Psychopathographie als Grenzen historischer Wissenschaft?
In diesem Thread wurden verschiedene Themen angesprochen, die nicht unbedingt auf der gleichen Ebene zu verhandeln sind:
Zum einen wurde schon angesprochen, daß die Narzißmusproblematik eher ins disziplinäre Feld der Psychoanalyse falle, deren Geltungsbereich insofern im politischen ihre Grenze findet, als in Frage stehende "charismatische" Persönlichkeiten in der Regel sich keiner Analyse unterziehen würde. Thanepower, der dieses Argument bereits früh einbrachte (
http://www.geschichtsforum.de/692281-post7.html) trennte dieses Problem von der Herrschaftsinszenierung, und so will ich es folglich halten, wenn ich im folgenden, wie schwierig auch immer, Adolf Hitler beispielhaft diskutieren möchte.
Hinsichtlich der hier auch geführten Debatte über die Frage, ob ihm beispielsweise eine narzißtische Persönlichkeitsstörung zuzuschreibbar wäre, will ich gleich klarstellen: Was hier im Anschluß an den offiziellen psychiatrischen Diagnosen seit Beginn der 1980er Jahre als grundlegend narzißtisches Störungsbild skizziert wird, ist zwar aus psychoanalytischen Diskursen hervorgegangen, bleibt aber - unter Berücksichtigung einer gewissen Psychodynamik - rein deskriptiv. Der Ansatz, der hinsichtlich der Narzißmusproblematik in der Analytischen Sozialpsychologie, der im Zusammenhang psychoanalytischen Narzißmusdiskussion der 1970er Jahren entstanden war (ich meine Thomas Ziehes
Pubertät & Narzißmus), trug dieselben Schwächen, wie die damals entstehende Selbstpsychologie: man suchte die Ursachen des Störungsbildes - nun als Neuen Sozialisationstypus - in der mangelnden mütterlichen Fürsorge. Aber das sei nur nebenbei bemerkt. Ich will nun zu Adolf Hitler kommen:
Aus einem narzißmustheoretischen Kontext heraus schrieb Alice Miller beispielsweise von "seine[n] ungelebten, in der Grandiosität abgewehrten Schmerzen" (1980, S.189) Arno Gruen, den Klaus hier mit ins eingebracht hatte (
http://www.geschichtsforum.de/692289-post12.html), kritisierte sie dafür, daß sie Adolf Hitler als leidenden Menschen konstruierte und wollte in ihm den Prototypen des Psychopathen sehen, eines Krankheitsbildes, das übrigens wohl in der früheren Version des psychiatriediagagnostischen Manuals (DSM-II) aufgenommen wurde. Nichts desto weniger trifft sich Gruen mit Miller in seinen Werken in der Zurückführung der Psychpathologie auf die Abspaltung der Emotionen via Identifikation mit dem Aggressor, der im Falle Hitlers vor allem sein tyrannisierender Vater war.
Freilich bleibt hier der Einwand, den bald Silesia vorbrachte (
http://www.geschichtsforum.de/693284-post71.html): der Mangel klinischer Erfahrung mit dem fraglichen Subjekt.
Tatsächlich bietet der Link zur Zusammenstellung der Pathographie Adolf Hitler aufschlußreiche Informationen und letztendlich war es der dortige Hinweis auf die Hitlerbiographie von Rudolf Olden (1935), den Alice Miller u. a. auch zitiert, der mich bspw. bei ihr dann doch auch nachlesen ließ. Der im Link aufgeführte Georg Victor, der über Hitler Ende der 1990er Jahre eine Biographie verfaßt, könnte sich übrigens auf einige Überlegungen Millers zum Antisemitismus gestützt haben, während Arno Gruen übrigens seine Position mit Sicherheit auf den dort aufgeführten Gustav Bychowski, der in den 1940er Jahren u. a. auch eine Pathographie Hitlers erstellte, abstützen konnte (ohne dies explizit zu vermerken).
Persönlich interessant fand ich die fast legendäre Überlieferung einer hysterischen Konversionsstörung* (Erblindung) im vorpommerschen Lazarett Pasewalk nach dem zweiten WK I, wobei diese psychogene Erkrankung bemerkenswerter Weise von Hitler (
Mein Kampf) selbst überliefert wurde - ich finde diesen Hinweis insofern auch instruktiv, als sich ausgehend von der autobiographischen Beschreibung ggf. die von Jan Armbruster als Schwäche der Psychopathographieforschung fokussierte Hysteriediagnose direkt abschwächen läßt.
Komme ich nun zu der ebenfalls in den 1940er Jahren im Dienst des us-amerikanischen Nachrichtendienstes entstandenen Diagnose Hitlers als „ein Hysteriker am Rande der Schizophrenie“ (Walter C. Langer). Auf den ersten Blick erscheint das merkwürdig: Hysterie (Neurose) -> Schizophrenie (Psychose) - aber es ist nichts anderes als die ambulatorische Schizophrenie Zilboorgs oder das, was später als eine der narzißtischen Problematik nahe verwandten Kategorie konzipiert wurde: das Borderlinesyndrom* - Zeitnah wäre allerdings auch noch die Bezeichnung einer schizotypischen Störung.
Mag Sigmund Freud beispielsweise diese Bezeichnung seinerzeit noch unbekannt gewesen sein, wäre er doch laut Charles Singer davon "überzeugt" gewesen, "daß Hitler im medizinischen Sinne geisteskrank ist. Er sagt jedoch, daß dieser Typ des Wahnsinns unglücklicherweise vermutlich nicht bald zum Stadium der Verwirrtheit führen wird." (zit. nach Gilman in der dt. Übers. 1994)
In einem solchen Beurteilung dürfte dann vor allem noch das psychopathographischen Profile interessant sein, das ebenfalls noch vor Ende des WK II verfaßt wurde: Henry Murray prognostizierte beim Zusammenbruch seines Wahnsystems einen Selbstmord Hitlers, der bekanntlich auch als eine unbezweifelte historische Tatsache verwirklicht wurde. Murray bezog sich u. a. wohl auch auf Hermann Rauschnig, der von "Zuständen, die an Verfolgungswahnsinn und Persönlichkeitsspaltung nahe heranreichen" (zit. nach Miller, 1980, S.204) berichtete.
*
Die im Wikipedia-Link aufgeführten Informationen hinsichtlich der modernen Bez. für die hysterische und auch borderline Störung sind m. E. irreführend: die komplexe Posttraumatische Belastungsstörung wird eher nur von Traumatheoretikern, die freilich durchaus das Borderline-Syndrom darunter subsumiert wünschen, favorisiert, hat sich aber im DSM-V bisher noch nicht durchgesetzt, wenn auch die PTBS seit 2013 zu den Persönlichkeitsstörungen zählt; nach wie vor wird eine davon differentialdiagnostisch unterschiedene Borderline- und narzißtische (ebenso wie schizotypische) Persönlichkeitsstörung abgegrenzt. Die Angabe einer histrionischen oder dissoziativen Persönlichkeitsstörung als Bez. einer heutigen Diagnose von Konversionsstörungen ist insofern falsch, als in ihnen die Umsetzung einer psychogen verursachten somatischen Störung kein Kriterium darstellt - zumindest, was die DSM-Kriterien betraf, wenn auch ohne ätiologische Annahme, eine Konversionsstörung weiterhin auffführte; im ICD-10 hingegen kann die dissoziative Störung auch Konversionsstörungen aufweisen (vgl. Konversionsstörungen: Diagnose, Klassifikation und Therapie ; mit 22 Tabellen - Marc Kößler, Carl Eduard Scheidt - Google Books)
Die hier nur ansatzweise zusammengestellten Hinweise aus der klinischen Literatur könnten, wenn ich das resümieren darf, durchaus auch im klinischen Sinne eine Psychopathographie sinnvoll ergeben, die allerdings psychohistorisch noch etwas detaillierter argumentieren müßte. Daß es darüber derzeit keinen Konsens gibt, wie kritisch eingewendet wurde, geht über die zugrunde liegenden Fakten aber vermutlich hinaus, insofern zugrunde legbare psychologische oder auch neurobiologische Theorien zum Thema der Psychpathologie auch nach über einem Jahrhundert Psychiatriegeschichte zu sehr divergieren. Schon allein im Hinblick auf die Psychoanalyse lassen sich variationsreich Narzißmustheorien aufführen, die das Hitlersche Wahnsystem, über das es eigentlich gar keinen Zweifel geben sollte, psychologisch aufzuklären versuchen wollten. Ein historischer Zugang müßte darüber hinaus einem Psychologierungsverdacht souverän begegnen können, indem er zugleich die Geschichte der Psychiatrie und deren immanente Aporien reflektiert. Aber ich fürchte, auch darin erübrigt sich die psychohistorische Problematik nicht einmal:
Ich habe oben strategisch die Frage nach der Herrschaftsinszenierung ausgeschlossen. Der Hinweis auf die autobiographische Referenz Adolf Hitlers wirft allerdings implizit diese auf, und zwar in narrativer Hinsicht: Die hysterische Konversionsreaktion steht im Kontext seines Entschlusses, selbst politisch aktiv zu werden. Hier müßte sorgfältig analysiert werden, um widerspruchslos aufzuklären, warum es nicht öffentlich anging, daß die psychgene Erblindung als Krankheitssymptom identifzieren zu lassen: Ein gewisser M. Müller soll in seinen
Erinnerungen überliefert haben, daß Karl Wilmanns im Jahre 1933 seinen Lehrstuhl für Psychiatrie in Heidelberg verlassen mußte, weil er in einem Kolloquium "Hitler als Beispiel für eine 'psychogene Amaurose' [...] genannt habe" (L. Hermle, 1988, S.108)
Lit. (nicht angegebene Verweise bei Wikipedia - siehe Silesias Link)
Alice Miller, Am Anfang war Erziehung (Suhrkamp, 1980); Arno Gruen, Der Verrat am Selbst (dtv, 1986); Gilman (im engl. Original): Freud, Race, and Gender - Sander L. Gilman - Google Books
Müller, Erinnerungen. Erlebte Psychiatriegeschichte 1920-1960. Berlin, 1982
L. Hermle, Karl Wilmanns (1973-1945. Fortschritte der Neurologie - Psychiatrie 56