Abgesehen davon leuchtet mir nicht ein, weshalb ausgerechnet dem traurigen Schicksal der Elsässer/Lothringer eine Akzeptanz für das "Beuterecht" des Siegers entnehmbar sein soll. 1918 war man froh wieder nach Frankreich zurück zu kommen. Das kann man auch als Nichtakzeptanz der Annexion von 1871 verstehen, ohne dass es hierfür dann noch einer (gewalttätigen) Rückkehr-Untergrundbewegung bedurft hätte.
In einem Brief an seinen Botschafter in London begründet Bismarck die deutschen Aneignungsabsichten von Elsaß-Lothringen (August 1870): "Wir stehen heute im Felde gegen den 12. oder 15. Überfall und Eroberungskrieg, den Frankreich seit 200 Jahren gegen Deutschland ausführt. 1814 und 1815 suchte man Bürgschaften gegen Wiederholung dieser Friedensstörungen in der schonenden Behandlung Frankreichs. Die Gefahr liegt aber in der unheilbaren Herrschsucht und Anmaßung, welche dem französischen Volkscharakter eigen ist und sich von jedem Herrscher des Landes zum Angriff auf friedliche Nachbarstaaten missbrauchen lässt. Gegen dieses Übel liegt unser Schutz nicht in dem unfruchtbaren Versuche, die Empfindlichkeit der Franzosen momentan abzuschwächen, sondern in der Gewinnung gut befestigter Grenzen für uns.
Wir müssen dem Druck ein Ende machen, den Frankreich seit zwei Jahrhunderten auf das ihm schutzlos preisgegebene Süddeutschland ausübt, und der ein wesentlicher Hebel für die Zerstörung der deutschen Verhältnisse geworden ist. Frankreich hat sich durch die konsequent fortgesetzte Aneignung deutschen Landes und aller natürlichen Schutzwehren desselben in den Stand gesetzt, zu jeder Zeit mit einer verhältnismäßig kleinen Armee in das Herz von Süddeutschland vorzudringen, ehe eine bereite Hilfe da sein kann. Seit Ludwig XIV., unter ihm, unter der Republik, unter dem ersten Kaiserreich haben sich diese Einfälle immer und immer wiederholt; und das Gefühl der Unsicherheit, welches sie zurückgelassen, und die Furcht vor einer Wiederholung dieses Schrecknisses zwingt die süddeutschen Staaten, den Blick stets auf Frankreich gerichtet zu halten. Wir können nicht immer auf eine außerordentliche Erhebung des Volkes rechnen und der Nation nicht ansinnen, stets das Opfer so starker Rüstung zu tragen. Wenn die Entwaffnungstheorie in England ehrliche Anhänger hat, so müssen dieselben wünschen, dass die nächsten Nachbarn Frankreichs gegen diesen alleinigen Friedensstörer Europas mehr als bisher gesichert werden. Dass in den Franzosen dadurch eine Bitterkeit geweckt werde, kann dagegen nicht in Betracht kommen. Diese Bitterkeit wird ganz in demselben Maße stattfinden, wenn sie ohne Landabtretung aus dem Kriege herauskommen. Wir haben Österreich, wesentlich aus jener Rücksicht, keine Gebietsabtretungen angesonnen, haben wir irgendeinen Dank davon gehabt? Schon unser Sieg bei Sadowa hat Bitterkeit in den Franzosen geweckt; wie viel mehr wird es unser Sieg über sie selbst tun! Rache für Metz, für Wörth wird auch ohne Landabtretung länger das Kriegsgeschrei bleiben als Revanche für Sadowa und Waterloo! Die einzig richtige Politik ist unter solchen Umständen, einen Feind, den man nicht zum aufrichtigen Freunde gewinnen kann, wenigstens etwas unschädlicher zu machen und uns mehr gegen ihn zu sichern, wozu nicht die Schleifung seiner uns bedrohenden Festungen, sondern nur die Abtretung einiger derselben genügt."
Damit schloss sich Bismarck einerseits der Meinung der Militärs und seines Königs an, die aus dem Sicherheitsaspekt und wohl auch "Beuterecht" - immerhin hat König Wilhelm bereits 1866 schweren Herzens auf "Beute" verzichtet - auf Gebietsabtretungen bestanden. Andererseits hat die Welle der nationalen Begeisterung, die den preussischen Krieg erst zu einem deutschen Krieg gegen Frankreich gemacht hat, dazu geführt, dass auch die deutsche Bevölkerung von Berlin bis München das Elsaß einforderte und zwar mit dem Hinweis auf das "Unrecht" dass seit Ludwig XIV die Franzosen dem Reich zugefügt hatten.
"Unverändert blieb indessen seine (Bismarcks) Auffassung, dass keine Volksabstimmung über die Annexionen entscheiden dürfe. Sie (Bismarcks Auffassung) stand im krassen Widerspruch zur vorherrschenden öffentlichen Meinung Europas, für die der Grundsatz der Selbstbestimmung der Völker ein unverlierbarer Bestandteil liberalen Denkens war. In einem offenen Brief an Th. Mommsen schrieb Fustel de Coulanges, ehemals Professor in Strasburg: "Vous invoquez le principe des nationalités, mais vous le comprenez autremont que toute l´Europe" (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd.5 S.604, Hrsg. Th. Schieder, Stuttgart 1998)
Akzeptiert wurde (durch die Elsässer) natürlich nicht das Prinzip eines "Beuterechts" an sich, welches sich schon damals im Widerspruch zu liberalem Gedankengut befand, mehr noch dem Nationalitätenprinzip widersprach. Akzeptiert wurde lediglich die TATSACHE, dass man ab 1871 Bestandteil des deutschen Reiches wurde, belegbar durch die Wahlergebnisse zum Reichstag seit 1874.
Auch waren 1918 längst nicht alle Elsässer "froh, wieder nach Frankreich zu kommen": Wieso sollte denn ein gebürtiger Elsässer/Franzose, Eugen Adolf Ricklin, geb. 1862, in seiner Funktion als Landtagspräsident die Autonomie ausrufen anstatt der Wiedereingliederung nach Frankreich? Die weitere Behandlung des Elsaß´durch Frankreich war doch weit weniger liberal als sie während der Kaiserzeit ausfiel, wenn auch unter der Prämisse, dass Frankreich als Zentralstaat schon per se das Elsaß anders verwaltete als es der deutsche "Bundesstaat" gemacht hatte.
Eine gewalttätige "Rückkehr-Untergrundbewegung" hat es weder 1871 nach der deutschen Annexion noch 1918 nach der französischen Wiedereingliederung gegeben. Meine früheren Aussagen beruhen jedoch genau auf diesem Umstand: Eben das Fehlen solcher Aktivitäten, im Gegensatz zu den Vorgängen in Oberschlesien, indiziert, dass auch die "deutschen" Elsässer akzeptiert hatten, nach der Niederlage 1918 wieder den Pass ändern zu müssen.