Was hatte Anne, was andere Geliebte nicht hatten? Sie hatte es geschafft, dass er eine echte, längerfristig währende Leidenschaft für sie entwickelte. Und was hatte sie anders gemacht als ihre Vorgängerinnen? Sie hatte sich ihm nicht hingegeben, sondern ließ ihn jahrelang werben und hoffen. Das war für Heinrich doch etwas Ungewohntes. Dass eine Frau ihn nicht gleich ranlässt, war ihm vermutlich noch nicht so oft passiert. Dass sie sich so anders verhielt, dass er sie nicht sofort haben konnte, muss sie für ihn erst so richtig faszinierend gemacht haben - solange, bis er sie nicht mehr aus dem Kopf bekam und bereit war, alles zu tun, nur um sie doch noch zu bekommen.
Abgesehen von politischen Machtspielchen und Triebsteuerung gibt es auch noch etwas, das nennt sich Liebe. Dagegen waren auch Könige nicht immun. Das würde auch, im Gegeansatz zum Konzept der puren Triebsteuerung erklären, warum Henry jahrelang um die Boleyn warb. Wäre es nur um die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse gegangen, hätte er sie sich auch - trotz ihrer Herkunft, die Joinville ja bereits ausführlich erklärt, danke dafür - einfach nehmen können. Hat er aber nicht. Vielmehr hat er ihr Dinge durchgehen lassen, die andere bereits den Kopf gekostet hätten (man beachte nur das Schicksal des mit Henry verwandten Earl de Courtenay!). Wie tief seine Liebe ging, zeigen insbesondere die erhaltenen Briefe, die Henry an die Boleyn schrieb. Dass die Liebe in diesem Fall eher einseitig war und die Boleyn die Liebe des Königs entsprechend zu ihren Gunsten auszunutzen wusste, wird daudrch ja nicht in Abrede gestellt. So ganz sexlos war die voreheliche Beziehung mit der Boleyn zudem auch nicht, immerhin muss sie rein rechnerisch bereits mit Elizabeth schwanger gewesen sein, als sie Henry heiratete.
Das war sicher ein positiver Nebeneffekt, dazu hätte er aber nicht ausgerechnet Annes bedurft. Katharina hatte ihm seit über zehn Jahren kein Kind mehr geboren, er konnte also schon lange davon ausgehen, dass von ihr in dieser Hinsicht nichts mehr zu erhoffen war. Wäre es ihm primär um eine neue Königin gegangen, hätte er schon längst handeln können.
Man beendet selbst als Max Musternmann allerdings nicht ganz so einfach Beziehungen, als Regent eines Landes, bei der die Beendigung auch noch deutlich weitreichendere Konsequenen haben kann, erst recht nicht. Das ist immer mehr oder weniger eine Interessensabwägung. Katharina war nun mal im Volk und bei Hofe sehr beliebt, die Ehe mit ihr war der letzte Wunsch seines Vaters. Katharina war zudem die Tante Kaiser Karls V. Andererseits stand Henry bereits bei der Kaiserwahl Karls mit ihm in Konkurrenz (auch er stand damals als Kaiser zur Wahl!). Henry befand sich zudem dauernd irgendwo zwischen den Stühlen der Kriegsparteien der Renaissancekriege und konnte dementsprechend außenpolitisch nicht frei agieren. Katharina war zudem sechs Jahre älter als Karl, und mit 41 schlicht schön langsam zu alt, noch den ersehnten Thronerben zu gebären. Just jetzt lernt Henry also eine durchaus schöne und gebildete zudem noch standesgemäße, gebärfähige und vor allem englische Adelige kennen, in die er sich offensichtlich verliebt. Erst ab diesem Zeitpunkt dürfte also Henrys Interessensabwägung langsam in Richtung Trennung von Katharina umgeschwenkt sein. Klar hätte er sich auch schon vorher von Katharina trennen können, nur überwogen im Vorfeld wohl eher die Vorteile eines Festhaltens an der Ehe mit Katharina.
Die Leidenschaft hielt letztlich nur solange wie es ihm opportum erschien. Und um sie los zu werden hat er sie gleich enthaupten lassen, was man vielleicht als Leidenschaft auslegen kann oder einfach nur als Skrupellosigkeit.
Oder als politisches Kalkül. Die Hinrichtung war schlicht der einfachste Weg die Boleyn loszuwerden. Henry hatte bereits eine Beziehung mit Jane Seymour, eine Scheidung hätte ihn vor noch mehr Hürden gestellt, offiziell lebte er in Bigamie, wie also hätte er sich von der Boleyn scheiden lassen können, um eine andere zu heiraten, wenn er de facto eine illegitime Ehe mit ihr führte? Nun und dann wären da noch die Unzahl höfischer Intrigen gegen die Boleyn nebst ihrer allgemeinen Unbeliebtheit sowohl bei Hofe als auch im Volk. Das Schafott kann hier auch einfach nur als "der einfachste Weg" bezeichnet werden. Insbesondere weil Henry, was das Schafott betraf, ohnehin nicht zimperlich war.
Spätestens als klar war, dass die Kirche der Trennung nicht zustimmen würde, hätte er einen Rückzieher machen können.
Nein hätte er nicht. Die Verweigerung der Zustimmung des Papstes zur Scheidung von Katharina geschah, weil Karl V. den Papst im Frieden von Barcelona dazu zwang. Hätte sich Henry dem untergeordnet, wäre das einer Unterordnung unter den Kaiser und gleichzeitig einer sehr eindeutigen Verwicklung in die Renaissancekriege gleichgekommen. Ganz davon abgesehen, war Henry mit der Boleyn bereits über ein Jahr verheiratet und hatte eine entsprechende Parlamentakte zur Auflösung seiner Ehe mit Katharina herausgegeben, als die endgültige Absage des Papstes kam. Ein zurückrudern dürfte also nicht mehr möglich gewesen sein.
Was also lag näher als sich vom (politischen) Willen des Papstes zu lösen?
Oder eher vom politischen Willen des Kaisers. :winke: