Dazu ein paar Mittagspausenthesen:
1. Ein Gefecht in einer Kiellinie ist zu allen Zeiten (der Segelschiffe) ein eher theoretisches Konstrukt geblieben. Unterschiedliche Segeleigenschaften und unterschiedliches seemännisches Können sowie bereits minilokal unterschiedliche Wind-, Seegangs- und Strömungsverhältnisse taten nebem der Ausgangsformation das ihrige, um eine saubere Kiellinie zu erschweren. (Vergleiche Wunsch und Wirklichkeit beider Formationen bei Trafalgar.)
Kamen dann noch Gefechtsschäden hinzu oder das Wetter, dann war der Ausgang oft genug ein konfuses Chaosgeschieße wie der Glorious First of June (1794) oder Calder's Action vor Ferrol (1805).
2. Vor diesem Hintergrund würde ich so manche Darstellung mit wie Perlen an der Schnur aufgezogen parallel dahinsegelnden Flotten - insbesondere bei den Massenseeschlachten des 17. Jh. - eher als romantische Seestücke bezeichnen...
3. ... sowie als hoch akademische Angelegenheit - siehe die taktischen Schriften des John Clerk of Eldin - eines Zivilisten, dem so mancher gestandene Seeoffizier eben darum auch ein gerüttelt Maß an Praxisferne unterstellte.
4. Die Kiellinie ist mehr ein Mittel der Defensive als der Offensive. Ich kenne aus meinem 18./19. Jh. nicht eine britische Seeschlacht, die in der Kiellinie geschlagen und gewonnen wurde. Aber viele "rote" Unentschieden: Chesapeake Bay, Toulon, Minorca oder die formalen Gefechte, die sich in Ostindien Hughes und Suffren lieferten.
Pierre André de Suffren - Wikipedia, the free encyclopedia
5. Alle wirklich energischen Admirale (Suffren bei Praya, Rodney bei den Saintes, Hawke bei Quiberon Bay, Duncan bei Camperdown, Jervis bei der Schlacht von St. Vincent, Nelson bei Aboukir und Trafalgar (übrigens auch Villeneuve bei Trafalgar) gaben einen Sch... auf formale Gefechte à la Kiellinie, weil damit - siehe Clerk of Eldin - kein Blumentopf und keine Schlacht zu gewinnen war. Deswegen lauteten die einschlägigen Signale auch nicht "nach Stb. auf SWzS gehen", sondern "Free Chase" und "Engage enemy more closely" ("Ran an den Feind"). Und dass eine Kiellinie auch zur Verteidigung gegen eine wirklich wilde Sau nicht taugte, mussten die Holländer bei Camperdown ebenso bitter erfahren wie es Villeneuve schon bald ein Jahr vor Trafalgar wusste. Seine taktischen Gegenmaßnahmen scheiterten allerdings an der Unzulänglichkeit der operativen Gesamtlage seiner Vereinigten Flotten.
6. Auch Unterführer kümmerten sich oft genug nicht um die Kiellinie und retteten damit häufig genug den Tag. (Nelson bei St. Vincent oder Inglis) bei Camperdown
The flurry of orders was so quick and contradictory that at least one captain gave up entirely: the Scottish captain,
John Inglis, of HMS
Belliqueux threw his signal book to the deck in frustration and shouted "Up wi' the hel'lem and gang into the middle o't."
(Sinngemäß: Die Flut häufig widersprüchlicher Befehle veranlassten mindestens einen Kommandanten, die Flinte ins Korn zu schmeißen. Inglis warf sein Signalbuch frustriert zu Boden und befahl "Abfallen und mittig reinhalten!")
Battle of Camperdown - Wikipedia, the free encyclopedia
Aus der selben Quelle auch das Zitat des unterlegenen Admiral de Winter:
De Winter, who wrote that "Your not waiting to form line ruined me: if I had got nearer the shore and you had attacked, I should probably have drawn both fleets on it, and it would have been a victory for me, being on my own coast.
(Sinngemäß: Dass Sie nicht gewartet haben, bis ihre (Kiel-)Linie formiert war, hat meinen Plan ruiniert...)
7. Ein starres Festhalten an der Kiellinie konnte - Vorschrift oder nicht - einem Admiral die Karriere versauen (Thomas Mathes nach Toulon 1744) oder ihn gleich mal das Leben kosten, wie John Byng nach Minorca: Dieser wurde für seine Zurückhaltung erschossen
... pour encourager les autres.
(Voltaire: ... um die anderen zu ermutigen)
8. Vor diesem Hintergrund öffnet sich die ketzerische (!) Frage, ob die Kiellinie für das Gefecht (NICHT als Marschformation!) vielleicht doch ein zu sehr gehätscheltes Kind von navalisierten Festungsbauern und -eroberern aus der Branche der Stoppelhopser war (nicht böse gemeint - sind halt doch verschiedene Welten, wie auch Napoleon feststellen musste :friends: ), die von den wirklichen Profis zur See niemals als das Dogma anerkannt wurde, als das es ihnen zeitweilig vorgeschrieben worden war...