Einwanderung nach Deutschland 1992 - Wirklichkeit und Wahrnehmung

Maglor

Aktives Mitglied
In aktuellen Debatten, die ich hier nicht führen will, ist immer wieder von der starken Zuwanderung nach Deutschland den frühen 1990ern die Rede. Meistens wird so getan, als wären das alles Flüchtlinge gewesen.

Die Asyldebatte erreichte in den frühen 1990ern ihren vorläufigen Höhepunkt und man tat so, als wären alle Zuwanderer Asylanten.

Tatsächlich war die Zusammensetzung Zuwanderung in den früher 1990ern sehr heterogen:
- Kriegsflüchtlinge, insbesondere vom Balkan, zumeist vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege
- Spätaussiedler aus der GUS (im Volksmund "Russlanddeutsche")
- jüdische Kontingentflüchtlinge aus der GUS
- Nachzug von Familienangehörigen (also Familien früherer Einwandergruppe z.B. auch die Familien der "Gastarbeiter")

Bundeszentrale für politische Bildung schrieb:
Betrachtet man das Wanderungsgeschehen zwischen der Bundesrepublik und dem Ausland seit 1950, so ist festzustellen, dass 1992 das Jahr mit der höchsten Zuzugszahl war. Die Zuwanderung lag in jenem Jahr bei 1,5 Millionen, der Wanderungssaldo, also die Differenz aus Zu- und Fortzügen, belief sich auf rund 782.000.www.bpb.de

Unter diesen 1,5 Millionen Menschen waren jedoch nur 439.000 Asylsuchende.
Bundeszentrale für politische Bildung schrieb:
Im Jahr 1992 erreichte sie mit rund 439.000 eingereichten Asylanträgen ihren Höhepunkt. www.bpb.de

Spätaussiedler machten ebenfalls nur nur einen geringen Teil der Einwanderer aus.
Bundeszentrale für politische Bildung schrieb:
Die Erteilung der Aufnahmebescheide erfolgte noch relativ zügig, sodass die Aussiedlerzahlen 1991 bei über 147.000 blieben und 1992 auf über 195.000 anstiegen. www.bpb.de
Wenn ich jetzt die Zahlen der BPB zusammenrechne, verbleibt ein "Rest" von 866.000 Zuwanderern im Jahr 1992, die weder Spätaussiedler noch Flüchtlinge waren. Hierunter durfte die bereits genannte Familienzusammenführung fallen oder auch die Zuwanderung aus Ländern der EG.

Dass kann ja nur bedeuten, dass die sogenannte Asyldebatte an der eigentlichen Wirklichkeit der Zuwanderung vorbeiging.
Dieser Eindruck wird noch deutlicher, wenn man Brandanschlag und ausländerfeindliche Ausschreitungen jener Jahre betrachtet. Der im Kern antiziganistisch ausgerichtete Krawall (bzw. das Progrom) in Rostock-Lichtenhagen entlud sich am Ende gegen veitnamensische Vertragsarbeiter, die schon seit Jahren Deutschland (auch schon im anderen Deutschland DDR) gelebt hatten. Eigentlich ging es auch nie um Ausländerfeindlichkeit, sondern um Rassismus.
 
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Wenn ich jetzt die Zahlen der BPB zusammenrechne, verbleibt ein "Rest" von 866.000 Zuwanderern im Jahr 1992, die weder Spätaussiedler noch Flüchtlinge waren. Hierunter durfte die bereits genannte Familienzusammenführung fallen oder auch die Zuwanderung aus Ländern der EG.

Wenn Du Dir den ersten Migrationsbericht 1999 anschaust, ist dort eine Aufgliederung nach Ländern 1992 enthalten, S. 58/59, neben weiteren Statistiken.

http://www.efms.uni-bamberg.de/migber99.pdf

Unter der Zuwanderung sind auch 282.000 zurückgewanderte Deutsche.
Der Saldo der Zu- und Abwanderung war wohl bis 1988 weniger das Problem, wobei natürlich das jeweilige Volumen zB durch Arbeitsmigration, und dadurch Zu- und Abzüge anstieg.

Die Wahrnehmung war wesentlich durch den "Nettozuzug" beeinflusst, und innerhalb dieser Größe wurde das darauf bezogen, dass die Asylzahlen ansteigen (etwa 200T in 1990 auf knapp 440T in 1992). Dieses "matching" beider Entwicklungen blendete die restlichen, zT saldierten Bewegungen sozusagen aus.
 
Eine Statistik nach Herkunftsländern hat nur sehr geringe Aussagekraft.

Die Hauptherkunftländer Jugoslawien und die UDSSR lösten sich 1991 auf. Der Zeitpunkt der Ausreise entschied ganz einfach über die Staatsbürgerschaft.

Ein anderes Problem ist, dass Einwanderer aus dem gleichen Land unterschiedliche Zugangsbedingungen hatten.
Dass bekannteste Beispiel ist die gleichzeitige Einwanderung deutschstämmige Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge aus den GUS-Staaten. Im Anhang befanden sich natürlich noch etwaige Familienangehörige anderer ethnischer Herkunft.
Neben Bürgerkriegsflüchtlingen sind für Jugoslawien aufgrund der jugoslawischen Gastarbeiter auch die Familiennachzügler möglich. Anfang der 1990er gab sogar noch ein paar deutschjugoslawische Spätaussiedler.
Ähnliches gilt auch für die Türkei. In den 1990er erhielten insbesondere Kurden aus der Türkei Asyl in Deutschland. In einer Statistik nach Herkunftsland fallen sie ins gleiche Raster wie türkische Familiennachzügler. In einer Statistik nach Rechtsstatus sind beide Gruppen mitunter getrennt.

Ebenfalls Teil jeder Statistik sind kurrzeitige Einwanderer wie Erntehelfer und Austauschstudenten, die gar nicht die Absicht haben länger als eine Erntesaison oder ein Semester zu bleiben.

Über die Zusammensetzung zu einer Einwanderer-Gemeinschaft entscheidet in aller Regel die ethnische Zugehörigkeit und nicht die Staatsangehörigkeit. Ein bekanntes Beispiel ist die "deutschrussische" oder "russlanddeutsche" oder "deutschrussische" Szene, die Spätaussiedler unterschiedlichster Herkunftsländer vom Kaukasus bis Zentralasien und zum Teil auch jüdische Kontigentflüchtlinge vereint, der aber tschetschenische Flüchtlinge trotz russischer(!) Staatsbürgerschaft nicht angehören.

Generell scheint auch kaum wirklich aussagekräftige Statistiken zur Einwanderung zu geben und schon gar keine zur ethnischen Zugehörigkeit.
Die Forschungslücke ist aufgrund der Brisans des Thema schon unerhört. Vielsagend ist, dass erst 1999 der erste Migrationsbericht erschienen ist.
Diese Forschungslücke hat sicher auch ideologische Gründe, weil über Jahrzehnte die Augen vor der Einwanderungstatsache verschlossen wurden. Deutlich wird diese Ideologie an dem typischen Diskurs bzw. dem Dogma: "Deutschland ist kein Einwanderung".
 
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Diese Forschungslücke hat sicher auch ideologische Gründe, weil über Jahrzehnte die Augen vor der Einwanderungstatsache verschlossen wurden. Deutlich wird diese Ideologie an dem typischen Diskurs bzw. dem Dogma: "Deutschland ist kein Einwanderungsland".

Das ist aber durchaus nicht nur der Politik sondern auch den "Gastarbeitern" selbst nicht klar gewesen. Inbesondere bei den Türken war es ja so, dass die den Plan hatten, ein paar Jahre in der Bundesrepublik zu arbeiten, dabei reich zu werden, ein Haus zu bauen und dann ein Auskommen in der Türkei zu haben.
Irgendwann haben sie dann ihre Familien nachgeholt, weil sie gemerkt haben, dass ein Strohwitwernleben nicht so supererfüllend ist. Mit den Jahren sank auch die Wiedersehensfreude/-erwartung in der Heimat, gleichzeitig sind die Bauprojekte nicht vorangeschritten und das Wohlstandsgefälle insbesondere im Komfort zwischen der Bundesrepublik und der Türkei, das ja bis weit in die achtziger Jahre extrem hoch war (Trinkwasser aus dem Wasserhahn, Stabilität der Elektrizität, vernünftige Toiletten) taten zusammen mit der Tatsache, dass die Deutschtürken in der Türkei nun "Deutschländer" waren, die verschrieen waren, sich für etwas besseres zu halten, ein übriges, um die ursprünglich mal geplante Rückkehr in die Türkei als eine Illusion herauszustellen.
Nicht nur die deutsche Politik, auch die "Gastarbeiter" selbst mussten diesen teils schmerzhaften Lernprozess durchmachen.
 
Der Anwerbestopp in Westdeutschland für Gastarbeiter in Westdeutschland war 1973. Die Anwerbung begann 1955 in Italien. In den 1990ern konnte doch wirklich niemand mehr ernsthaften daran glauben, dass die "Gastarbeiter" nur auf Zeit hier bleiben wollen.
(In der DDR kamen hingegen bis zum Schluss, d.h. 1990, neue Vertragsarbeiter.)

In der aktuellen Tagespresse habe ich noch was ganz interessantes zum Thema Statistik gefunden.
taz schrieb:
Die Zahlen basieren auf einer Kleinen Anfrage der Linkspartei (pdf) im Bundestag, die regelmäßig die Zahl der Geflüchteten mit unterschiedlichem Schutzstatus abfragt.
...
(Hinweis zu fehlenden Jahren der Statistik: Die Zahlen werden von Die Linke seit 2006 abgefragt. Laut Linke wurden bei der ersten Anfrage auch die Zahlen der vorherigen Jahre erfragt, waren aber nicht verfügbar oder nur aufwändig zu rekonstruieren. Die Zahlen für 1997 gab es trotzdem.)
Demnach gibt es für die frühen 90er Jahre also gar keine statistsiche Auswertung.
Die ganze Asyldebatte der 80er und 90er wurde also geführt, ohne aussagekräftige Zahlen in der Hand über das Thema zu haben! Man hat sich scheinbar auch gar nicht darum bemüht die Wirklichkeit zu erfasssen.
 
Jedenfalls wohl nicht in der erforderlichen Differenzierung. Das Problem zwischen Einreisestaat und Herkunftsstaat hattest Du oben angesprochen.

So wurden die Statistischen Jahrbücher der BRD in den entsprechenden Teilen der Bevölkerungsbewegung zB vom Ausländerzentraltegister bedient.

DigiZeitschriften: Seitenansicht
 
Der Anwerbestopp in Westdeutschland für Gastarbeiter in Westdeutschland war 1973. Die Anwerbung begann 1955 in Italien. In den 1990ern konnte doch wirklich niemand mehr ernsthaften daran glauben, dass die "Gastarbeiter" nur auf Zeit hier bleiben wollen.
(...)
Die ganze Asyldebatte der 80er und 90er wurde also geführt, ohne aussagekräftige Zahlen in der Hand über das Thema zu haben! Man hat sich scheinbar auch gar nicht darum bemüht die Wirklichkeit zu erfasssen.
Für die 70er Jahre bis Mitte der 90er Jahre gab es eine Fülle an soziologischer und pädagogischer Fachliteratur*), ich erinnere nur als Stichwort an das aufkommen des Begriffs Interkulturalität in den 80ern. Und bzgl. der ausländischen Bevölkerungsteile (1.-3 Generation!) gab es innerhalb dieser Fachliteratur auch umfangreiches statistisch-demografisches Material.
Die Einwanderungswelle von Spätaussiedlern allerdings wurde, auch wenn diese zahlreichen "Deutschen" muttersprachlich russisch sprachen, hierbei nicht miteinbezogen...;)
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*) auf die Schnelle: hier findet sich schon ein Haufen Literaturverweise etc https://de.wikipedia.org/wiki/Interkulturelle_Erziehung
 
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In den 1990ern konnte doch wirklich niemand mehr ernsthaften daran glauben, dass die "Gastarbeiter" nur auf Zeit hier bleiben wollen.
Es blieb aber bis in die 1990er Jahre offizielle Haltung der Bundesregierung. Wie sagt man so schön? Nichts ist so dauerhaft, wie ein Kompromiss. Ich denke, das lässt sich auch aus Einwanderersicht bestätigen. Es dauert ja häufig auch, bis man sich eingesteht, das ein Lebenswegentwurf "gescheitert" ist (etwa reich ins Heimatland zurückzukehren) oder einfach nicht mehr realistisch ist, weil das neue Zuhause Heimat geworden ist.
 
Der pädagogische und soziologische Diskurs um Interkulturalität in den 1970ern und 1980ern bezieht sich gerade nicht auf die Gastarbeiter, sondern eben schon auf die Kinder der Gastarbeiter. Anwerbestopp für Gastarbeiter war bereits 1973!
Die Frage ist dann natürlich noch, welchen Einfluss die geisteswissenschaftliche Debatte auf die Politik hatte und ich meine hier insbesondere auf die Bundesregierung unter Kohl.

Die Einwanderungswelle von Spätaussiedlern allerdings wurde, auch wenn diese zahlreichen "Deutschen" muttersprachlich russisch sprachen, hierbei nicht miteinbezogen...;)
Genau das ist eine fatale Entwicklung im Einwanderungsdiskurs! Es ist eine Diskussion ohne Neuerungen, ohne Input, die nach wie vor mit alten Schreckgespenstern aus der Mottenkiste arbeitet.

Man sollte es offen aussprechen:
Man hat es entweder nicht für nötig gehalten zwischen unterschiedlichen Einwanderergruppen zu differenzieren oder man hat es einfach nicht gewollt. Man hatte ja nicht einmal die Daten erfasst. Man führte einfach die Diskussion "Das Boot ist viel" ohne zu wissen, wie viele überhaupt an Bord waren. Kann man sich dann noch wundern, dass am Ende der Angstpopulismus gewonnen hat? Eine andere Antwort als Lichterketten und die Änderung ds Grundgesetzes hat man nicht gefunden.

taz 2012 schrieb:
Zwanzig Jahre Pogrom in Rostock
Der Staat lässt sich anstecken

...
Einer von Gorzinis Chefs war der Abgeordnete und Ex-DDR-Bürgerrechtler Werner Schulz. „Lichtenhagen war eine Reaktion auf politische Zündeleien in Bonn“, sagt er. „Nach Lichtenhagen hätte man den Dumpfbacken entgegentreten müssen. Stattdessen wurde das Grundgesetz zum ersten Mal überhaupt verwässert.“

Die Massenhysterie und Gewaltspirale Rostock-Lichtenhagen knüpft bruchlos an Feindbilder aus der Mottenkiste an.
Zuerst richtete sich der "Volkszorn" gegen rumänische Asylbewerber und entlud sich dann hilfsweise an den Vietnamesen.
Oft ist zu lesen, dass es sich bei den Rumänen in Rostock-Lichtenhagen um Roma gehandelt habe, aber näheres dazu ist kaum herauszfinden.

Nach und während des Sturzes des kommunistischen Regimes in Rumänien kam es zu starker Auswanderung oder Flucht. Ein Teil der Flüchtlinge verlor mit der Auswanderung die rumänische Staatsbürgerschaft und sie erhielten als Staatenlose ein Aufenthaltsrecht in Deutschland. Andere zählten aufgrund der Ahnenreihe als Spätaussiedler.

Noch in den frühen 1990er Jahren war Rumänien Herkunftsland vieler Asylsuchender in Europa: Rumänen stellten mit 402.000 Anträgen zu diesem Zeitpunkt die zweitgrößte Gruppe von Asylsuchenden in Europa überhaupt dar (nach Asylbewerbern aus dem ehemaligen Jugoslawien). Insgesamt 350.000 von diesen Anträgen wurden allein zwischen 1990 und 1994 gestellt, drei Viertel davon in Deutschland.

Eine umfangreiche Darstellung gibt es hier: Focus-Migration: Rumänien.

Noch in den frühen 1990er Jahren war Rumänien Herkunftsland vieler Asylsuchender in Europa: Rumänen stellten mit 402.000 Anträgen zu diesem Zeitpunkt die zweitgrößte Gruppe von Asylsuchenden in Europa überhaupt dar (nach Asylbewerbern aus dem ehemaligen Jugoslawien). Insgesamt 350.000 von diesen Anträgen wurden allein zwischen 1990 und 1994 gestellt, drei Viertel davon in Deutschland. Diese Massenflucht war vor allem eine Reaktion auf die Härten und Entbehrungen, welche die Bevölkerung unter dem kommunistischen Regime hatte erleiden müssen.

...

Gerade die Minderheitengruppen, und hier insbesondere die Roma, wurden durch die anhaltende Unsicherheit und zunehmende gewalttätige Diskriminierung zur Asylsuche veranlasst.
Nichts genaues weiß man nicht. Flucht aus Rumänien war ein Massenphänomen. Der Anteil der Roma an der Bevölkerung Rumänien liegt laut Schätzungen zwischen 1 und 10 % - siehe hierzu Wikipedia - Demografie der Roma in Rumänien.
Woher wei man jetzt so genau, dass die rumänischen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen Roma waren? Die ethnische Zugehörigkeit wurde weder in Deutschland, noch in Rumänien erfasst. (Ethnische Zugehörigkeit wurde nur bei Spätaussiedlern erfasst und geprüft. Da galt auch für die ungarische Minderheit Rumäniens, die nach Ungarn auswandern konnte.)

In vielen deutsche Zeitungsartikeln ist sogar von "Sinti und Roma" die Rede, was aber überhaupt nicht stimmen kann, da die Sinti auf West- und Mitteleuropa beschränkt sind. Die Einschätzung zeugt von ziemlicher Ahnungslosigkeit.
Mir gegenüber wurde auch schon argumentiert, dass es ja schon die Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen durchaus verständlich seien, weil es ja Roma waren, als ob Antiziganismus die Sache besser machen würde.:autsch:
Das Hauptindiz scheint zu sein, dass die rumänischen Flüchtlinge in Rostock-Lichtenhagen vom rechten Mob für "Zigeuner" gehalten wurden und dann auch so behandelt wurden.

Was hatte es wohl mit den Rumänen von Rostock-Lichtenhagen auf sich und wo sind sie geblieben?
 
Maglor schrieb:
Man sollte es offen aussprechen:
Man hat es entweder nicht für nötig gehalten zwischen unterschiedlichen Einwanderergruppen zu differenzieren oder man hat es einfach nicht gewollt. Man hatte ja nicht einmal die Daten erfasst. Man führte einfach die Diskussion "Das Boot ist viel" ohne zu wissen, wie viele überhaupt an Bord waren. Kann man sich dann noch wundern, dass am Ende der Angstpopulismus gewonnen hat? Eine andere Antwort als Lichterketten und die Änderung ds Grundgesetzes hat man nicht gefunden.
Diese Analyse kann ich so nicht teilen. Wieso hatte im fraglichen Zeitraum das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" eine 180° Wende in der Asyldebatte vollzogen? Manchmal ist es gut, wenn Journalisten nahe dem Geschehen sind. Einer der vieldiskutierten Fakten war die Einwanderung von Schwarzafrikanern und deren umgehende Betätigung als Drogendealer. Davon war auch - und nicht zuletzt - Hamburg stark betroffen. Der "Spiegel" machte mit seinen Berichten dem Bürgertum deutlich, dass in der Asylpolitik etwas verdammt schief lief. Unvergessen ist mir der Bericht über den Schwarzafrikaner, der seinen Namen beim Stellen des Asylantrags mit Icecube with Flavour angab. Damals war die SPD noch eine Partei mit deutschlandweitem Wahlpotenzial von gut 40%. Die Medien machten auf die SPD Druck, so dass die Funktionäre der Partei der Grundgesetzänderung zustimmten. Was bei den Funktionären nur mit Magengrimmen erfolgte, wurde von den potenziellen SPD-Wählern nach den damaligen Umfrage-Ergebnissen eingefordert. Wie so häufig in der SPD-Geschichte gab es da einen Bruch zwischen Funktionärs- und Parteiwählerwillen. Dummerweise kann eine Partei schlecht ein anderes Volk wählen. Deshalb hat man zähneknirschenderweise dem Willen der Wählermehrheit nachgegeben.
 
SPIEGEL 02.03.1992 schrieb:
Hier ist jedes Loch besetzt
SPIEGEL-Interview mit Münchens Oberbürgermeister Georg Kronawitter (SPD) über Asylprobleme in Großstädten

...
SPIEGEL: München erlebt zur Zeit einen Ansturm aus Schwarzafrika, allein in den ersten drei Februarwochen 630 Asylbewerber aus diesen Regionen. Warum ist Ihre Stadt zum Beispiel bei Nigerianern so gefragt?

KRONAWITTER: Das weiß ich auch nicht. Wir erhalten sie zugewiesen, manche melden sich auch selbst bei uns. Fast keiner hat einen Paß. Sie geben lächerliche Namen an. Einer hat sich Flavour Icecube genannt, was soviel heißt wie Eiswürfel mit Geschmack.

Tatsächlich stammte 1992 die Mehr der Asylbewerber aus Europa und der Türkei. Über 60 % stammten aus der Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und der Türkei.

Selbst wenn sich Nigerianer doppelt anmeldeten machten sie nur 2,4 % der Anträge aus - diese Zahl wird zumindest von der Bundeszentrale für politische Bildung in der Grafik angegeben.

Ursächlich für das Massenphänomen Einwanderung, Spätaussiedlung und Flucht nach Deutschland in den frühen 90ern ist der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und dem damit verknüpften Zerfall Jugoslawiens.

Zugegebenermaßen habe ich im befragten Zeitraum noch nicht Zeitung gelesen, aber eine Debatte über Ausländerkriminalität gibt es bereits in den späten 80ern.
Spiegel 06.03.1989 schrieb:
Wenn je ein Problem voraussehbar war
Einwanderungsland Bundesrepublik (IV): Reizthema Ausländerkriminalität - was ist wirklich dran?

...
Türkische Heroinhändler, jugoslawische Opiumschmuggler, marokkanische Haschischkuriere oder italienische Kokainschieber, die den Suchtstoff auch schon mal in Pizza verstecken - sie alle strapazieren die Gastfreundschaft und bringen Ausländer insgesamt in Mißkredit, vor allem Asylbewerber.
...
Wahr ist auch, daß in Asylantenheimen, etwa in Hamburg, Stuttgart und München, mit Heroin und Kokain gedealt wurde oder wird. Vor allem Asylbewerber aus Schwarzafrika, aus dem Senegal und aus Ghana, ließen sich von international operierenden Rauschgiftringen bei der Drogenkleinverteilung einsetzen, waren als sogenannte Ameisen emsig.
Der Zorn entlädt sich am Ende immer bei den Ausländergruppen mit dem geringsten Prestige: Muslime, Schwarzafrikaner, Roma ...
Über die italienische Mafia redet in den 90er kaum noch jemand.
Drogendealer aus Nigeria und Ghana waren 1992 also kein ganz so neues Phänomen. In den 80er Jahren wurde beide Staaten wichtige Transitländer für den Drogenschmuggel.
 
Zuletzt bearbeitet:
Zur Erinnerung an einen der Hauptakteure der Asyldebatte:

Der damalige Bundeskanzler H. Kohl sprach in disem Zusammenhang vom drohenden Staatsnotstand.
Spiegel 02.11.1992 schrieb:
Überschrift: „Das ist der Staatsstreich“

Kohl: "Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr einer tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber unserem demokratischen Staat, ich sage mit Bedacht, ja, eines Staatsnotstandes."
...
Kohl weiter: Handlungsgrundlage müßten dann eben "einfache Gesetze" sein - für die im Parlament nur die einfache und nicht die Zwei-Drittel-Mehrheit wie für eine Verfassungsänderung notwendig wäre. Und falls man auch so nicht weiterkomme, weil die SPD vor das Verfassungsgericht ziehe, dann müsse man sich eben auf anderen Wegen behelfen. Etwa durch Entscheidungen oder Erlasse der Regierung oder ähnliches, der Kanzler blieb da vage.
In Koalitionsgesprächen bekannte Kohl, daß er vorsätzlich Verfassungsverstöße in Kauf nehmen will und daß er deshalb beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe auflaufen könnte: "Man muß den Mut haben, sich aufheben zu lassen. Man muß das Risiko eingehen, aufgehoben zu werden."
Wegen angeblichem Staatsnotstand das Grundrecht auf Asyl einschränken ...
Wer hat denn da zu viel Carl Schmitt gelesen? :winke:

Das war Kohls Anwort auf die Serie ausländerfeindlicher Gewaltverbrechen in Deutschland. Wenn es keine Mehrheit für die Grundgesetzänderung gebe, werde man das Grundgesetz eben nicht einhalten. Der Staat müsse auch jeden Fall das Vertrauen des ausländerfeindlichen Mobs zurückgewinnen.

(Dass in dem Spiegel-Artikel sehr viel Spekulation über Kohls Spekulationsrheotik enthalten ist, ist mir sehr wohl bewusst.)

Ende 1992 konnten sich CDU und SPD bekanntermaßen doch noch auf die Änderung des Grundgesetzes "Asylkompromiss" einigen. Kohls Plan B fand daher auch keine Anwendung.
 
Wer hat denn da zu viel Carl Schmitt gelesen? :winke:

Da ist sicherlich im Prinzip etwas dran. Und daran anknüpfend ein paar Überlegungen.

Beim - gerade wieder - Sehen des letzten TV-Interviews von Kohl ist mir nochmal sehr deutlich geworden, dass Kohl ein klares "Feindbild" hatte. Und die damaligen Polarisierungen auch von Kohl vorangetrieben worden ist.

Bei der Frage, was denn eigentlich die "geistig moralische Erneuerung" inhaltlich bedeutet hätte, die ja vor allem auch von extremeren Rechten vehement abgestritten wird, bezog er sie auf eine andere Arena, in der er ebenfalls eine staatsbedrohende Entwicklung sah.

Er warf den Gruppen und Politikern, die vor allem im Rahmen der Nachrüstungsdebatte sich gegen die Nutzung von nuklearen Mittelstrecken-Raketen ausgesprochen haben, eine Politik der Auslieferung Deutschlands an die "Russen".

Wichtig ist m.E., dass durch die Dramatisierung eines Zustands in Demokratien, die eigentlich positive "Trägheit" des Entscheidungsprozesses überwunden wird.

Im Rahmen dieser extremen Form des "Agenda-Settings" kann es dann zu heftigen Überreaktionen kommen, die durch das staatliche Handeln den Rechtsstaat mindestens genauso gefährden kann wie die Bedrohung, gegen die sich der Rechtsstaat wehren möchte.

In der Konsequenz bedeutet es, dass die aufgeklärte und kritische Öffentlichkeit unverzichtbar ist als Gegengewicht zu einem politischen Lemminge Aufmarsch. Es zeigt aber auch, dass Pluralität wichtig ist, um allen Positionen in der Diskussion Rechnung zu tragen. Auch meinen "heißgeliebten Freunden" aus dem etwas extremeren rechten Spektrum.

Exkurs: In diesem Zusammenhang ist mir aber auch nochmal deutlich geworden, welche inhaltliche Bandbreite die CDU in dieser Periode verkörpern konnte. Kohl, Süssmuth, v. Weizsäcker, Biedenkopf, Blüm, Geisler etc., um nur ein paar zu nennen und auch deutlich zu machen, wie aktiv von dieser Seite ein intelligenter inhaltlicher Input kam.
 
Tatsächlich stammte 1992 die Mehr der Asylbewerber aus Europa und der Türkei. Über 60 % stammten aus der Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien und der Türkei.

Selbst wenn sich Nigerianer doppelt anmeldeten machten sie nur 2,4 % der Anträge aus - diese Zahl wird zumindest von der Bundeszentrale für politische Bildung in der Grafik angegeben.

Ursächlich für das Massenphänomen Einwanderung, Spätaussiedlung und Flucht nach Deutschland in den frühen 90ern ist der Zusammenbruch des Kommunismus in Osteuropa und dem damit verknüpften Zerfall Jugoslawiens.

Zugegebenermaßen habe ich im befragten Zeitraum noch nicht Zeitung gelesen, aber eine Debatte über Ausländerkriminalität gibt es bereits in den späten 80ern.

Der Zorn entlädt sich am Ende immer bei den Ausländergruppen mit dem geringsten Prestige: Muslime, Schwarzafrikaner, Roma ...
Über die italienische Mafia redet in den 90er kaum noch jemand.
Drogendealer aus Nigeria und Ghana waren 1992 also kein ganz so neues Phänomen. In den 80er Jahren wurde beide Staaten wichtige Transitländer für den Drogenschmuggel.

Anfang der Neunziger etablierte sich z.B. hier in der Stadt eine offene Drogenszene, man musste durch Spaliere gehen und wurde penetrant gefragt was man kaufen möchte etc.
Bürgerversammlungen gab es, da wurde sich beschwert dass Spielplätze etc zu Schauplätzen des offenen Drogenhandels gemacht wurden. Nach und nach begannen Städte und Länder die Probleme zu "lösen", sprich, solchen Druck auf die Szene auszuüben dass sie sich jeweils woanders hin verlagerte (was Bayern zeitweise zweistellige Zuwachsraten bei Drogenkriminalität verschaffte).
Die italienische Mafia dagegen interessiert deutlich weniger Leute, weil sie diskreter arbeitet.
Was Anfang der Neunziger problematisch war, war die allgemeine nationale Besoffenheit. Ein Zitat aus Rostock-Lichtenhagen oder Hoyerswerda ging damals durch die Presse : "Ich dachte, Rassismus ist jetzt erlaubt". Selbst wenn das ein Fake war, es wird der damaligen "Aufbruchsstimmung" durchaus gerecht. Da kamen gerade die Reichskriegsflaggen in Mode, zu sehen bei Fußballspielen etc. Gruselig.
Fast zeitgleich mit den Lichterketten (und anderen, eher privaten Initiativen) wurde dann übrigens die Neonaziszene massiv aufgemischt, Hitlergruß etc zogen plötzlich empfindliche Strafen nach sich und es wurden gezielt Rädelsführer verurteilt.
 
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