Überlegungen über Opferriten machen aber nur in einem größeren Kontext Sinn. Dieser Kontext ist, da wir über die religiösen Vorstellungen dieser Zeit nur unvollständige (manche behaupten übertreibend: gar keine) Daten haben, notwendigerweise hypothetisch. Hypothesen sind aber keine wilde Spekulation, sondern idealerweise auf Indizien gestützt.
So weit, so gut, es gibt reichlich Hypothesen. Auch hier ist das Grundproblem, dass die Frage, was als "Indizien" gewertet wird, heutigen Wahrnehmungen unterliegt.
Solche Indizien gibt es für das Paläolithikum in nicht geringer Menge, lediglich ihre Interpretation ist nicht mit letzter Sicherheit möglich.
"Letzte Sicherheit" ist daher eine reichliche Übertreibung.
Nun zu den Aussagen:
Eine plausible Theorie - in diesem Forum freilich sehr unbeliebt - besagt, dass das Paläolithikum Schauplatz der Verehrung einer als weiblich und parthenogenetisch vorgestellten Naturgottheit war, die Macht über Leben und Tod aller Lebewesen hatte. Dementsprechend gab es in dieser Zeit keine Trennung göttlicher Zuständigkeiten für Tod und Geburt, vielmehr fallen beide Bereiche in die Zuständigkeit der einen weiblichen Gottheit - die allerdings apersonal zu denken ist, also ohne die anthropomorphen Charakteristika der Götter der historischen Zeit.
Ein Argument, das die Hypothese jener Geburt-und-Tod-"Göttin" stützt, ist der Hinweis auf historische Göttinnen wie die ägyptischen Isis und Nut. Isis wurde als Mutter- und als Todesgöttin in Personalunion verehrt. Nut (übersetzt: Vulva) ist unter den ägyptischen Muttergöttinnen wahrscheinlich am frühesten entstanden, also noch in prähistorischer Zeit. Sie galt nicht nur als Gebärerin des Sonnengottes Re (also der Sonne), sondern verschlang ihn auch am Abend, d.h. sie zog ihn hinab in das Todesreich, um ihn am nächsten Morgen wieder zu gebären. Auch die ägyptische Hathor galt als Geburts- und Todesgöttin.
Parthenogenese ist reine Spekulation.
Nut bedeutet nicht Vulva, sondern Himmel oder Firmament. Das korrespondiert mit einigen Hinweisen, dass die Göttin astronomisch mit der Milchstraße assoziiert und in astronomischem Zusammenhang abgebildet worden worden ist.
Für Assoziationen von Milchstraße (zB Spruch 176) und Vulva liegen keine "Indizien" vor, es liegen Spekulationen vor. Von Wells stammt zB die Hypothese, dass die Milchstraße am Winterhimmel in Ägypten wie eine mit gestreckten Armen und Beinen liegende Frau aussehe, und dieses Darstellungen von Nut entsprechen würde. Die Vulva-Phantasie kommt dann daher, dass am Winterhimmel (sozusagen pränatal/antenatal) die Sonne ungefähr "aus der Vulva" der Milchstraße aufgehen würde ("imagined to be born"). Ergänzt um den Umstand, dass die Sonne neun Monate zuvor "im Kopf steht". Der Phantasie kann also freier Lauf gelassen werden.
Mit dem Himmel wird ansonsten alles mögliche assoziiert, so Aufgang, Untergang und Wiedergeburt der Sonne oder des Mondes, und ansonsten "many different aspects within this role" (Wilkinson), Schutz, Wiedergeburt, Trennung der Erde von den umgebenden Wassern des Chaos, usw. usf.
Hathor könnte aus prädynastischer
oder frühdynastischer Zeit stammen, über die Ursprünge ist nichts bekannt, Evidenzen stammen aus späteren Zeiten. Hier wieder ähnlich schillernde Kompositionen: Mutter, Ehefrau, Himmel, Auge des Re, Sonne, Kuh mit evt. Bezug auf die frühere Gottheit Mehet-Weret, Namen wie "mistress of the vagina", Herrin ferner Länder und Beschützerin im Jenseits (was nicht mit "Tod" gleichzusetzen ist), Herrin über Musik, Freude und Glück, ebenso wie Trunkenheit oder Rauschzustand.
Zu
Isis ist anzumerken, dass die Wurzel "obskur" sind (statt vieler: Wilkinson), und etliche Hypothesen sich darum ranken, dass sie mit Nut + Hathor, Renenutet, Astarte, Bastet, Sothis "gemergt" wirden ist. Die Übernahme ikonografischer und mythologischer Attribute von Hathor ist evident. Isis ist ein Mischmasch, die Ursprünge sind völlig diffus (Wilkinson).
Es gibt also keinen Grund anzunehmen, dass im Paläolithikum beide existentiellen Motive auf verschiedene Gottheiten verteilt waren, vielmehr besteht Grund zu der Annahme, dass sie zwei komplementäre Aspekte ein- und derselben Gottheit waren.
Ebenso gibt es keinen Grund anzunehmen, dass beide existentiellen Motive in Gottheiten vereinigt waren. Weder - noch, nicht einmal ist klar, wo und wann es sich bei figürlichen Darstellungen um "Gottheiten" handelt, oder was sonst so mit den Bildern, Figuren oder "Steinritzen" getrieben wurde.
Ein "ägyptischer Kontext" zur Interpretation paleolithischer Gottheiten, paleolithischer Riten, figürlicher Abbildungen ist nicht belegbar.