Verdingkinder, ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte

ursi

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Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Not im Emmental sehr goss. Es gab eine Schicht von Grossbauern, die ihren Hof jeweils ihrem Jüngsten vererbten. Die Zahl der armen oder verarmten und landlosen BürgerInnen nahm zu. Die Frauen wurden um ihre Heimarbeit gebracht, da in den Spinnereien und Webereien immer mehr Maschinen ihre Arbeit machte. Viele verfielen der Trunksucht und die Armen sollten von ihren Heimatgemeinden unterstützt werden. Den Dörfern fehlte aber das Geld dazu und deshalb wurde ein neues Armengesetz geschafften, dass diese Not lindern sollte, doch ein Chaos brach auch. Den Armen Bürgern wurden ihre Kinder genommen, dies ist ein sehr dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte und soll nun historisch aufgearbeitet werden, was aber immer schwieriger wird, da die Zeitzeugen langsam aussterben, und der Bund sich die Finger nicht verbrennen möchte an diesem Thema.

Die Kinder wurden von der Armenfürsorge an Pflegefamilien verdingt (dieses Wort gibt es nur in der Schweiz). Das heisst, sie mussten dort als billige Arbeitskraft den Bauern helfen. Dabei wurden sie ausgenutzt, misshandelt, vernachlässigt und sexuell Missbraucht. Mit anderen Worten es waren Sklaven, sie durften zwar in die Schule, weil es das Gesetz so vorsah, aber sie hatten keinerlei Rechte.

Zitat eines Verdingbubes: „Er sei ungefähr acht- oder neunjährig gewesen. Ein spätherbstlicher Tag. Sie hätten die Pflanzung geräumt und in Mottfeuer angezündet. Sie hätten alles Mögliche verbrannt, auch einen alten Veloschlauch. Der Gummi habe gebrutzelt und lichterloh gebrannt. Da nimmt der Sohn des Bauern die Gabel und steckt den Gummi daran, zieht ihn aus dem Feuer und schlägt ihn mir um die nackten Beine, der Gummi ist an meiner Haut kleben geblieben.“

Insgesamt sind Hunderttausende von Kindern in der Schweiz bis in die sechziger und siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts verdingt worden. Genaue Zahlen sind noch nicht vorhanden.

Jacqueline Fehr, Nationalrätin von Zürich hat im Bundesrat eine Motion eingereicht um endlich dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte aufzuarbeiten.

Der Bundesrat beantragt, diese Motion abzulehnen. Hier geht es zum Motionstext:

http://www.parlament.ch/afs/data/d/gesch/2004/d_gesch_20043065.htm

Mehr zum Thema:

http://www.google.de/search?q=cache...10096+VERDINGKINDER&hl=de&lr=lang_de&ie=UTF-8


http://www.kleinbauern.ch/Archiv/Ökologo/4_2003/thema4.htm

http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/sfdrs/schweizweit/61158/

http://www.carl-albert-loosli.ch/02/02_01/02_01_02.html

Quelle: NZZ am Sonntag, 25. Juli 2004
 
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Zu diesem Thema gab's vor längerer Zeit schon mal einen recht gut gemachten Film von Jo Bayer mit dem Titel "Schwabenkinder".
Hier der Link zu Tante Wiki: http://de.wikipedia.org/wiki/Schwabenkinder_(Film)
Dort geht es zwar nicht um verkaufte Kinder aus der Schweiz, sondern aus Tirol, aber die Thematik ist genau dieselbe.
Dieser Film hat übrigens einige Preise und Auszeichnungen eingefahren.

Nachtrag: Ups, hab gar nicht auf das Datum des Erstbeitrages geachtet. *rotwerd*
 
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Kino Tipp

Seit November 2011 läuft in den Schweizer Kinos der Film "Verdingbub".
Der Regisseur Markus Imboden erzählt eine Geschichte eines Verdingbuben.

VERDINGBUB - der Film. Ab 3. November 2011 im Kino

Dazu gibt es in Zürich auch eine Ausstellung mit dem Titel: Verdingkinder Reden:

«VERDINGKINDER REDEN» kommt nach Zürich


Vielleicht kommt ja dieser Film in einer Synchronfassung in die deutschen und österreichischen Kinos. Oder sicher dann mal auf 3 SAT.
 
Als Norddeutscher nie drüber nachgedacht ......
Vor rund 30 Jahren gabs mal nen Fernsehfilm, in dem in Spielfilmform so etwas ähnliches über Bauernkinder aus Tirol erzählt wurde, die nach Schwaben gingen.

Starker Tobak für Mitteleuropa des 20.Jahrhunderts
 
Dazu zwei Buchempfehlungen:

http://www.geschichtsforum.de/f203/gestohlene-seelen-verdingkinder-der-schweiz-40776/

http://www.geschichtsforum.de/f203/versorgt-und-vergessen-ehemalige-verdingkinder-erz-hlen-40775/

Und auf der Seite Aktionsgemeinschaft Verdingkinder findet man eine ausführliche Bibliographie zu Verdingkinder, Kostkinder, Güterkinder, Schwabengänger und
Kaminfegerkinder der Schweiz. Wissenschaftliche Untersuchungen (Sekundärliteratur zu den ThemenPflegekinder-, Armen- und u. Fürsorgewesen, Armut, Kinderarbeit, oral history, Sozialgeschichte, Schulwesen, inkl. unveröffentlichte Lizentiats-, Seminar- und Diplomarbeiten)

Aktionsgemeinschaft Verdingkinder.ch - Litaratur und Presse
 
Ich kann da garnicht drüber fertig werden. Meine eigene Landesregierungen kümmerten sich um Vogelfang und Boatpeople,-zu recht-, muß von diesen Mißständen gewußt haben und keiner hat was getan. Ich auch nicht
 
Ich kann da garnicht drüber fertig werden. Meine eigene Landesregierungen kümmerten sich um Vogelfang und Boatpeople,-zu recht-, muß von diesen Mißständen gewußt haben und keiner hat was getan. Ich auch nicht

Es ist ein dunkles Kapitel in der Geschichte. Deshalb ist es wichtig, das es aufgearbeitet und darüber gesprochen wird.
 
Was mir nicht ganz klar ist: wurden die Kinder den Familien von Behörden weggenommen, aus Gründen der Armut und des Hungers? Oder ist das eine Vielzahl von gemischten Fällen?
 
Was mir nicht ganz klar ist: wurden die Kinder den Familien von Behörden weggenommen, aus Gründen der Armut und des Hungers? Oder ist das eine Vielzahl von gemischten Fällen?

Das war ganz unterschiedlich. Zum Teil wurden sie den Eltern weggenommen, weil diese zu Arm waren. Meistens waren es Waisen- oder Scheidungskinder die verdingt wurden.

Dann gab es noch die Kinder Jenischen. Diese wurden von den Behörden den Eltern weggenommen.

Hier der Link zum Artikel im historischen Lexikon der Schweiz:

Verdingung

Hier noch ein Buchtipp:

Dora Stettler
Im Stillen klagte ich die Welt an
Als «Pflegekind» im Emmental
Limmat Verlag Zürich. 2004

Aus dem Inhalt:

Vom Leben der Verdingkinder

Im Sommer 1934 werden zwei Mädchen aus der Stadt Bern auf einen abgelegenen Bauernhof in Pflege gegeben. Die Mutter will nach der Scheidung wieder heiraten, dabei stören die Kinder. Auf dem Hof herrscht ein harsches Regiment, die beiden werden als Gratismägde ausgenutzt, sie müssen neben der Schule hart arbeiten, erhalten wenig zu essen und werden wegen Kleinigkeiten verprügelt. Und nicht genug: Sie werden verhöhnt, und der Bauer erweist sich als Lüstling.

Dann kommen die Missstände aus, die Kinder werden umplatziert. Aber sie kommen vom Regen in die Traufe: Wieder verrichten sie harte Arbeit, dabei werden sie von einer launischen «Mutter » gequält. Als nach vier Jahren ihr Vater sie endlich zu sich holen kann, sind die Elf- und Zwölfjährige für ihr Leben geprägt: vom Gefühl, nichts wert zu sein.

Dora Stettler erzählt mit feinem Gespür für die wichtigen Details von all den kleinen und grossen Grausamkeiten ihrer vier Jahre als «Angenommene», die sie bis heute beschäftigen.
 
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Gab es denn keine Diskussion darüber, diese Kinder in der Schweiz irgendwie zu versorgen?

In dem Zusammenhang habe ich mal von mehreren größten Hungersnöten in der Schweiz Ende des 19. Jhdt. gelesen. Von dieser Wirtschaftsgeschichte der Schweiz weiß ich jedoch nur wenig, so gut wie nichts.

Wäre mal ein eigenes Thema wert.
 
Gab es denn keine Diskussion darüber, diese Kinder in der Schweiz irgendwie zu versorgen?

Nein diese Diskussion gab es meines Wissens nach nicht. Über das Schicksal der Kinder wurde erst in den letzten Jahren gesprochen. Mein erster Beitrag stammt ja aus dem Jahr 2004, das ist in etwa die Zeit wo man öffentlich darüber sprach.

n dem Zusammenhang habe ich mal von mehreren größten Hungersnöten in der Schweiz Ende des 19. Jhdt. gelesen. Von dieser Wirtschaftsgeschichte der Schweiz weiß ich jedoch nur wenig, so gut wie nichts.

Wäre mal ein eigenes Thema wert.

Diese Hungersnot betraf nicht nur die Schweiz. Auch Deutschland und Irland war davon betroffen. Das hängt ja dann zusammen mit der Auswanderungswelle nicht Übersee.

Im 19. Jahrhundert gab es eine Massenarmut in der Schweiz, betroffen waren vor allem die ländlichen Unterschichten. Das waren ca. 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Diese Massenarmut hatte zur Folge, dass eine intensive Debatte über Ursache und Bekämpfung der Armut begann. In den Kantonen schwankte man zwischen repressiven Massnahmen - z.B.
Einsperren in Armenhäusern oder Bettelverboten - und den Versuchen einer rationelleren Ausgestaltung traditioneller Unterstützung wie zum Beispiel des Heimatgemeindeprinzips. Bei diesem Prinzip war die Heimatgemeinde für seine Armen zuständig und sie mussten diese unterstützen. In einigen Kantonen und Gemeinden versuchte man durch Förderung der Auswanderungen, die Armut zu bekämpfen.

Quelle: Eine Arbeit von mir über die Auswanderung nach Brasilien. Und hier im Forum:
http://www.geschichtsforum.de/381812-post3.html
 
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Nein diese Diskussion gab es meines Wissens nach nicht. Über das Schicksal der Kinder wurde erst in den letzten Jahren gesprochen. Mein erster Beitrag stammt ja aus dem Jahr 2004, das ist in etwa die Zeit wo man öffentlich darüber sprach.



Diese Hungersnot betraf nicht nur die Schweiz. Auch Deutschland und Irland war davon betroffen. Das hängt ja dann zusammen mit der Auswanderungswelle nicht Übersee.

Im 19. Jahrhundert gab es eine Massenarmut in der Schweiz, betroffen waren vor allem die ländlichen Unterschichten. Das waren ca. 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung. Diese Massenarmut hatte zur Folge, dass eine intensive Debatte über Ursache und Bekämpfung der Armut begann. In den Kantonen schwankte man zwischen repressiven Massnahmen - z.B.
Einsperren in Armenhäusern oder Bettelverboten - und den Versuchen einer rationelleren Ausgestaltung traditioneller Unterstützung wie zum Beispiel des Heimatgemeindeprinzips. Bei diesem Prinzip war die Heimatgemeinde für seine Armen zuständig und sie mussten diese unterstützen. In einigen Kantonen und Gemeinden versuchte man durch Förderung der Auswanderungen, die Armut zu bekämpfen.

Quelle: Eine Arbeit von mir über die Auswanderung nach Brasilien. Und hier im Forum:
http://www.geschichtsforum.de/381812-post3.html


Es gab bereits in den 1820er Jahren In Deutschland und anderen Territorien Hungerkatastrophen, die in ihrem Ausmaß kaum geringer waren, als die Katastrophe, die Ende der 1840er Jahre in Irland ausbrach und die als "The Great famine" in die Geschichte einging. Hier wie dort war eine Kartoffelfäule die Ursache. Während des Pauperismus zogen es viele Gemeinden vor, Verarmten einmalig die Überfahrt nach Amerika zu bezahlen,als sie jahrelang unterstützen zu müssen.
 
Was mich eigentlich am meisten fertig macht... wie kann es sein, dass sowas noch bis in die 1950er Jahre passierte?

Man könnte doch eigentlich davon ausgehen, dass direkt nach dem zweiten Weltkrieg in Europa allgemein soziale Netze einen Aufschwung erlebten.

Aber da scheint die Schweiz eine Ausnahme zu sein, ich frage mich nur, warum eigentlich - so als direkter Nachbar wäre es doch naheliegend gewesen sowas fürs eigene Sozialwesen zu übernehmen?
 
Was mich eigentlich am meisten fertig macht... wie kann es sein, dass sowas noch bis in die 1950er Jahre passierte?

Man könnte doch eigentlich davon ausgehen, dass direkt nach dem zweiten Weltkrieg in Europa allgemein soziale Netze einen Aufschwung erlebten.

Aber da scheint die Schweiz eine Ausnahme zu sein, ich frage mich nur, warum eigentlich - so als direkter Nachbar wäre es doch naheliegend gewesen sowas fürs eigene Sozialwesen zu übernehmen?

Dazu kann ich dir dieses Buch empfehlen:

Der Armut auf den Leib rücken
Die Professionalisierung der Sozialen Arbeit in der Schweiz (1900–1960)


Armut und Fürsorge in Basel

Armutspolitik vom 13. Jahrhundert bis heute


http://www.chronos-verlag.ch/php/bo...15-52-3&type=Kurztext&access=Neuerscheinungen
 
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Gab es denn keine Diskussion darüber, diese Kinder in der Schweiz irgendwie zu versorgen?

In dem Zusammenhang habe ich mal von mehreren größten Hungersnöten in der Schweiz Ende des 19. Jhdt. gelesen. Von dieser Wirtschaftsgeschichte der Schweiz weiß ich jedoch nur wenig, so gut wie nichts.

Wäre mal ein eigenes Thema wert.

In der Schweiz lassen sich folgende Jahre für Hungernöte schriftlich belegen: 1438, 1530, 1571-74, 1635-36, 1690-94, 1770-71 und 1816-17.

Das ist noch unvollständig, weil es noch keine systematische Aufarbeitung der Hungersnöte in der Schweiz gibt.
 
Was mich eigentlich am meisten fertig macht... wie kann es sein, dass sowas noch bis in die 1950er Jahre passierte?

Man könnte doch eigentlich davon ausgehen, dass direkt nach dem zweiten Weltkrieg in Europa allgemein soziale Netze einen Aufschwung erlebten.

Aber da scheint die Schweiz eine Ausnahme zu sein, ich frage mich nur, warum eigentlich - so als direkter Nachbar wäre es doch naheliegend gewesen sowas fürs eigene Sozialwesen zu übernehmen?

ein soziales Netz für Kinder, die "nicht dazu gehörten", fehlte auch in anderen Ländern. Beispiel: in Norwegen die Kinder von Norwegerinnen und deutschen Besatzern.

"1998 (!) lehnte eine Mehrheit des norwegischen Parlaments die Einsetzung einer Untersuchungskommission als „unnötig“ ab. Zwar wurden 1996 Opfer von Lobotomieversuchen entschädigt und 1999 von Norwegen enteignetes jüdisches Eigentum ersetzt, doch eine Entschädigung der „Deutschenkinder“ wurde abgelehnt."

Quelle: Tyskerbarn ? Wikipedia
 
ein soziales Netz für Kinder, die "nicht dazu gehörten", fehlte auch in anderen Ländern. Beispiel: in Norwegen die Kinder von Norwegerinnen und deutschen Besatzern.

"1998 (!) lehnte eine Mehrheit des norwegischen Parlaments die Einsetzung einer Untersuchungskommission als „unnötig“ ab. Zwar wurden 1996 Opfer von Lobotomieversuchen entschädigt und 1999 von Norwegen enteignetes jüdisches Eigentum ersetzt, doch eine Entschädigung der „Deutschenkinder“ wurde abgelehnt."

Quelle: Tyskerbarn ? Wikipedia

Naja, da ist der Fall ja doch ein wenig anders gelagert - die Verdingkinder stammten ja aus ganz klaren Verhältnissen, waren also Schweizer und nicht die Kinder von Besatzern (was Letztere jetzt nicht herabsetzen soll, mir gehts lediglich um die Erklärung) - und wurden nur der Armut wegen weggegeben, wie ich das verstanden habe.

Die von dir erwähnten Tyskerbarn wurden ja nichteinmal als "norwegische" Kinder anerkannt, während die Verdingkinder ja offensichtlich auch als Landsleute galten - und für die Einwohner des eigenen Landes waren ja soziale Netze eigentlich mit Ende des Krieges groß im Kommen. Wo da dann die Grenze gezogen wurde, wer als Staatsangehöriger galt und wer nicht, stelle ich da jetzt einmal hintenan, weil es ja hier hauptsächlich um die Verdingkinder aus der Schweiz geht.

Dennoch sind auch die sog. Tyskerbarn und ihre Situation einen eigenen Thread wert.
 
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