Teil 1
Ich frage mich, wie real war die Gefahr einer sozialistischen … Revolution zu den Zeiten von Bismarck
Insgesamt steht die Beantwortung dieser Frage unter dem Vorbehalt unterschiedlicher Aspekte. Zum einen sind es die variierenden und teils widersprüchlichen historischen Erklärungsansätze, die die Arbeiterbewegung und die dazugehörigen Sozialismus-Theorien darstellen, wie u.a. bei Jarausch und Geyer ausgeführt (10) Und es ist im späten neunzehnten Jahrhundert erst einem undogmatischen Marxisten wie Mehrung zu verdanken, dass die Arbeiterbewegung eine Darstellung ihrer Entwicklung verdankt, die ihr eine eigenständige historische Identität ermöglichte (16).
Zum anderen sind es aber auch die unterschiedlichen Ebenen der Konzeptualisierung von Politik in der Arbeiterbewegung selber, die die Beantwortung erschweren. Zum einen weil innerhalb der SPD ein deutlicher Unterschied gesehen wurde zwischen den grundsätzlichen ideologischen – sozialistischen bzw. marxistischen – Positionen und der taktischen bzw. operativen Ausrichtung an die Rahmenbedingungen eines „schein-konstitutionellen, autoritären Obrigkeitsstaat“ , wie sehr deutlich bei Bebel zu erkennen. (1)
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass es viele Gründe gab, dass es zwischen dem systemüberwindenden Anspruch und der pragmatischen täglichen politischen Praxis deutlich Unterschiede gab. Und dieses erschwerte auch Bismarck die Beantwortung der Frage, zumal Tilly – selbst aus rückwirkender analytischer Sicht – darauf hinweist, dass man keine „Regeln“ für die europäischen Revolutionen erkennen konnte. (25, S. 338ff). Insofern ist Bismarck mit den „Sozialistengesetzen“ – entsprechend seiner Verantwortung als Kanzler – subjektiv gerechtfertigt der potentiellen Bedrohung entgegengetreten, die objektiv nicht gegeben war. (22, S. 213)
Die gegenseitige Vorstellung der Bedrohung resultierte zum einen aus den realen Unterschieden hinsichtlich des Zugangs zu politischen, sozialen und wirtschaftlichen Ressourcen. Daneben waren es aber auch in starkem Maße die historischen Ereignisse, die die symbolträchtigen negativen Bezugspunkte geprägt haben. Für Bismarck ist es zum einen die Existenz einer Pariser Kommune, die Ansätze zur Realisierung einer sozialistischen Gesellschaft zeigte und zum anderen die positive Bezugnahme von Bebel im Reichstags auf dieses soziale Experiment(1 und 22, S.221). Für die Arbeiterbewegung ist es dagegen die repressive Unterdrückung der 48er Revolution und die standrechtliche Hinrichtung ihrer Volksvertreter wie im Falle von Blum, wenn Lassalle formulierte: „Was Deutschland so empörte war, dass er in Form des Rechts, wenn auch des Standrechts, getötet wurde.“ (13, Pos. 984).
Die subjektiven Bedrohungsvorstellungen bei Bismarck entsprangen dabei seinem konservativen monarchischem Weltbild. Die Polarisierung des politischen Spektrums und somit die Ausgrenzung der Sozialdemokratie war aber im Bewußtsein konservativer Politiker insgesamt tief verwurzelt und somit spiegelte Bismarck durchaus den Zeitgeist seines politischen Umfeld wider. „Die Gegner der Sozialdemokratie bis weit in die Regierung hinein waren aber von dem konspirativen Charakter [der Politik der SPD] überzeugt, der sich hinter [demokratisch legitimierten und quasi revisionistischen ] Erklärungen nur verberge. „(7, S. 61)
So schreibt beispielsweise Heinrich von Treitschke: „ Eine allmähliche Läuterung der Sozialdemokratie von innen heraus haben wir nie zu erwarten, denn der Unsinn und die Niedertracht können sich nicht abklären…Wir können uns nicht mehr täuschen, die Sozialdemokratie ist der Rute entwachsen, sie ist zur Schule des Verbrechens geworden…Die Sozialdemokratie bildet einen Staat im Staate… Es wird höchste Zeit, dass der Staat für längere Zeit die Vereine der Sozialdemokratie schließt, ihre Zeitungen verbietet, ihre Agenten aus den großen Mittelpunkten der Arbeiterbevölkerung ausweist. Diese Menschen trotzen auf die Gewalt der Fäuste und sie verstehen nur die Sprache der Gewalt (22, S. 219)
Liberaler äußert sich beispielsweise Theodor Fontane, der feststellt: „Sie vertreten nicht bloß Unordnung und Aufstand, sie vertreten auch Ideen, die zum Teil ihre Berechtigung haben und die man nicht totschlagen oder durch Einkerkern aus der Welt schaffen kann.“ (22, S. 219)
Die Arbeiterbewegung bzw. die Sozialdemokratie im Deutschen Bund bzw. im Deutschen Reich zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts stand unter dem Zeichen der industriellen Revolution und den radikalen ideologischen Formen der Aufklärung wie beispielsweise in der Theorie von Marx und Engels.
In diesem Spannungsverhältnis der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung des Deutschen Reichs nach 1871 gab es vielfältige Spannungen zwischen dem Staat und der Arbeiterschaft (vgl. 20, S. 679ff). Dieses Spannungsverhältnis betraf zum einen die Tendenz zur ökonomischen Besserstellung und zur quasi rechtlichen und faktischen Gleichberechtigung und zum anderen die fortwährende Verweigerung der politischen Gleichberechtigung und „Fortdauer der Ausbeutung und der Unterdrückungsmaßnahmen andererseits. (7, S. 36)
„Die Arbeiter und die Katholiken mit samt ihrer Kirche standen im Vordergrund solcher Befriedungsbemühungen . Arbeiter erfuhren, wenn sie kritisch dachten, den Staat immer auch als Repressionsinstanz.“ (20, S. 881) Und richtete sich „zweifellos am härtesten gegen die sozialdemokratischen Arbeiterführer.“ (20, S. 682). Parallel zu dieser staatlich intendierten Ausgrenzung des Arbeiterschaft bzw. der Sozialdemokratie entwickelten die Organisationen der Arbeiterschaft, vor allem die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften, basierend auf einer parteipolitischen Doktrin ebenfalls eine eigenständige Identität, - als Staat im Staate – die bei Groh als „negative Integration“ bezeichnet wird (7, S. 36ff).
Die zunehmende politische Frustration der radikaleren Sozialdemokraten griffen die sozialdemokratischen Funktionäre auf und bauten eine umfangreiche Infrastruktur auf, die in ihrem organisationellen Umfang in dieser Periode weltweit einmalig war. (7, S. 36). Mit dem Ausbau des sozialdemokratischen Staates richtete sich die formal revolutionäre marxistische Sozialdemokratie im Kaiserreich ein und stabilisierte, aufgrund der vielen Schnittpunkte zum restlichen bürgerlich aristokratisch-geprägten Staat dennoch das Staatswesen (7, S. 36).
Dieser affirmativer Charakter der proletarischen Institutionen und Organisationen gegenüber dem Kaiserreich kam nicht zuletzt auch dadurch zur Geltung, dass in ihnen die zentralen bürgerlichen Werte nicht in Frag gestellt wurden, sondern sie wurden vermittelt und trugen so dazu bei, dass die proletarische Subkultur in den zentralen Normen und Werten sich den bürgerlichen Vorstellungen anpasste. Das Proletaritat war in seinem Denken bis 1918 teilweise „verbürgerlicht“ (7, S. 59)
Diesem Prozess der negativen Integration entsprach die vor allem von Karl Kautsky formulierte revolutionäre Ideologie. Seine Sicht konnte man dahingehend zusammenfassen:“dass die deutsche Sozialdemokratie zwar eine revolutionäre, aber keine Revolutionen machende Partei sei“ (7, S. 36 und 17, S. 21)
Durch Lassale wurde das Verständnis von Revolution noch dadurch geprägt, dass er seinen Anhängern einschärfte: „sie sollten, wenn er von allgemeinem Wahlrecht spreche, Revolution verstehen.“ (7, S. 57). Im Gegensatz dazu entwickelte sich das ideologische Verständnis von Revolution in den siebziger Jahren dahingehend, „die von steigenden Wähler- und Mitgliederziffern indizierte und von der ökonomischen Entwicklung garantierte [das automatische Anwachsen des Proletariats] „naturgesetzliche“ oder „naturnotwendige“ Entwicklung zum Sozialismus. Eine Entwicklung , die man durch Agitation und Organisation fördern könnte, deren revolutionärer Klimax im „Zusammenbruch“ der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates aufgrund historisch –ökonomischer Gesetze und weitgehend unbeeinflußt durch den Willen der handelnden Individuen erreicht werde. Da der Revolution ein historisches Subjekt [also das Proletariat] mehr und mehr abhanden kam, trat sie in Gestalt eines Naturereignisses auf“ (7, S.57).
In diesem Denken kommt der Dualismus der Politikformulierung der Sozialdemokratie deutlich zum Ausdruck, auf der einen Seite eine revolutionäre Theorie der radikalen gesellschaftlichen Transformation zu formulieren, der andererseits ein pragmatischer, auf evolutionäre Reformen abzielende Praxis entgegengesetzt wurde (7, S. 58).
Das Warten auf die Revolution entsprach sozialpsychologisch der erfahrenen Ohnmacht gegenüber dem Staat und den Möglichkeiten des Militärs, wie v. Saldern es sehr deutlich anhand von Versammlungsprotokollen der Göttinger SPD zeigt (21). Am deutlichsten kommt diese reformorientierte Sicht im Rahmen des „Neuen Kurses“ nach dem Aufheben der Sozialistengesetze in der berühmten „Eldorado-Rede“ des bayerisch Führers der Sozialdemokraten Georg von Vollmar im Jahr 1891 zum Ausdruck (17, S.17-18). Diese Sicht entsprach einer Mehrheit der Mitglieder in der SPD und deswegen war es für Bebel schwer, dieser Sicht von Vollmar zu widersprechen, obwohl sie im klaren Widerspruch zum revolutionären Anspruch der offiziellen Parteilinie stand (17, S. 18).
Dabei setzte sich erst mit dem Erfurter Programm 1891 eine offizielle marxistische Sichtweise in der SPD durch. Und es gab einen mehr oder minder deutlichen Bruch zur ideologischen Ausrichtung des Gothaer Programms (1875), das Marx noch deutlich kritisiert hatte. (17, S. 19). Einen hohen Stellenwert kommt dabei die Ausarbeitung des „Anti-Dühring“ durch Engels – unter Mitarbeit von Marx – zu, der erstmals 1877 publiziert wurde und den ideologischen Schwenk insofern ermöglichte als die SPD-Führung die Vorstellungen von Marx und Engels verstanden haben.
https://de.wikipedia.org/wiki/Anti-D%C3%BChring
Die Adaption erfolgte in der SPD insofern als die – offene - analytische Sicht des Historischen Materialismus in eine erkenntnistheoretisch gesicherte, empirisch nachprüfbare Ideolgie und ein deterministisches Weltbild überführt wurde. „Im vulgärmarxistischen Denken, wie er sich in der deutschen Sozialdemokratie herausbildete, erschien der Niedergang des Kapitalismus als automatischer Prozeß, den die Arbeiterklasse bloß abzuwarten hatte.“ (17, S. 21)
Unter dieser Voraussetzung lehnte sowohl Kautsky als zentraler Theoretiker der SPD und auch Bebel als Parteiführer jede „willkürliche Revolution“ ab. (17, S. 21). Das sozialistische Endziel wurde synonym mit dem Begriff der „sozialen Revolution“ verwandt, ohne dass ausgeschlossen wurde, dass es auf evolutionärem Weg durchzusetzen.“ (17, S. 23)
Diese hohe Diskrepanz zwischen revolutionärem Anspruch und reformistischer Alltagspolitik war bis weit in die neunziger Jahre für die SPD ein parteiintern handhabbarer Konflikt. In dem Maße wie die SPD bei Wahlen erfolgreich war und somit das Proletariat als zunehmend erfolgreiche politische Bewegung im Kaiserreich agierte, stellte sich die Frage der realen Überwindung der ökonomischen und politischen Verhältnisse erneut. Wortführer dieser neuen Generation von SPD-Funktionären waren unter anderem Mehring, Luxemburg und Liebknecht (5 und 12)
In diesem Kontext der Analyse der Wählerpotentiale der SPD bis 1912 stellt Sperber fest, dass es die SPD war, die aufgrund ihrer breiten Mobilisierung von Wählern als erste „Volkspartei“ angesehen werden kann, gemessen an der Breite der mobilisierten sozialen Schichten. Im Jahr 1912 war die SPD auf dem Sprung aus ihrem engen Reservoir der Stimmern aus der Arbeiterschicht in die Mittelschicht zu expandieren. Und damit widerspricht Sperber der Aussage von Falter nebenbei, die NSDAP sei die erste „Volkspartei“ in der deutschen Geschichte gewesen. (23)
Insgesamt wurde diese Form der pseudo-revolutionären Politik der SPD bis 1914 von Groh zutreffend als „revolutionärer Attentismus“ bezeichnet (7)