Europa vor dem 1. Weltkrieg

Kann man, muss man aber nicht.;)

Frankreich und auch Großbritannien waren sich nämlich bereits während der Verhandlungen zur Entente Cordiale, also vor der Krise, darüber vollkommen einig das Deutsche Reich aus der Marokkofrage herauszuhalten. Man wollte die Spanier mit ins Boot holen und das war es auch schon. Bereits in diesen Stadium war die einstehende Entente bemüht, die europäische Großmacht Deutsches Reich schlicht zu ignorieren. Man darf bei dem damaligen Denken hinsichtlich Prestige und Würde einer Großmacht davon ausgehen, das auch eine andere Großmacht wenig amüsiert reagiert hätte. Unstrittig ist das extrem aggressive und vollkommen überzogene Auftreten des Reiches.

Es ging den dem Foreign Office ganz unbedingt darum, den Franzosen ihre Zuverlässigkeit zu beweisen. Nur: Die Entente war 1905 noch kein militärisches Bündnis, ja es gab auch noch keine bindenden Absprachen; die kamen erst im Zuge der Krise und dann inoffiziell und auf britischer Seite schon fast illegal am Kabinett und Parlament vorbei. Die Briten hatten sich zu jener Zeit festgelegt und sind diesen Kurs bis 1914 entschlossen weitergegangen.

Da rennst Du bei mir offene Türen ein. :winke:

Mein Hinweis war darauf bezogen, über die zusätzliche "verfestigende" Wirkung der Flottenrüstung nachzudenken, so eher als strategische Vision konträr zu der Tirpitzschen "Brechstange" gedacht.

Mit dieser Alles-oder-nichts-Flottenrüstung wurde GB in die Arme von Frankreich getrieben, und wie sich Tirpitz den späteren Seitenwechsel unter dem (kausalen) Druck der Flottenrüstung vorstellte, so wie er es als Endziel formuliert hat, wird wohl ewig sein Geheimnis bleiben.
 
Die geostrategischen Positionen für Briten und Deutsche waren sehr unterschiedlich:

Deutschland brauchte die Hochseeflotte nicht für bestimmte "Pflicht"aufgaben, konnte sie also im Zweifelsfall bündeln und gezielt einsetzen. Die Briten mussten einen beträchtlichen Teil für Aufgaben in den verschiedenen Regionen der Welt vorhalten. Dort wären sie aber einem konzentrierten Angriff unterlegen und hätten nur defensiv auf Verstärkung warten können. In diesem Szenario war eine starke Flotte direkt vor der eigenen Haustür sehr lästig.
....

Finde ich einen sehr interessanten Aspekt und es lässt sich vielleicht dieser vertiefen.

Eine Frage die m.E. unter diesem Gesichtspunkt eigentlich wesentlich sein musste, war die Importabhängigkeit bei Agrarprodukten.
Wenn es so war, dass diese für das UK sehr hoch war, dann konnte, unabhängig von vorhandenen Absichten, das DR mit einer großen Flotte den Briten das Messer an die Kehle setzen, ohne sich selbst dieser Misslichkeit ausgesetzt zu sehen.

Selbst bei vergleichbarer Importabhängigkeit, hätte das DR hier die weit günstigere Ausgangslage gehabt.

Ich hab versucht etwas darüber herauszufinden.
Werfen wir einen genaueren Blick auf das weltweite Netz des Agrarhandels anhand
des wichtigsten Handelsguts, des Getreides (Weizen, Roggen, Gerste, Hafer
und Mais, ohne Reis), am Vorabend des Ersten Weltkriegs (Abb. 5).
.........
Auf der einen Seite standen Kolonialmächte, die
ihren Getreideverbrauch zu fast zwei Dritteln über Importe deckten : Großbritannien
und Irland (59 Prozent) sowie Belgien und die Niederlande (62 Prozent) ; auf
der anderen Seite lagen die fast autarken Länder, darunter die kontinentalen Vielvölkerreiche
Österreich-Ungarn (3 Prozent) und das Osmanische Reich (6 Prozent) ;
die übrigen Staaten verzeichneten Importanteile zwischen rund einem Zehntel
(Frankreich : 12 Prozent) und einem Viertel (Dänemark : 28 Prozent). Ein Zusammenhang
zwischen Industrialisierungsgrad und Importabhängigkeit bei Nahrungsmitteln
– der Industriestaat Großbritannien einerseits, der Agrarstaat Österreich-
Ungarn andererseits – drängt sich auf ; doch er wird gebrochen durch Fälle wie das
hochindustrialisierte, aber vergleichsweise importunabhängige Deutsche Reich (16 Prozent)
...
http://www.ruralhistory.at/de/publikationen/rhwp/rhwp-4
(PDF-Seiten 12-14)

Das muss ja, sofern die zitierte Darstellung richtig ist, einen erheblichen Einfluss auf die Haltung des UK gehabt haben.
 
Flottenbauprogramme hin oder her. Welche Rolle spielten, vor allem die starken imperialen Bemühungen der Japaner und der USA in Form der Flottenbauprogramme die nicht durch einen großen Krieg negativ beeinflusst wurden, Verbündete der Briten gegen die flachen Überseekräfte der kaiserlichen deutschen Marine darstellten, gegen das britische Imperium vor 1914?
War das nicht entscheidend gefährlicher, als der kleine deutsche maritime Mopp, aus dem Nassen Dreieck heraus, vor allem mit der taktischen Ausrichtung, nur Angriffsbereit zu sein, wenn die Höhle vor der Tür besetzt wird?

War der Übergriff der Japaner und USA über die wichtigen Kolonien im Pazifik und dem Indischen Ozean nich wesentlich schädlicher, als der Kampf gegen die Uboote der Hochseeflotte um die Inselsn ... War Indien nicht der wirtschaftliche Nabel Großbritanniens?
 
Eine Frage die m.E. unter diesem Gesichtspunkt eigentlich wesentlich sein musste, war die Importabhängigkeit bei Agrarprodukten.
Wenn es so war, dass diese für das UK sehr hoch war, dann konnte, unabhängig von vorhandenen Absichten, das DR mit einer großen Flotte den Briten das Messer an die Kehle setzen, ohne sich selbst dieser Misslichkeit ausgesetzt zu sehen.
Damit würde aber die britische Flottenpolitik in zweierlei Hinsicht verkürzt: Zum auf die Sicherstellung von Handel mit Agrarprodukten und zweitens die Sicherstellung von Lieferung zu den britischen Inseln.

Das greift aber zu kurz. Die Royal Navy hatte noch zusätzliche Aufgaben und eine kriegsentscheidende Gefahr wäre nicht durch deutsche Störungen allein gegeben gewesen. Es hätte schon zu einer kompletten Blockade kommen müssen. Dafür war die deutsche Flotte aber wiederum zu schwach.

Selbst bei vergleichbarer Importabhängigkeit, hätte das DR hier die weit günstigere Ausgangslage gehabt.
Schau Dir die Folgen der Blockade im ersten Weltkrieg an. Ohne die zügige Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zu großindustrieller Reife hätte das Abschneiden vom Chilesalpeter gravierenste Auswirkungen gehabt. Lebensmittellieferungen sind nicht alleine von Bedeutung gewesen.

Das muss ja, sofern die zitierte Darstellung richtig ist, einen erheblichen Einfluss auf die Haltung des UK gehabt haben.
Sicher wird der Punkt beachtet worden sein, aber insgesamt waren die Aufgaben der Royal Navy sehr komplex und Einzelpersonen haben oft mit ihrer Sicht der Dinge Schwerpunkte gesetzt, die aber von anderen als weniger wichtig eingestuft wurden.
 
Damit würde aber die britische Flottenpolitik in zweierlei Hinsicht verkürzt: Zum auf die Sicherstellung von Handel mit Agrarprodukten und zweitens die Sicherstellung von Lieferung zu den britischen Inseln.

Das greift aber zu kurz. Die Royal Navy hatte noch zusätzliche Aufgaben und eine kriegsentscheidende Gefahr wäre nicht durch deutsche Störungen allein gegeben gewesen. Es hätte schon zu einer kompletten Blockade kommen müssen. Dafür war die deutsche Flotte aber wiederum zu schwach.

Schau Dir die Folgen der Blockade im ersten Weltkrieg an. Ohne die zügige Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zu großindustrieller Reife hätte das Abschneiden vom Chilesalpeter gravierenste Auswirkungen gehabt. Lebensmittellieferungen sind nicht alleine von Bedeutung gewesen.

Sicher wird der Punkt beachtet worden sein, aber insgesamt waren die Aufgaben der Royal Navy sehr komplex und Einzelpersonen haben oft mit ihrer Sicht der Dinge Schwerpunkte gesetzt, die aber von anderen als weniger wichtig eingestuft wurden.
(Hervorhebung durch mich)

Danke Solwac,
für diese sehr interessanten Aspekte.

Was das Chilesalpeter angeht, so ist das geeignet meine Vermutung so zu relativieren, wie Du das dargestellt hast.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang,
dass eine mögliche Unterbrechung der Salpeterlieferungen aus Chile nicht nur die Nahrungsmittelproduktion, sondern auch die Produktion von Sprengstoffen als Basis der militärischen Rüstung betraf.
 
Kann man schon, allerdings stellt sich die Frage, ob die internationale Scientific Community der Historiker, die die seriöse Aufbereitung und Interpretation der Quellen überprüft, sich auch den Schlussfolgerungen anschließt.

Und: Trotz der Möglichkeit der variierenden Interpretation und auch der widersprechenden Sichtweisen ist es nicht ganz so beliebig, wie hier angedeutet. Und es gibt immer wieder Beispiele, das sich historische Interpretationen aufgrund einer neuen Quellenlage wandeln.



Gute Idee! Was sind denn die zentralen Thesen von ihm und wo ergeben sich Abweichungen zu anderen Darstellungen????



Und was hat der polnische Historiker denn alles anders gesehen?

Extrem verkürzt: Clark bewertet die Beiträge der Staaten zum Ausbruch des Weltkrieges ab ca. 1887. Er sieht eine größere Verantwortlichkeit bei Großbritannien als gemeinhin üblich. Die deutsche Flottenrüstung relativiert er. Alle Mächte haben zum konkreten Kriegsausbruch beigetragen, wobei die am "meisten Schuldigen" für ihn wohl Frankreich und Russland sind. Wobei es eigentlich nicht um Schuld geht, sondern um das komplizierte Geflecht der Interessen, ist ja klar. Er sieht den Krieg nicht als zwangsläufig an, sondern bei geschickterem Agieren aller Beteiligten als verhinderbar. Vor allem dem widerspricht der polnische Historiker, er hält den großen Knall für unvermeidbar.

Allgemein: die internationale Scientific Community ist in den Geistes-und Sozialwissenschaften ebenso Wandlungen unterworfen wie Einzelpersonen, bloß in abgemilderter Form. Wissenschaft ist im Übrigen nur teilweise Mehrheitsentscheidung.
 
Zuletzt bearbeitet:
Extrem verkürzt: Clark bewertet die Beiträge der Staaten zum Ausbruch des Weltkrieges ab ca. 1887. Er sieht eine größere Verantwortlichkeit bei Großbritannien als gemeinhin üblich. Die deutsche Flottenrüstung relativiert er. Alle Mächte haben zum konkreten Kriegsausbruch beigetragen, wobei die am "meisten Schuldigen" für ihn wohl Frankreich und Russland sind. Wobei es eigentlich nicht um Schuld geht, sondern um das komplizierte Geflecht der Interessen, ist ja klar. Er sieht den Krieg nicht als zwangsläufig an, sondern bei geschickterem Agieren aller Beteiligten als verhinderbar.

So unterschiedlich sind die Wahrnehmungen.

Einem kann man sicher zustimmen: Clark bewertet. Das macht er, nachdem er sich zwischen dem Buchtitel "Schlafwandler" und dem Schlusswort "Schlafwandler" durch die Jahre bewegt bzw. plaudert (etwas despektierlich ist das sicher formuliert, aber es trifft den Kern seines Anliegens: das Buch bringt nirgends neue Erkenntnisse zur Forschung, sondern bemüht sich, Bekanntes zu zitieren).

An den vermeintlich "Meistschuldigen" liegt ihm nichts, getreu dem Titel und seinem Resümee eines komplexen, interaktiven und multikausalen (diese Begriffe benutzt Clark) Ansatzes zur Beschreibung des Kriegsausbruchs, und insofern würde ich solchen Zusammenfassungen auch widersprechen. Dabei zitiert er zwar Kennedy, seine Schlussfolgerung daraus aber bleibt verwaschen, zT widersprüchlich wie in der Flottenfrage und ein Untersuchungsmodell ist seine Zusammenfassung einiger Literatur zum Thema nun auch nicht. Dazu gibt es zu viele Auslassungen von Detailstudien. Das oben etwas despektierliche "Plaudern" wird hier wieder deutlich (mehr ist auch zu den einzelnen Forschungsständen in Detailfragen wegen des begrenzten Buchumfanges für die komplexen Abläufe in den fast frei Jahrzehnten gar nicht möglich).

Da er gerade keine Schuldanteile misst, habe ich auch keine Wertung von "Meistschuldigen" gefunden ("Meistschuldige" mit "Meistinteressierte" oder so ähnlich sozusagen zu übersetzen, halte ich für wenig ergiebig). Die Rolle Großbritanniens wird grob, aber nach meinen Eindruck nicht anders dargestellt als es wohl dem internationalen Forschungsstand und in Einzelfragen den Detailstudien entspricht, von denen etliche zwar im Literaturverzeichnis bei Clark aufgeführt sind, deren Schlüsse er aber im "Plaudern" durch die Jahrzehnte kaum verwertet.

Dass der Krieg verhinderbar gewesen wäre, kann ich so als Schlussfolgerung gerade nicht entdecken, es sei denn, Clarks "Schlafwandler" würden auf einem Wunschzettel gegen andere Akteure ausgetauscht. Eher würde ich seine Tendenz betonen, dass mit den gegebenen Akteuren den hektischen Interaktionen und Kausalketten gewissermaßen Zwangsläufigkeit zukam, sozusagen das Ergebnis der Schlafwandeleien. Das wird auch in seinen Vergleichen zum Kalten Krieg und zur Eurokrise deutlich, ob man solche Vergleiche nun für sinnvoll hält oder nicht.

Interessant dabei ist: 2 Leser, unterschiedliche Eindrücke.:winke:

Wer sich nicht durch die maßgebliche Literatur zum Kriegsausbruch 1914 von mindestens etlichen Hundert Büchern quälen will, der ist mit Clark bestens bedient. Und eine von ihm anfangs kritisierte Beeinflussung der eigenen Wertung durch das Ziel der Schuldzuweisung ist nicht zu befürchten: gerade solche Beeinflussung unterlässt er konsequent, wie eben angekündigt. Da kann man auch über manche Auslassung locker hinwegsehen.
Insofern: ein gelungenes Werk!
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich kann mich deinen Aussagen schon anschließen. Ich bewerte aufgrund von Clarks Informationen, was er bewertet, also ist es meine Wertung und sicher keine besonders fundierte.

Die Frage der Verhinderbarkeit des Krieges kommt weniger aus dem Buch, sondern aus dem Interview in "Die Zeit", wo er sich dementsprechend äußert.

Für jemanden wie mich, der sich im Wesentlichen für Militärgeschichte vor 1500 interessiert und sonst wenig Ahnung hat, ist das Buch von Clark jedenfalls eine nette Zusammenfassung. :)

Bei der Gelegenheit, gibt es eine kompakte Darstellung, in der die Rüstungsausgaben aller Mächte ab ca. 1870 genau miteinander und in Bezug auf das jeweilige Sozialprodukt verglichen werden?
 
Bei der Gelegenheit, gibt es eine kompakte Darstellung, in der die Rüstungsausgaben aller Mächte ab ca. 1870 genau miteinander und in Bezug auf das jeweilige Sozialprodukt verglichen werden?

Clark verwendet solche Werte auch an verschiedenen Stellen, ua. auch für Vergleiche.

Siehe hier:
Castillo/Lowell/Tellis/Munoz/Zycher: Military Expenditures and Economic Growth, 2001
http://www.dtic.mil/get-tr-doc/pdf?AD=ADA390521

und als Quelle die dort angegebene Literatur bzw.:
National Material Capabilities Data, 1816-1985

Daneben gibt es länderbezogen Detailstudien für die Großmächte, allerdings nur für Zeitausschnitte, etwa 1900/1914 zu Russland oder 1902/13 für Großbritannien etc.
 
So unterschiedlich sind die Wahrnehmungen.

Einem kann man sicher zustimmen: Clark bewertet. Das macht er, nachdem er sich zwischen dem Buchtitel "Schlafwandler" und dem Schlusswort "Schlafwandler" durch die Jahre bewegt bzw. plaudert (etwas despektierlich ist das sicher formuliert, aber es trifft den Kern seines Anliegens: das Buch bringt nirgends neue Erkenntnisse zur Forschung, sondern bemüht sich, Bekanntes zu zitieren).

An den vermeintlich "Meistschuldigen" liegt ihm nichts, getreu dem Titel und seinem Resümee eines komplexen, interaktiven und multikausalen (diese Begriffe benutzt Clark) Ansatzes zur Beschreibung des Kriegsausbruchs, und insofern würde ich solchen Zusammenfassungen auch widersprechen. Dabei zitiert er zwar Kennedy, seine Schlussfolgerung daraus aber bleibt verwaschen, zT widersprüchlich wie in der Flottenfrage und ein Untersuchungsmodell ist seine Zusammenfassung einiger Literatur zum Thema nun auch nicht. Dazu gibt es zu viele Auslassungen von Detailstudien. Das oben etwas despektierliche "Plaudern" wird hier wieder deutlich (mehr ist auch zu den einzelnen Forschungsständen in Detailfragen wegen des begrenzten Buchumfanges für die komplexen Abläufe in den fast frei Jahrzehnten gar nicht möglich).

Da er gerade keine Schuldanteile misst, habe ich auch keine Wertung von "Meistschuldigen" gefunden ("Meistschuldige" mit "Meistinteressierte" oder so ähnlich sozusagen zu übersetzen, halte ich für wenig ergiebig). Die Rolle Großbritanniens wird grob, aber nach meinen Eindruck nicht anders dargestellt als es wohl dem internationalen Forschungsstand und in Einzelfragen den Detailstudien entspricht, von denen etliche zwar im Literaturverzeichnis bei Clark aufgeführt sind, deren Schlüsse er aber im "Plaudern" durch die Jahrzehnte kaum verwertet.

Dass der Krieg verhinderbar gewesen wäre, kann ich so als Schlussfolgerung gerade nicht entdecken, es sei denn, Clarks "Schlafwandler" würden auf einem Wunschzettel gegen andere Akteure ausgetauscht. Eher würde ich seine Tendenz betonen, dass mit den gegebenen Akteuren den hektischen Interaktionen und Kausalketten gewissermaßen Zwangsläufigkeit zukam, sozusagen das Ergebnis der Schlafwandeleien. Das wird auch in seinen Vergleichen zum Kalten Krieg und zur Eurokrise deutlich, ob man solche Vergleiche nun für sinnvoll hält oder nicht.

Interessant dabei ist: 2 Leser, unterschiedliche Eindrücke.:winke:

Wer sich nicht durch die maßgebliche Literatur zum Kriegsausbruch 1914 von mindestens etlichen Hundert Büchern quälen will, der ist mit Clark bestens bedient. Und eine von ihm anfangs kritisierte Beeinflussung der eigenen Wertung durch das Ziel der Schuldzuweisung ist nicht zu befürchten: gerade solche Beeinflussung unterlässt er konsequent, wie eben angekündigt. Da kann man auch über manche Auslassung locker hinwegsehen.
Insofern: ein gelungenes Werk!

Ich habe gerade einmal die ersten drei Kapitel gelesen, aber eines macht Clark in seinen etwas sehr lockeren Schreibstil doch sehr deutlich, nämlich das Großbritannien einfach nicht willens war, dem Deutschen Reich als europäische Großmacht die gleichen Ansprüche und Rechte in Sachen Kolonial,- Flotten- oder im internationaler Machtpoker einzuräumen, die man für sich selbst selbstverständlich geltend machte und auch anderen, beispielsweise den USA, einräumte. Die britischen Interessen waren grundsätzlich vital, die Deutschen Störenfriede und aggressiv.
 
Österreich-Ungarn war immer bemüht aus dem defensiven Zweibund ein Offensivbündnis zu machen und hatte 1908 im Zuge der schweren Krisen von 1908, den Bau der Sandschakbahn und der anschließenden Annektionskrise um Bosnien und der Herzegowina, letztendlich damit auch Erfolg. Damit war die Bildung von zwei Blöcken in Europa abgeschlossen.


Hier möchte ich noch ein paar Nachträge machen. Ein Schlüsselereignis zur Blockbildung und zur Frontstellung Österreich-Ungarns vs. Russlands war die Krise um den beabsichtigen Bau der Sandschakbahn durch den Sandschak Novi Pazar. Das betreffende gebiet lag zwischen Serbien und Montenegro. Rechtsgrundlage für das österreichische Vorhaben war der Artikel 25 des Berliner Kongresses von 1878. Ob daraus der Bau der Eisenbahnlinie abgeleitet werden kann, möchte ich nicht zu beurteilen. Der Außenminister der Monarchie suchte bei den Deutschen um Unterstützung nach. Die sagten zu, aber mit der Einschränckung, nur dann Hilfestellung zu gewähren, wenn der osmanische Sultan Abdul Hamid das Vorhaben unterstützen würde. Es gelang auch dessen Unterstützung nach Vorlagen der Vorstudien zu erhalten.

Am 27.01.1908 hob Aehrenthal vor der ungarische Delegation die wirtschaftliche Bedeutung der Bahnlinie hervor. Das war auch das erste Mal, das dieser Plan öffentlich vorgestellt wurde. Nach aehrenthals eigenen Worten wäre auf diese Weise eine direkte Verbindung Wien-Budapest-Sarajewo-Athen-piräus gegeben. Das wäre im übrigen auf dem Festland auch die kürzeste Route nach Ägypten und Indien.

Die internationale Aufnahme war ungünstig. Der französische Außenminister Pichon hatte zunächst keine Probleme, wurde aber von Iswolsky eines besseren belehrt. Aber es kriselte ein wenig zwischen den Partnern. In Petersburg sah man die angeblich zu nachsichtige Haltung Frankreichs gegenüber russischen Flüchtlingen nicht gern. Und Iswolsky
hat sich auch aktiv um die Abberufung des französischen Botschafters Bompard, am Ende erfolgreich, bemüht. Aus Sicht Iswolsky sah Bompard die russische Innenpolitik zu kritisch, die er auch offen formulierte.

Jedenfalls waren die Russen schlicht wütend und empört. Iswolsky traute den Österreichern nicht, das die Bahn rein wirtschaftlichen Interessen dienen sollte. Die Briten waren hocherfreut über die Verärgerung der Russen; so sahen sie entspannt dem Ende des Mürzsteger Abkommen bzw. der österreichisch-ungarischen russischen Entente auf dem Balkan entgegen. Der britische Botschafter Nicolson konstatierte, "wenn auf dem Balkan ein Kampf zwischen Österreich und Russland beginnt, wird uns Russland nachweislich in Asien keine Schwierigkeiten machen. (1)

Am 03.02.1908 wurde die russische Außenpolitik auf der Kabinettssitzung heftig kritisiert, insbesondere die gemäßigte Politik Lamsdorfs; des Vorgängers von Iswolsky. Iswolsky nutzte diese Lage und warb für sein außenpolitisches Grundsatzprogramm: Weg von Wien, hin zu London und Paris.

Am 4.Februar wurde das Irade veröffentlich, welches die Billigung des Baus der Sandschakbahn zum Gegenstand hatte. Die Botschafterkonferenz in Konstantinopel lehnte es unter Einfluss des deutschen Botschafters Marschalls ab, den Sultan ein Reformplan für eine Justizreform in Mazedonien zu übergeben. Dazu muss gesagt werden, das Briten und Russen viel daran lag und das ursprünglich Österreich-Ungarn in vorderster Frontdafür gekämpft hat. Die Sandschakbahn war aber wichtiger für Wien. Dem Ballhausplatz wurde, und das entspricht nicht der Wahrheit, von Petersburg und London unterstellt im Interesse der Eisenbahnprojekts die Justizreform zu sabotieren. London sah den wahren "Schuldigen", wieder einmal, in Berlin, da Wien nur als Satellit Deutschlands galt. Petersburg sah ebenfalls Berlin im Hintergrund entscheidenen Einfluss ausüben. In Russland wurde regelrecht eine Pressefehde gegen das Deutsch Reich geführt. Ähnlich in Frankreich und Großbritannien. In Italien begegnete man den österreichischen Aspirationen verständnisvoll; Aehrenthal hatte im Vorfeld die Italiener auch konsultiert gehabt.

Der russische Zar Nikolaus führte am 27.Februar 1908 gegenüber dem Botschafter der Monarchie Berchtold aus, das er Österreich-Ungarn nicht das Recht zum Bau der Eisenbahnlinie bestreite, baer von einer Fortsetzung der Kooperation auf dem Balkan war keine Rede mehr. Das Mürzsteger Abkommen war tot; ganz wie Iswolsky es sich vorgestellt hatte, denn dieser hatte am 22.02.bereits die Kündigung empfohlen.

(1) Public Record Office, Foreign Office, Nicolson an Grey vom 04.02.1908

Unter anderem und wesentlich Skrivan, Schwierige Partner
 
Erfolgt denm so gar keine Reaktion? Eigentlich wollte ich hier mit der bosnischen Annektionskrise fortfahren, aber das Interesse wurde von mir wohl doch falsch eingeschätzt.
 
Erfolgt denm so gar keine Reaktion? Eigentlich wollte ich hier mit der bosnischen Annektionskrise fortfahren, aber das Interesse wurde von mir wohl doch falsch eingeschätzt.
(Das geht mir an anderer Stelle ähnlich :))

Spass beiseite,
mach weiter Turgot.
Die bosnische Annektionskrise ist ein sehr interessantes Thema und einen Leser hast Du mindestens.

Grüße hatl
 
Noch ein paar Nachsätze zur Sandschakbahnkrise.

Zunächst muss fairerweise angemerkt werden, das Iswolsky zunächste mangels Alternative, wenn auch zähneknirschend,sich gewungen sah sich noch an der Balkan- Entente mit Wien festzuhalten. Er bestand gegenüber Wien darauf, das aehrenthal nunmehr ultimativ seinerseits seinen Botschafter in Konstantinopel Pallavicini anwies beim Sultan das serbische Projekt der Donau-Adria Bahn entsprechend unterstützen soll. Aehrenthal folgte diesen Wunsche, aber er bestand darauf, das die Sandschakbahn Priorität haben müsse.Der Großwesir sicherte den k.u.k. Botschafter auch entsprechende Unterstützung zu, das "irgendwann" einmal die Donau-Adria Bahn bewiliigt werden würde. Im Verschleppen waren die Türken Großmeister. Iswolsky empfand es als Demütigung, das er in Konstantinopel die Unterstützung Wiens benötigte.

Die Folgen dieser Krise waren für Österreich-Ungarn und schließlich auch Berlin höchst unerfreulich. Iswolsky und auch der Zar waren ziemlich verbittert, denn Aehrenthal hatte nach ihrer Wahrnehmung die loyale Zusammenarbeit auf dem Balkan für egoistische eigene Interessen über Bord geworfen und, so die Meinung in Petersburg, den mazedonischen Justizreformen geopfert. Das Recht zum Bau der Bahn als solches wurde nicht wirkklich bestritten, aber die Wahl des Zeitpunkt sei desaströs. In der Folge wurde der Presse freien Lauf gegen Wien gelassen. Die Sängerbrücke beschloss nunmehr endgültig eine außenpolitische Kurskorrektur in Richtung London vorzunehmen und das Mürzsteger Abkommen bei Gelegenheit ein Begräbnis erster Klasse zukommen zu lassen.

Die Beziehungen zwischen Wien und Petersburg haben sich entscheidend verschlechtert und Wien sah sich durch den schleichenden Tod der Entente der Möglichkeit beraubt auf die Sängerbrücke Einfluss auszuüben, wenn nicht gar bis zu einem gewissen Grade zu kontrollieren. Iswolsky brannte vor Ehrgeiz und wollte einen prestigeträchtigen erfolg. Deswegen unterstützte er die Serben bei ihrem Bahnprojekt.

Diese Krise wird meines Erachtens nach vollkommen unterschätzt, denn hier erfolgten die Weichenstellungen für den Abschluss und die Verfestigung der beiden Blöcke.

Und wofür das Ganze. Die Sandschakbahn wurde nie Wirklichkeit. Denn die jungtürkische Revolution und die Annektion der Provinzen Bosnien und der Herzegwoina beendeten Aehrenthals Träume, denn die Jungtürken standen Wien sehr misstrauisch gegenüber und waren nicht mehr gewillt das Bahnprojekt zu bewilligen.

Insgesamt also eine fatale Bilanz für die Doppelmonarchie.
 
(Das geht mir an anderer Stelle ähnlich :))

Spass beiseite,
mach weiter Turgot.
Die bosnische Annektionskrise ist ein sehr interessantes Thema und einen Leser hast Du mindestens.

Grüße hatl

Ja, ich habe es gesehen. Ist wirklich sehr schade drum! Ich bin bei der Russischen Revolution wirklich nicht sattelfest genug, um dort "mitmischen" zu können.

Irgendwann ist es halt soweit, dann kann der Admin hier im Forum Selbstgespräche führen, denn das Interesse in vielen Bereichen des Forums ist einfach nicht mehr der Rede wert und die paar User die dort posten, haben verständlicherweise irgendwann dazu auch keine Motivation mehr.
 
Auch finde sehr interessant, was du hier schreibst. Ich würde gerne mitdiskutieren, bsesitze aber leider nicht die Expertise, um mit dir mithalten zu können.
 
Ja, ich habe es gesehen. Ist wirklich sehr schade drum! Ich bin bei der Russischen Revolution wirklich nicht sattelfest genug, um dort "mitmischen" zu können.

Irgendwann ist es halt soweit, dann kann der Admin hier im Forum Selbstgespräche führen, denn das Interesse in vielen Bereichen des Forums ist einfach nicht mehr der Rede wert und die paar User die dort posten, haben verständlicherweise irgendwann dazu auch keine Motivation mehr.

Zur bosnischen Annexion kann ich weniger beitragen, als zu den Marokkokrisen. Bei der 1. Marokkokrise erscheint es rückblickend sehr erstaunlich, dass Holstein und Bülow die drohende Isolierung des Reiches verkannten und die Chancen, Frankreich bei der Konferenz von Algeciras eine diplomatische Niederlage zu bereiten, die es am Sinn der Triple Entente zweifeln lassen sollte. Die Erwartungen der österreichisch-ungarischen Delegation des "glänzenden Sekundanten in der Mensur" wie Wilhelm II. die Delegation der Donaumonarchie nannte, waren weitaus zurückhaltender, was die deutschen Erfolgsaussichten des "Game of bluff"
betraf. Dazu hatten die deutschen auch ihren Verbündeten brüskiert, und man war am Ballhausplatz verstimmt über die Einflussnahme auf deutsche Minderheiten in Siebenbürgen und die Rüstungskonkurrenz in Bulgarien und der Türkei, der den Österreichern nur kümmerliche reste ließ. Der Gipfel der Taktlosigkeiten aber waren Rüstungskontrakte in Serbien und die Verheimlichung des termins für die Marokkokonferenz, den die Österreicher aus der Zeitung erfuhren. Den "brillianten Sekundantendienst" in Algeciras ließen sich die Österreicher schließlich teuer bezahlen: Die Serben, die vergeblich versuchten, Schweine in Ungarn abzusetzen, wurden gezwungen, ohne jegliche Gegenleistung der Österreicher auf diesem oder anderen Gebieten, Kanonen der Firma Skoda zu kaufen, was Belgrad natürlich in helle Wut versetzte. Dieser Rüstungscoup war ein persönlicher Einfall Franz Joseph I. gewesen. Die Konferenz von Algeciras, die mit so hohen deutschen Erwartungen startete, zeigte der Welt die zunehmende Isolation des Reichs, die Aufweichung des Dreibunds und das Scheitern der "Politik der freien Hand". Letzter zuverlässiger Bündnispartner des Deutschen Reichs war Österreich- Ungarn.

Die Geheimdiplomatie der Großmächte höhlten völkerrechtliche Vereinbarungen aus und steigerten die Gefahr eines Krieges
 
Scorpio schrieb:
Bei der 1. Marokkokrise erscheint es rückblickend sehr erstaunlich, dass Holstein und Bülow die drohende Isolierung des Reiches verkannten und die Chancen, Frankreich bei der Konferenz von Algeciras eine diplomatische Niederlage zu bereiten, die es am Sinn der Triple Entente zweifeln lassen sollte. Die Erwartungen der österreichisch-ungarischen Delegation des "glänzenden Sekundanten in der Mensur" wie Wilhelm II. die Delegation der Donaumonarchie nannte, waren weitaus zurückhaltender, was die deutschen Erfolgsaussichten des "Game of bluff"
Diese Krise wurde ja geradezu vom AA insezeniert, um die Entente zu sprengen. Man sah die drohende Isolierung also durchaus. Über die Erfolgsaussichten auf der mit Brachialgewalt erzwungenen Konferenz lag man im AA aber vollkommen neben der Spur. Die Vollendung der Isolierung war sicher auch durch den Wechsel des Chefpostens in der Sängerbrücke von Lamsdorff zu Iswolsky geschuldet. Und die Sandschakbahnkrise und die sich anschließende Annektionskrise taten ihr übriges. Die Annektionskrise war ja auch eine Krise um die bulgarische Unabhängigkeit. Die Bulgaren verbanden mit der juntürkische Revolution ebenfalls wie der Ballhausplatz keine guten Zukunftsaussichten und handelten. Am Ende gehörten sie aber zu den großen Gewinnern, denn ihrer geforderte Kompensationsleistung an die Pforte wurde von den Russen bezahlt. So stand Sofia erstmal wieder fest im Lager der Russen.

Die brutale Wirtschaftspolitik von ÖU gegenüber Serbien ist schon ein trauriges Kapitel. Auf der anderen Seite steht die "größenwahnsinnge" großserbische Idee, das Bosnien und die Herzegowina an Serbien angeschlossen werden sollen. Und Serbien verlangte allen Ernstes von Wien Kompensation für die Annektion; gerade so als ob Belgrad durch die Annektion Territorium verloren hätte. Im Hintergrund stand aber Petersburg.

Wien hatte Berlin besonders bei der 2.Marokkokrise fast im Regen stehen lassen und bekam die Rechung dann im Zuge der Balkankriege präsentiert, wo Berlin dann den Schulterschluss mit London praktizierte.
 
Noch ein kurzer Nachtrag zur Bedeutung von Iswolsky.

Bertie, britischer Botschafter in Paris und kein Freund des Deutschen Reiches, notierte am 10.November 1914 in seinem Tagebuch:

At the beginning of the war he (Iswolsky) claimed to be its author. - C`est ma guerre."
 
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