Eine Perspektive die jedoch jede Hungerkatasprohe als politischen Verbrechen deutet, hat einen ganz entscheidenden Knackpunkt: "Freilich sitzen die Vertreter der These von den "Hungersnöten neuen Typs" der Fiktion auf, dass politische Akteure namentlich aus den Industriestaaten heutzutage soziale Vorgänge global beherrschen könnten."
Das ist auch ein wesentliches Problem bei der Betrachtung der Hungesnot in Bengalen. Weder Churchill noch Amery waren dazu in der Lage die Vorgänge in Bengalen wirklich im Detail zu beherrschen.
Eine andere Frage ist, inwiefern man bei Britisch-Indien denn auch von einem industriellen Hintergrund sprechen kann?
Meiner Ansicht nach. wäre die Hungersnot in Bengalen eigentlich eher den Agrarkriesen vorinstustrieller Gesellschaften gleichzusetzen, weil die Mangelerscheinungen nur in Teilen des Subkontinents, d.h. des politisch unmittelbar miteinender verknüpften Raums auftraten und somit das Problem in Transport und Distribution zu suchen ist.
Ein, für die Einordnung von Hungerkrisen entscheidendes Kriterium müsste also das Vorhandensein nutzbarer Verkehrsinfrastruktur sein, mit denen die Ungleichgewichte zwischen Überschuss- und Defizitgebieten auszugleichen kann.
- Eisenbahnsystem
Im Hinblick auf das Eisenbahnsystem deutet sich durch die schnelle Einnahme weiter Teile Birmas im Frühjahr 1942 durch die Japaner an, dass die bis dato im ostindisch-birmesischen Raum stehenden britischen Truppen zur Abwehr eines Japanischen Ausgreifens nach Indien inadäquat waren und aufgestockt werden mussten, mit allen Konsequenzen für das Eisenbahnsystem.
Das zu unterlassen hätte bedeutet einen japanischen Einfall nach Ostindien und den Verlust der Verbindungslinien nach Yunnan auf's Spiel zu setzen, hätte also die Möglichkeiten des chinesischen Widerstands geschwächt, im gleichen Maße Japan gestärkt und ob es der bengalischen Bevölkerung unter japanischer Fuchtel besser ergangen wäre, wird man durch die gleiche Problemstellung auf der einen und auch die japanische Behandlung der Zivilbevölkerung in den eroberten Gebieten Ost- und Südostasiens, wohl bezweifeln dürfen.
- Seewege
Durch die japanische Einnahme Singapurs, der malayischen Halbinsel, weiter Teile Niederländisch-Ostindiens und den faktischen Übergang Siams/Thailands in die japanische Einflussphäre, so wie dem japanischen Festsetzen in Birma, waren die japanischen Seestreitkräfte effektiv aus dem Golf von Bengalen nicht mehr heraus zu halten.
Bengalen direkt anzulaufen und damit das Eisenbahnproblem zu umgehen, setzte demnach die Möglichkeit vorraus die Transporte militärisch zu sichern.
Demnach waren die Kapazitäten dann nicht nur durch den verfügbaren zivilen Schiffsraum limitiert, sondern auch durch die militärischen Kapazitäten um einen einigermaßen effektiven Schutz tatsächlich gewährleisten zu können.
Die wiederrum wären nur dann aufzustocken gewesen, wenn man sie aus anderen maritimen Einsatzgebieten abgezogen hätte, sprich vom Atlantik, aus der Nordsee-Ärmelkanal oder aus dem Mittelmeer.
Ein Abzug aus Nordsee-Ärmelkanal oder Atlantik hätte die inzwischen durch stetig größer werdende US-Amerikanische Verbände ohnehin strapazierte Versorgung Großbritanniens gefährdet, ein Abzug der Marineverbände aus dem Mittelmeer bis Mai 1943 hätte die Versorgung des eigenen Vorstoßes gegen die Deutsch-Italienischen Verbände in Nordafrika gefährdet, zudem hätte ein weitgehender Abzug der Seestreitkräfte der Regia Marina wohl ermöglicht mindestens ansehnliche Teilkontingente der Achsen-Truppen aus Afrika zu evakuieren, was eine Invasion in Süditalien und Sizilien sicherlich nicht erleichtert hätte, mit möglichen Konsequenzen für den weiteren Kriegsverlauf und mit möglichen Konsequenzen für die weitere interalliierte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, da Stalin in Sachen zweiter Front ja bekanntlich bereits mit den Hufen scharrte.
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Wenn wir jetzt also davon ausgehen, dass:
- Das Eisenbahnsystem auf dem indischen Subkontinent für die Notwendigkeiten eines modernen Krieges ohnehin inadäquat war.
- Der Wegfall der Versorgungsmöglichkeiten Bengalens von Osten her, aus Birma heraus, so wie Zustrom birmesischer Flüchtlinge, die vor den Japanern Reißaus nahmen, für zusätzliche Anspannung der Situation sorgten
- In den Jahren 1942-1943 kein Missbrauch der verfügbaren Transportkapazitäten zu, an der Kriegslage gemessen, völlig unnötigen Zwecken, im großen Stil, betrieben wurde.
dann würde ich meinen, dass man hier dem Zustand einer vorindustriellen Agrarkrise sehr nahe kommt, da:
- Die kriegsbedingte Bindung von Ressourcen des Transportsystems im Hinblick auf den regionalen Ausgleich von Lebensmittelüberschüssen und -defiziten, den selben effekt haben musste, als wenn es dort überhaupt keine adäquate Infrastruktur gegeben hätte.
- Der Zustrom von Flüchtlingen auf der einen und der Zustrom von militärischem Personal auf der anderen Seite in die Region, sofern letzteres im Bezug auf Nahrungsmittel die Transportkapazitäten im Hinblick auf Ferntransporte überlasstete und Lebensmittel demnach regional bezogen werden mussten um die Schienen für nicht regional produzierbare Kriegsgüter offen zu halten, ganz genau den gleichen Effekt haben musste, wie ein mehr oder weniger sprunghafter Anstieg der Bevölkerung im Rahmen der Systematik vormoderner Agrarkrisen (Malthusianische Falle).