) hat. Ernst Rudolf Huber argumentiert dabei ähnlich wie Schmitt: "Souverän ist, wer über die Wehrmacht gebietet" [3].

Wie lässt sich die Souveränitätsfrage ohne Rückgriff auf Ausnahmezustand und Oberbefehl beantworten? Wer in einem heutigen demokratischen Verfassungsstaat lebt, kann sich womöglich nicht damit abfinden, dass es einen Souverän gibt, der jedes bestehende Recht abändern kann - es muss Schranken geben, an die auch ein Souverän gebunden ist. Das gilt auch für den Souverän "Volk"!

Hier eben könnte die Besonderheit der Systems der USA liegen, für das bekanntlich die Federalist Papers die staatsphiliosophische Grundlage bilden. Bei Manfred Schmidt [4] findet sich eine sehr schöne Diskussion hierzu: Das Volk ist der Souverän, aber seine Souveränität ist "überall und nirgendwo"!


[1] Rationalitäten der Gewalt - Google Bücher (nach unten blättern).
[2] Allgemeine Staatslehre. Stuttgart 1964, S. 851
[3] zitiert S. 854; also könne man, so Krüger (ebd.), heute auch sagen, daß die Souveränität bei dem liege, der die tatsächliche Verfügungsmacht über die Atomwaffen eines Staates habe...
[4] Demokratietheorien: Eine Einführung - Google Bücher
 
Ja, da wird Buch auf Buch publliziert - aber warum gerade jetzt?

Die Rhetorik des Ausnahmezustandes hatte in erster Linie konkrete, handfeste politisch-militärische Vorteile für Hawks, die schon immer ein bisschen weiter gehen wollten als die Verfassung es zuließ. Sieht man ja an Neocons wie Rumsfeld. Mit dem Ausnahmezustand wurden diese Einrichtungen ja überhaupt erst begründet (obwohl die Sache bei Guantanamo etwas komplizierter ist, das war vorher ein Deportationslager für Flüchtlinge, hauptsächlich aus Haiti wenn ich mich recht erinnere).

Allerdings werden Schmitt/Agamben als THEORIEBASIS vor allem von tendenziell linksorientierten Leuten genutzt, die kritisch gegenüber der Bush-Regierung sind. Wie passt das zusammen? Ich hab das auch nie ganz verstanden; vielleicht war es in der ersten Zeit der Sprachlosigkeit nach 9/11 und Guantanamo einfach eine naheliegende Möglichkeit, die Sache überhaupt zu beschreiben, und sich den Dynamiken anzunähern, die scheinbar hinter diesen Entwicklungen steckten. Damit wäre die Theoriebasis im Prinzip nicht viel mehr als die Unterstellung, dass die US-Regierung seit 9/11 nun mal auf dieser Basis denkt und handelt.

Jedenfalls hat meiner Meinung nach Andrew W. Neal in dem von dir zitierten (sehr schönen!) Artikel recht, wenn er sagt, dass die theoretische Akzeptanz des Ausnahmezustands eine bescheuerte Strategie für einen kritischen Einwand ist, da sie sich von vornherein auf die grundsätzliche Argumentation des Gegners einlässt und damit nie eine ordentlich markerschütternde Kritik zustandekriegen wird. Mehr noch: man schreibt Ausnahmezustand-Dynamiken herbei, indem man sie zu einem Fakt hochstilisiert. Dieser Kritik stimme ich also absolut zu.

Ich habe den Foucault nicht mehr parat, aber auch er ist offenbar "im Kommen" [1].

Nee, Foucault ist schon seit den Siebzigern ein Gott der Geisteswissenschaften. Besonders in den Postcolonial Studies ist er praktisch durchgehend eine beliebte Theoriebasis gewesen, ebenso in den Gender Studies (wo die bereits erwähnte Judith Butler seine Theorie wesentlich erweitert und verfeinert hat). Im Gegensatz zum infernalen Duo Schmitt/Agamben ist Foucault nix Neues unter der Sonne. Es liegt allerdings in Neals Fall nahe, ihn ausdrücklich als Alternative zu nehmen, weil eben nur Foucault ein radikal nicht-polarisiertes Weltbild anbietet, das ausreichend theoretisiert ist.
 
Noch zwei Anregungen:

1. Karl Loewenstein [1] macht darauf aufmerksam, dass die "begrenzte Herrschaftsausübung" (limited government) eines der hervorstechendsten Merkmale der USA-Verfassung ist. In einem kurzen Abschnitt über die "Volkssouveränität" bestätigt er den Verfassungsgrundsatz, dass alle Macht vom Volke ausgeht, weist aber darauf hin, dass die Volkssouveränität
"zwar von Anfang an in der Verfassung theoretisch enthalten war, sich aber erst eine Generation später verwirklichen konnte. Die Verfassungsväter waren keine Demokraten [sic], sondern gehörten der konservativen Oberschicht an, die das tiefste Mißtrauen gegen die Volksherrschaft hegte. Davon legt der Federalist beredtes Zeugnis ab, er ist von Ausfällen gegen die Demokratie und ebenso gegen die Parteien durchsetzt."
Desweiteren geht er ausführlich auf die "Vormacht der richterlichen Gewalt" ein (siehe Deine Beiträge #2 und #7).

2. Loewenstein ist hier gar nicht weit entfernt vom "Linksaußen" der amerikanischen Verfassungsexperten, Charles A. Beard [2], der den "positiven" Teil des Systems so beschreibt:
"eine Regierung, der bestimmte positive Befugnisse übertragen sind, die aber so konstruiert ist, daß sie die Macht der Herrschaft der Mehrheit bricht und dafür sorgt, daß die Besitzrechte von Minderheiten erhalten bleiben".
So etwa wollte ich meinen Beitrag #8 verstanden wissen: die volonté générale ist nach Überzeugung der US-Verfassungsväter eine viel zu wichtige Sache, als dass man sie ganz dem Volk überlassen dürfte...;)


[1] Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. Berlin 1959, S. 15
[2] Eine ökonomische Interpretation der amerikanischen Verfassung. Frankfurt 1974, S. 210
 
Auch nach der WM sind hoffentlich Einwürfe noch erlaubt:

"Ein kleines Wort für den Verfassungsvater, ein großer Unterschied für die Geschichte: Als Thomas Jefferson die US-Unabhängigkeitserklärung formulierte, nannte er die Bürger erst Untertanen. Dann korrigierte er die Formulierung schnell, wie Chemiker nun belegen."

Der (korrigierte) Fehler geschah in einem Satz eines Entwurfes, der in der Endfassung der Unabhängigkeitserklärung so nicht auftauchte. Dafür taucht in dieser der Begriff "citizens" recht häufig auf. Die Idee, die Amerikaner als "citizens" statt "subjects" zu verstehen, wurde übernommen.

Quelle: Forscher entdecken Beinahe-Fehler in US-Heiligtum - Mensch bei WEB.DE
 
Zuletzt bearbeitet:
Mir fehlt in der laufenden Diskussion über die "Souveränität" der echte Anknüpfungspunkt.

Bodin entwickelte die Idee der Souveränität, um die Gewalt des Souveräns als einzige legitime Gewalt gegenüber der Gewalt Privater, der Fehde, durchzusetzen. Zu dieser Idee gehörte der Aufbau eines Rechtsssystems und die unbedingte Durchsetzung des Rechts. Die Vorstellung, dass der Souverän machen könne, was er wolle, gehört zu dieser Idee nicht. Auch bei Bodin musste der Souverän, das Naturrecht beachten sowie die von ihm eingegangenen Verträge einhalten.

Bei der Volkssouveränität übt nicht der Monarch sondern das Volk die Souveränität aus. Hier besteht jedoch folgendes Problem: das Volk selbst ist nicht handlungsfähig. Es bedarf Volksvertreter, die für das Volk handeln. Mithin werden Vorschriften benötigt, aus denen sich ergibt, wer wann in welchem Kompetenzbereich für das Volk wie handeln darf, d.h. eine Verfassung über die Organisation des Staates. Mit der Verfassung wird letztlich der Bereich des vom Volk als Souverän organisierten Staates vom Bereich des (nichtsouveränen) Privaten abgegrenzt.

Carl Schmitts Ansatz, souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, stellt in vielerlei Hinsicht einen Bruch mit Bodin dar. Dessen Souveränitätsbegriff zielte auf die Durchsetzung der Einzigartigkeit der staatlichen Gewalt als Regelfall, im Rahmen einer Idee des Rechts (im Gegensatz zu Schmitts Dezisionismus) und nicht auf die Entschränkung der staatlichen Gewalt ab. Im modernen Verfassungsrecht ist die Abgrenzung der Rolle des Ausnahmezustandsentscheider von der Rolle eines (nichtsouveränen) Privatmanns dadurch erreichbar, dass die Verfassung Regelungen über den Ausnahmezustand vorsieht, insb. daürber wer welche Entscheidungen treffen darf und dabei von wem wie kontrolliert wird etc. "Checks and balances" gelten auch/gerade im Ausnahmezustand.
 
Noch ein Nachtrag zu Carl Schmitt, seiner "politischen Theologie" und der Frage der Souveränität/Legitimität/Verfassungsstaat.

Mit der Idee der "Souveränität" öffnet sich der Bogen zur Einzigartigkeit der "Legitimität" staatlicher Gewalt, die in der liberalen Moderne zum demokratischen Verfassungsstaat führt.

Carl Schmitt verfolgte in seinen Büchern zur "Politischen Theologie" (1922/1970) die Konzeption, dass die Säkularisierung zu einer Verschiebung von Begriffen aus dem Theologischen in das Politische geführt hätte. Alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe. Gleichzeitig würde aber die Säkularisierung zu einer tödlichen Feindschaft zwischen dem Alten (Theologie) und dem Neuen (enttheologisierte Politik) führen, obgleich die enttheologisierte Politik von theologischen Begriffen durchdrungen ist und von diesen lebt, ohne seine Lebensvoraussetzungen (die von der Theologie stammen) selbst schaffen zu können (da auf Säkularisierung bedacht). Die moderne enttheologisierte Welt würde zu einem totalen Nihilismus führen, der durch mehr Aggressivät gekennzeichnet sei als die Zeit der gepflegten Religionsfeindschaften. Die Moderne würde nicht nur ihre Ziele nicht erreichen, sondern auch noch konträre Folgen zeitigen, etc. etc.

Schmitt verortet die Quelle der Legitimität in der Vergangenheit, bei den "Ursprüngen", die man freilich nicht genau kennt, und bei der Theologie, aus der sich freilich keine konkreten politischen Maximen ableiten lassen, um den Ausnahme-fall-entscheider zum Souverän, also zur einzig legitimen Quelle der staatlichen Gewalt, zu erheben, obgleich dessen Legitimition zur Rechtssetzung doch erst einmal begründet werden müsste.

Hier wird die "Politische Theologie" zur "politischen Mythologie", mit der moderne Machtpolitik betrieben wird.
 
Zuletzt bearbeitet:
Mir fehlt in der laufenden Diskussion über die "Souveränität" der echte Anknüpfungspunkt.

Und obwohl (oder: weil?) das so ist, schreibst Du sehr interessante Sachen... :winke:

Die vom Gast gestellte Frage betraf das politische System der USA. Ich bereue beinahe, dass ich Carl Schmitt hier eingeschleust habe (#10), denn der hat uns scheinbar etwas vom Thema weggeführt [1].

... um den Ausnahme-fall-entscheider zum Souverän, also zur einzig legitimen Quelle der staatlichen Gewalt, zu erheben, obgleich dessen Legitimition zur Rechtssetzung doch erst einmal begründet werden müsste.
Hier sieht auch Utz Schliesky das Problem: "Die Souveränität als rechtlich brauchbarer Begriff kann immer nur dem Normalzustand angehören und muss daher die höchste Herrschaftsgewalt im Normalzustand bezeichnen, die auch schon im Normalzustand festlegt, wer über den Ausnahmezustand - bis zum souveränitätstheoretischen Endpunkt, dem Untergang des Staates bzw. der Herrschaftsordnung - gebieten soll" [2].

Hier wird die "Politische Theologie" zur "politischen Mythologie", mit der moderne Machtpolitik betrieben wird.
Wobei diese Art von Mythologie auch sehr elementar formuliert werden kann: "Die Gewalt ist eine schöne Sache, und zu vielen Dingen nütze; denn 'man kommt mit einer Hand voll Gewalt weiter, als mit einem Sack voll Recht'. Ihr sehnt Euch nach der Freiheit? Ihr Thoren! Nähmet Ihr die Gewalt, so käme die Freiheit von selbst. Seht, wer die Gewalt hat, der 'steht über dem Gesetze'" [3].


[1] Aber vielleicht gibt es ja eine versteckte Verbindung zwischen Schmitts "politischer Theologie" und der amerikanischen Verfassungstheorie- und praxis, jedenfalls unter Präsidenten wie G.W. Bush... :scheinheilig:
[2] Souveränität und Legitimität von ... - Google Bücher
[3] Max Stirner: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig 1845, S. 220
 
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