Ingeborg, da kenne ich aber noch eine andere Version der Geschichte, (die man aber erst erfährt,wenn man mit den Jungs am Lagerfeuer ein paar Dosen Bier leert)
In der kurzen Darstellung eines Beitrages fällt natürlich immer einiges hinten runter. NB: andere Versionen sind nicht nur am Lagerfeuer und beim Bier zu hören.
Die traditionellen Strukturen waren bei Ankunft der Völker in den Reservationen ja bereits aufgelöst und griffen nicht mehr. Die dort ankamen, hatten in der Regel mehrere Wellen von Epidemien überlebt, bei denen Kinder, Eltern, Verwandte umgekommen waren. Danach militärische Verfolgung, Hungerzeiten, Flucht, Vertreibung, Entbehrungen. Viele hatten unvorstellbare Grausamkeiten erlebt, die an ihnen und ihren Familien begangen wurden (als Eindruck dazu zb der Bericht von Dee Brown über das Massaker von Sand Creek – Brown stützt seine Darstellung ua auf offizielle Armeeberichte!). Menschen, die erleben müssen, wie ihre Kinder, ihre Angehörigen, ihre Verwandten verstümmelt und massakriert wurden (zb Tabaksbeutel, hergestellt aus einem abgeschnittenen Scrotum, aus Bäuchen herausgerissene Ovarien als 'Hutschmuck'...), sind traumatisiert, für ihr restliches Leben, was natürlich auch Auswirkungen darauf haben muß, inwieweit sich Strukturen überhaupt wieder etablieren lassen.
In den Reservationen ging es mit Hunger und Entbehrungen weiter. Natürlich erhielten nicht alle Völker Reservationen, aber die Erfahrungen glichen sich in vieler Hinsicht. Auch Selbstbestimmung war nicht mehr möglich – inwieweit dies demoralisierten, zerstörten, leidenden Menschen ohne Perspektive überhaupt möglich ist, lassen wir mal dahingestellt sein. Die vorher vorhandenen Strukturen waren schon bei Ankunft in den Reservationen zb auch dadurch weg, da viele der traditionellen chiefs nicht mehr lebten, oder erstmal wg Widerstand in Gefängnisse kamen etc. Es wurde auch als kontraproduktiv angesehen, die traditionellen Strukturen sich wieder etablieren zu lassen.
Daß Kontakte zur Außenwelt der Reservate zeitweilig nicht bestanden mag für die größen Navajo Apachen- und Hopi-Reservate im Südwesten gelten, nicht jedoch für die kleineren Reservate im Bereich von Ost- oder Westküste ,in den Südstaaten oder im mittleren Westen.Da gab es immer intensivere Kontakte.-
Das kann man so nun wieder auch nicht sagen. Die Reservationen der Hopi und Apache sind auch nicht so groß. Auch in anderen Regionen gab es Reservationen, in denen keine gesellschaftlichen Kontakte vorkamen, weil sie zu abgelegen waren. Es wurden vorwiegend die Weißen erlebt, die auf der rez arbeiteten, also für BIA, für den IHS (Indian Health Service), für Kirchen oder in den Schulen (soweit vorhanden). Dies kann man jedoch nicht als Kontakte zur umgebenden Gesellschaft bezeichnen, da diese Personen ja in ihrer Funktion erlebt wurden.
Bei den Paiute (auf die du dich, wie ich vermute, beziehst) war die Situation allerdings von einigen Besonderheiten geprägt (die mehr oder weniger auch für die anderen Völker im Great Basin zutreffen, sowie darüber hinaus im Südwesten oder in California vorkommen). Auch die Paiute mußten erleben, wie sie von Siedlern in ihren traditionellen Gebieten immer weiter abgedrängt wurden, die die fruchtbarsten Gebiete für sich beanspruchten und zb Bäume und Büsche abholzten, deren Früchte von den Paiute intensiv geerntet wurden, oder Bodenflächen pflügten oder zur Viehzucht nutzten, so daß zb das Graben nach Wurzeln nicht mehr möglich war.
Die Paiute hatten immer in relativ kleinen Verwandtschaftsgruppen gelebt (da die Bedingungen im Great Basin größere Gruppen nicht zuließen), so daß sich hierdurch Möglichkeiten eröffneten, die andere Völker nicht hatten. Als es mehr und mehr unmöglich wurde, sich durch Sammeln und Jagen autark zu ernähren, fingen viele Paiute an, für weiße Farmer zu arbeiten. Hierbei hatten sie häufig die Möglichkeit, nebenher noch zu sammeln und auch zT die Kollektivjagden auf niedrigerem Leven weiter durchzuführen, oder auch zur Ernte bestimmter Beeren, Wurzeln, Nüsse etc ein paar Tage frei zu bekommen. Vielfach lief es so, daß eine Paiute-Familie auf einer Farm lebte, dort ihre traditionellen Unterkünfte baute und für den Farmer arbeitete. Teilweise zogen auch eine oder mehrere Familien in die Nähe weißer Dörfer und trafen dort ähnliche Arrangements. Hierbei wirkte es sich womöglich positiv für die Paiute aus, daß sie im allgemeinen von der weißen Gesellschaft als besonders rückständig und 'primitiv' betrachtet wurden, so daß ihre Anwesenheit nicht als Gefahr empfunden wurde.
Daß willfährige Personen etabliert wurden mag in der Anfangsphase zeitweise so gewesen sein, aber so weit die vom Stamm nicht akzeptiert wurden,blieben die relativ machtlos und verschwanden auch rechts schnell wieder.
Diese Anfangsphase reicht ja nun über einige Jahrzehnte, unter dem Strich betrachtet, und wenn du so willst, kann man sie (sicherlich mit Abstrichen) bis in die 1960er Jahre fassen. Es gab die Dichotomie zwischen Anpassung und Nichtanpassung für lange Zeit, die in sehr unterschiedliche Lebensläufe mündete. Machtlos waren diese willfährigen Personen ohnehin – egal ob akzeptiert oder nicht, weil für diese eingesetzten Chiefs keine größere Rolle vorgesehen war als die eines Frühstücksdirektors.
Das traditionelle Konsensverfahren war dabei nicht weniger scheindemokratisch wie das nachfolgende oktroyierte System , wurde es doch in vielen Fällen von bestimmten einflußreichen Clans dominiert.Und diese Clans waren auch später wieder schnell an der Macht, wobei deren Eigeninteresse auch einerseits darin bestand echte demokratische Strukturen gar nicht erst aufkommen zu lassen und andererseits Kontakte der Stammesmitglieder mit der "Außenwelt " zum Zwecke eigenen Machterhaltes mit dem Argument der Entfernung von der eigenen Kultur zu tabuisieren. Daß man dabei dem BIA in die Hände spielte nahm man billigend in Kauf.
Clans gab es nicht bei jedem Volk und auch solche Seilschaften, wie du sie beschreibst, nicht unbedingt in der traditionellen Gesellschaft, die im allgemeinen diverse Regulative dagegen einbaute. (Bei den Paiute, die kein traditionelles Clansystem hatten, wäre das Enstehen solcher Seilschaften auch nicht das Weiterführen tradierter Systeme, sondern etwas Neues.) Im traditionellen System war dies zb die Auflösung einer Gruppe, wenn keine Einigung gefunden werden konnte, so daß diejenigen, die etwas nicht mittragen wollten, sich anderen Gruppen anschlossen oder eine neue Gruppe bildeten. Anführer konnten abgesetzt werden, wenn sie die Interessen der Gruppen nach deren Dafürhalten nicht gut genug umsetzten oder repräsentierten. Auf den Reservationen allerdings etablierten sich Seilschaften teilweise recht schnell. Daß diese Personen häufig als Kollaborateure angesehen und abgelehnt wurden, hatte natürlich auch Auswirkungen auf Colliers Bestrebungen - diese setzten somit nicht nur in Teilen auf vergangenen Fehlern auf, sondern begingen neue. Ich möchte da insbesondere auf Colliers – äh: Überzeugungstaktik hinweisen, der im Falle der Ablehnung des Wahlsystems in den Raum stellte, die betreffenden nations nicht mehr vor der Auflösung ihrer Reservationen zu schützen.
Echte demokratische Strukturen wurden den indianischen Völkern über viele Jahrzehnte weder zugetraut noch zugemutet. Die chiefs wurden teilweise von der Verwaltung ernannt, teilweise gab es auch Wahlen. Collier mag es gut gemeint haben, als er einheitliche Strukturen einführen wollte – wie erfolgreich man sein kann, wenn man ein demokratisches System per Zwang einführen will, halte ich für auf der Hand liegend.... Zumal in Gesellschaften, die bereits über Jahrzehnte hinweg nicht aus freien, gleichberechtigten, gut ausgebildeten Menschen bestanden und keine Selbstbestimmung erfahren hatten. Gerade in den Flächenreservaten war und ist zb die Wahlteilnahme mitunter bis heute für abgelegen wohnende Personen ein Problem und ein System, das unzugänglich ist, ist eben auch kein Identifikationsobjekt, sondern wird als ausgrenzend erlebt. Ausgrenzung war übrigens auch insofern gegeben, als die indianische Bevölkerung zwar seit 1924 das Wahlrecht hatte, dieses aber bei weitem nicht überall ausüben konnte.
Collier ging diktatorisch vor, bei der Oktoyierung der politischen Strukturen ebenso wie bei der wirtschaftlichen Förderung der Reservationen. Dadurch entstand nur einmal mehr der Eindruck, daß eine Mitsprache der Betroffenen nicht gewünscht war, daß sie Empfänger waren und bleiben sollten. Auch dies hatte natürlich Auswirkungen auf Selbstbild, Selbstbewußtsein sowie auf die Akzeptanz der angebotenen Lösungen. Erschwerend kam beim vorigen wie beim von Collier eingeführten System hinzu, daß die Verwaltung keine sonderlichen Muster für korrektes Regieren und Verwalten geboten, sondern im Gegenteil das Ausplündern, Bereichern und Regieren nach Gutsherrenart vorgelebt hatte. Als weiteres Problem kommt der Druck auf Amtsinhaber hinzu, ihrer Verwandtschaft zu helfen, was bis heute ein teils erhebliches Nepotismusproblem ergibt – bei einer Arbeitslosigkeit auf den rezzes bis zu 90% allerdings auch nicht wirklich erstaunlich.
Das Interesse an möglichst guter Ausbildung ist auch heute noch eine zweischneidige Angelegenheit für einen großen Kreis der indianischen Bevölkerung: wenn du zb studieren, anschließend einen entsprechenden Job ausüben möchtest, dann geht das eher nicht auf den Reservationen. Daher sind es gerade die gut ausgebildeten jüngeren Leute, die wegziehen. Und natürlich führt dies zu einer Entfernung von der eigenen Kultur – spätestens bei den Kindern und Enkelkindern dieses Personenkreises, die in einer weißen Umwelt aufwachsen und teilweise wenig in ihre Ursprungskultur eingebunden sind, ohne dabei jedoch in der weißen Gesellschaft uneingeschränkte Akzptanz zu finden.
Das fing erst an,sich in den siebzigern zu ändern, wobei natürlich auch das indian political movement bis heute versucht,die Rolle der "eigenen " Leute herunter zu spielen.
Beim Anfang bin ich d'accord, aber daß diese Rolle heruntergespielt würde, kann ich so nicht bestätigen.
Daß in vielen Fällen der Sprung vom abhängigen, kolonisierten Dasein unter 'divide et impera' zu echten, demokratischen Strukturen nicht umgehend geschafft wurde, nicht geschafft werden konnte, sollte jedenfalls nicht verwundern. Zumal, wenn diese Strukturen oktroyiert und nicht freiwillig angenommen werden und diese Strukturen dann auch weiterhin von übergeordneten Instanzen abhängig sind, die Entscheidungen revidieren können.