Walter Benjamin: (K)Ein Marxist?

El Quijote

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Heute vor 76 Jahren nahm sich Walter Benjamin wegen seiner drohenden Auslieferung an die GeStaPo durch den spanischen Zoll in Port Bou das Leben. Er rettete damit seinen Mitreisenden das ihre, da die spanischen Beamten unter dem Eindruck des Selbstmordes den Rest der Gruppe, den sie am Vorabend festgehalten hatten, weiterziehen ließen.

Gershom Sholem, ein Freund Walter Benjamins, der diesen immer wieder dazu bringen wollte wie er nach Israel zu emigrieren, behauptete nach dem Tod Benjamins, dieser habe sich zwar in seinen Veröffentlichungen einer marxistischen Wortwahl bedient, sei aber eigentlich Metaphysiker und kein Materialist gewesen.

Was ist davon zu halten? Hatte Sholem Recht oder hat er einem Benjamin, der sich nicht mehr gegen eine solche Interpretation verwehren konnte, sein Wunschbild auferlegt?
 
[Benjamin] sei aber eigentlich Metaphysiker und kein Materialist gewesen... Was ist davon zu halten?
Eigentlich wäre es ob der Flut von von 'iksen' (wie Metaphysik) und 'ismen' (wie Materialismus) notwendig, genauer zu bestimmen, was darunter – und zu welcher Zeit (1930? heute?) – verstanden werden soll.

Was ich über Benjamin weiß, deutet darauf hin, dass er die Lehre des historischen Materialismus als Analyse-Instrument oft und gern benutzt hat. [1] Davon trennen sollte man alles, was zum Bereich der politischen Parteinahme gehört, z.B. Benjamins Beziehung zum realen 'Sozialismus' in der Sowjetunion.

Nach der Einschätzung seiner letzten Biographen [2] bekannte sich Benjamin zu einer Art von "individualistischen Sozialismus". "Früh und später war er eher ein visionärer Aufrührer/Empörer als ein ideologischer Linientreuer. Vielleicht können wir Benjamin einen nichtkonformistischen Außenseiter am linken Flügel nennen."

Wunschbild des (besten) Freundes? – ich glaube schon.
Fakten, die dieses Wunschbild nährten? – kenne ich (noch) nicht.


[1] Siehe z.B. den Hinweis in http://www.geschichtsforum.de/f66/sthetisierung-der-politik-40305/#post612006
[2] Howard Eiland, Michael W. Jennings: Walter Benjamin. A critical life. Cambridge, Mass. 2014, S.9
 
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Wobei bester Freund nicht unbedingt im klassischen Sinne zu verstehen ist. Es war eine Freundschaft, die am besten auf Distanz funktionierte.
 
Die Biografien von Walter Benjamin und Gershom Scholem ähneln sich auf vielfältige Weise. In jungen Jahren waren beide in der deutschen Jugendbewegung aktiv, schwärmten für verschiedenste Richtungen. Deutsche Romantik, deutscher Nationalismus, Zionismus, Sozialismus, Psychoanalyse, jüdische Mystik ... Die Ideologien jener Zeit waren vielfältig.
Dogmatismus ist vor dem Hintergrund des ideologiekritischen Grundtenors der Frankfurter Schule kaum zu rechnen.
Deutschjüdische Intelektuelle unterhielten komplexe Beziehungen untereinander, die auch durch Verfolgung und Emigration nicht gebrochen wurden. Die Beziehungen untereinander scheinen oft wichtiger als die eigentlichen Werke. Die Briefe der Intelektuellen rücken vor den Hauptwerken manchmal in den Vorgrund.

Wer ist Walter Benjamin? Kann man überhaupt an Benjamin denken, ohne auch an Adorno, Hannah Arendt oder Siegfried Bernfeld zu denken?
Freundschaft, Lebensbund oder ideoligischer Disput. Es nicht immer ganz klar, was der Hintergrund der Beziehungen und Korrespondenzen ist.

Adorno und Scholem führten über viele Jahre einen Briefwechsel und schrieben dabei hauptsächlich über Walter Benjamin.

Scholems These, Benjamin sei kein richtiger Marxist gewesen, steht im Kontext der 68er-Bewegung. Kommunistische Studenten entdeckten Benjamin für sich als ihren Vordenker. Adorno und Scholem widersprachen. Der Streit um den Marxismus Benjamins ist daher ein politischer Streit der Nachkriegszeit und die Argumente haben zum Teil Züge einer Verschwörungstheorie.
Deutschlandfunk schrieb:
Briefwechsel Adorno-ScholemLebendiger deutsch-jüdischer Gedankenaustausch

Doch wenig später muss er [Adorno] erkennen, dass die politisierten Studenten ihre eigenen Rezeptionsgesetze entwickelten. Sie rieben sich an den akademischen Halbgöttern, die ihnen angeblich vorschrieben, wie sie Walter Benjamin zu lesen hätten. Schließlich kam der Vorwurf auf, Adorno hätte die Benjamin-Edition manipuliert, um eine marxistische Lesart gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der zusehends bedrängte Frankfurter Professor appellierte an die unabhängige Autorität Scholems und bat den Freund, ihn in der Not zu unterstützen. In der Verteidigung der Benjamin-Edition waren sich aber beide - Gershom Scholem und Theodor W. Adorno - einig. Walter Benjamin habe nämlich lediglich verbal - so Scholem - mit dem Kommunismus geliebäugelt, tatsächlich sei sein Marxismus aber höchst religiös und "esoterisch" gewesen
Eine von Adorno manupilierte Edition der Werke Benjamin? Das klingt schon ziemlich esoterisch.:grübel:
 
Zuletzt bearbeitet:
Scholems These, Benjamin sei kein richtiger Marxist gewesen, steht im Kontext der 68er-Bewegung. Kommunistische Studenten entdeckten Benjamin für sich als ihren Vordenker. [Scholem-Zitat:] ...lediglich verbal ... mit dem Kommunismus geliebäugelt, tatsächlich sei sein Marxismus aber höchst religiös und "esoterisch" gewesen
Um das richtig einordnen zu können, wüßte ich gern,

  • was Scholem unter einem "richtigen Marxisten" versteht?
  • ob für Scholem Kommunismus und Marxismus identisch sind bzw. welche "kommunistischen Studenten" hier gemeint sind und ob sie mit den "Marxisten" identisch sind?
Welche Äußerungen Benjamins lassen sich in diesem Zusammenhang heranziehen?

Dass Benjamin eine "Ikone der spätbürgerlichen Linken" [1] bzw. der (kommunistischen oder wie immer beheimateten) Studenten gewesen sein soll, liest man oft. Sicher hat er viele fasziniert, weil er auf allen möglichen Pfaden der Geisteswissenschaften mehr oder weniger bewandert war.

Dörr schreibt über Benjamins Intentionen unter anderem [2]:
Benjamin wollte ab etwa Mitte der zwanziger Jahre zwischen geistigen (ideologischen, politischen) Extremen vermitteln, so zwischen Marxismus und Metaphysik. Das hat Scholem früh bemerkt und Benjamin vorgeworfen, daß diese Vermittlung aufgrund seiner metaphysisch-theologischen Ausrichtung nicht gelingen könne. Für die Diskussion dieses Übergangs ist festzuhalten, daß Benjamins Kenntnisse der marxistischen Theorie und ihrer Klassiker ... eher spärlich waren ..."
Der Mühe, Benjamin zu lesen, haben sich nach meiner Erinnerung nicht viele unterzogen, schon gar nicht diejenigen, die an gebrauchsfertigen Parolen interessiert waren – für die "Hauptabteilung Ewige Wahrheiten" war Benjamin doch eher ein "unsicherer Kontonist". Benjamin "mit dem Kapital unterm Arm" dürfte soviel Seltenheitswert haben wie Höcherl mit dem Grundgesetz.;)


{1] Geret Luhr: Ästhetische Kritik der Moderne. Diss. Bamberg 2002, S 23
[2] Georg Dörr: Muttermythos und Herrschaftsmythos. Würzburg 2007, S. 123
 
Der Mühe, Benjamin zu lesen, haben sich nach meiner Erinnerung nicht viele unterzogen, schon gar nicht diejenigen, die an gebrauchsfertigen Parolen interessiert waren – für die "Hauptabteilung Ewige Wahrheiten" war Benjamin doch eher ein "unsicherer Kontonist". Benjamin "mit dem Kapital unterm Arm" dürfte soviel Seltenheitswert haben wie Höcherl mit dem Grundgesetz.

Treffend gesagt, jschmidt.

tatsächlich sei sein Marxismus aber höchst religiös und "esoterisch" gewesen

Sein Marxismus höchst religiös, notiert Scholem? Zumindest den marxistischen Marxismus des 19. Jh. halte ich ansonsten im "Kern" grundsätzlich für religiös und esoterisch, eine säkulare Ersatzreligion/absolute Ersatzgewissheit für jeden und alles. ;)

Liebe Grüße,

Andreas
 
Zugegebenermaßen habe ich Benjamin auch nur Adornos Brille kennengelernt. In "Erziehung nach Auschwitz" zitiert Adorno fast anedoktenhaft aus einen Brief Benjamins - gerahmt von einem kurzen Nekrolog. Die Bezüge zum eigentlichen Thema der Schrift sind auch eher gering, vor allem weil Benjamin nicht nur das nach Auschwitz nicht mehr erlebte. Eigentlich hatte Benjamin noch nicht einmal die volle Blüte der NS-Terrorherrschaft erlebt, als er sich im Herbst 1940 das Leben nahm - fast noch vor Auschwitz.
Die Bezeichnung Benjamins als Ikone ist schon sehr treffend. Im Grunde betrieben Adorno u.a. eine Art Heiligenkult um seine Person, indem sie seinen Briefen und Notizen immer wieder neue Bedeutungen gaben.

Erste Werke veröffentliche Benjamin in der jugendbewegten Zeitschrift "Der Anfang". Benjamins Beiträge kenne ich nicht. Die Zeitschrift galt jedoch als dermaßen radikal politisch, dass sie 1914 verboten wurde.
 
Die Antwort von Maglor und von jschmidt sind im Prinzip richtig und können als Beantwortung angesehen werden. Nach ein wenig Lektüre noch ein paar Ergänzungen, weil die Sicht gerade auf das Verständnis des „Marxismus“ der „Frankfurter Schule“ deutlich komplexer ist wie beispielsweise die „schlichte“ Sicht bei steffen04.

Die Grundlagen der theoretischen Arbeiten der Frankfurter Schule in den zwanziger und dreißiger Jahren bezogen sich auf vielfältigen Quellen, wie stark orientiert an Hegel, Freud und auch an Marx. Daneben jedoch auch an Schelling, Dilthey und vielen anderen Philosophen. Insgesamt kann man erkennen, dass die „dialektische Methode“ des Frankfurter „Historischen Materialismus“ vor allem monokausale Erklärungen vermeidet und aus diesem Grund explizit die interdisziplinäre Ausrichtung von Forschungsdesigns zur Grundlage machte, wie es Horkheimer 1931 in seiner Positionsbestimmung deutlich machte.

„In einem bestimmten Sinne läßt sich deshalb sagen, dass die Frankfurter Schule auf die Vorstellungen der Linkshegelianer um 1840 rekurrierten.“ (Jay, S. 64) Ergänzt durch eine sozialpsychologische Sicht in Anlehnung an Freud, vor allem bei Fromm und formuliert damit eine weitgehende Revision der Marx`schen Vorstellungen zum Verhältnis von „Basis und Überbau“ (Dubiel, 1978, S. 50ff)

Die inhaltliche Bandbreite der frühen Frankfurter Schule wird an dem Personenkreis deutlich, der bis zur Rückverlagerung aus der USA in die Bundesrepublik zum exilierten Kreis zu zählen war. Im Einzelnen gehörten zu den frühen Mitgliedern Gerlach und Grünberg, als wichtige Personen in der Gründungsphase inklusive Felix Weil als „Stifter“. Inhaltlich führten in den 20er und 30er Jahren eng mit dem Institut verbunden vor allem Adorno, Benjamin, Borkenau, Fromm, Grossmann Horkheimer, Kirchheimer, Kracauer, Leo Löwenthal, Marcuse, F.Neumann, Pollock und Wittfogel die zentralen Gedanken einer kritischen Theorie voran (vgl. dazu Honneth). Die Horkheimer als „diktatorischer Direktor“ zu fokussieren suchte und in wichtigen Arbeiten wie „Autorität und Familie“ und „Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches“ einen Teil der Arbeitsschwerpunkte des Instituts verdeutlichte.

Gershom Sholem, ein Freund Walter Benjamins, der diesen immer wieder dazu bringen wollte wie er nach Israel zu emigrieren, behauptete nach dem Tod Benjamins, dieser habe sich zwar in seinen Veröffentlichungen einer marxistischen Wortwahl bedient, sei aber eigentlich Metaphysiker und kein Materialist gewesen.
Was ist davon zu halten?

In dieser erzwungenen Dichotomisierung der Alternativen hat Sholem unrecht. Die Frankfurter Schule – und somit auch Benjamin – war sehr stark durch persönliche Kontakte im Rahmen eines Netzwerkes – stark auf Frankfurt a.M. konzentriert - und durch direkte „Mentor – Schüler“ – Beziehungen geprägt (vgl. Wiggershaus)

Diese frühe intellektuelle Situation nach dem WW1 kann man – folgt man den Darstellungen bei Jay, Migdal (vgl. S. 34ff) und Wiggershaus (Pos. 360ff) – zum einen durch die „Erste und zweite Marxistische Arbeitswoche“ (1922/1923) – organisiert durch Felix Weil – beschreiben und zum anderen durch die Existenz des „Frankfurter Freien Jüdischen Lehrhaus“ (gegründet 1920 und Blütezeit bis ca. 1926 Wiggershaus, Pos. 1232)

Eine Reihe von Mitgliedern der Frankfurter Schule kann man entweder als direkte Teilnehmer beider Institutionen erkennen oder zum Referenz-Umfeld zählen und bilden den Kristallisationspunkt einer revisionistischen intellektuellen Linken, die nur sehr eingeschränkte Kontakte zu den jeweiligen linken politischen Parteien (SPD, USDP, KPD) hatte. Und sich als ein eigenständiger historischer politischer Akteur begriff, der allerdings durchaus zu Gunsten des Proletariats durch "intellektuelle Interventionen" in die Politik bzw. den Klassenkampf eingreifen wollte.

Das Verhältnis von Benjamin zur „Kritischen Theorie“, vertreten in der Person von Horkheimer und Adorno in den zwanziger und dreißiger Jahren, war durch eine teilweise Übereinstimmung gekennzeichnet, die durch die Institutsleitung gerne intensiviert worden wäre, aber durch die Verfolgung von Benjamin durch die Gestapo und seinem Selbstmord nicht realisiert werden konnte (Jay, S. 237ff)

Für Benjamin, so auch Adorno, ist zutreffend, dass er „theologische und materialistische Elemente in einmaliger Weise verband“, allerdings nicht als einziger. Ausführlich ist diese Sicht auf Benjamin von Tiedemann betrachtet worden (Jay, S. 237). Seit seiner Jugend war Benjamin dem Zionismus verbunden und noch für 1931 schreibt er, so Jay: „In einem Brief an Rychner, geschrieben 1931, also zu einem Zeitpunkt, da Benjamin sich bereits für Marxismus interessierte, vermochte er immer noch zu sagen: „Ich habe nie anders forschen und denken können als in einem…theologischen Sinn….“(Jay, S. 238). Dabei stand das „Institut“ seinen theologischen Überlegungen kritisch gegenüber. (Jay, S. 239).

Allerdings ist es relevant, dass sein messianisches Verständnis seiner theologischen Überlegungen auch ein „Heilsversprechen“ auf eine bessere Zukunft implizierte, das Ähnlichkeiten mit dem positiven Versprechen der Aufklärung im Rahmen der Moderne hatte und im spezifischen Verständnis der Frankfurter Schule der konkreten „Utopie“ sich niederschlug. (Dubiel, 1978, S. 53ff). Und das betrifft das gesellschaftliche Denken vor der Erfahrung des NS-Regimes und findet seinen Niederschlag in der „Dialektik der Aufklärung“, die die Frage aufwirft, in welchem Umfang eine „endgültige Verfinsterung der Moderne“ stattgefunden hat (vgl. dazu beispielsweise R.Jaeggi in Honneth, S. 250)

Dieser theologischen Sicht kann man den Benjamin kontrastieren, der in „Über den Begriff der Geschichte“ seine historisch materialistische Sicht in Anlehnung an Marx präsentiert. Sein Verständnis von Geschichte ist stark durch die historischen Machtverhältnisse geprägt sodaß einem historisch materialistisch geschulten Historiker die Aufgabe zufällt, Geschichte im Rahmen dieser Macht- bzw. Gewaltverhältnisse zu rekonstruieren.
In jungen Jahren waren beide in der deutschen Jugendbewegung aktiv, schwärmten für verschiedenste Richtungen. Deutsche Romantik, deutscher Nationalismus, Zionismus, Sozialismus, Psychoanalyse, jüdische Mystik ... Die Ideologien jener Zeit waren vielfältig.
Dogmatismus ist vor dem Hintergrund des ideologiekritischen Grundtenors der Frankfurter Schule kaum zu rechnen.

Was ich über Benjamin weiß, deutet darauf hin, dass er die Lehre des historischen Materialismus als Analyse-Instrument oft und gern benutzt hat. [1] Davon trennen sollte man alles, was zum Bereich der politischen Parteinahme gehört,

Aufgrund der Krise des Marxismus nach dem WW1, da weder die II. noch die III. Internationale eine Sammlungsbewegung erreichte, lag nach 1920 keine halbwegs einheitlich Interpretation vor, was den Marxismus ausmachen würde und welche Hilfe er sein könne bei der Analyse bzw. Interpretation der westlichen bzw. östlichen Gesellschaften. (Dubiel, 1978, S. 50ff)

https://de.wikipedia.org/wiki/Internationale

Speziell zur theoretischen Erstarrung der SPD vor dem WW1 und eines passiven, evolutionären Verständnisses des Historischen Materialismus wurde an anderer Stelle bereits etwas ausgeführt.

http://www.geschichtsforum.de/f58/frage-bismarcks-sozialversicherung-unter-dem-aspekt-anspruch-und-wirklichkeit-52313/

Eine Trennung von Theorie und Praxis war für den Kreis der Frankfurter Schule nicht denkbar, da sie sich in einem emanzipativen Sinne für Werte einsetzten, die aus dem Umfeld der philosophischen Ideen der Aufklärung resultierten. In diesem Sinne war die Frage in den zwanziger Jahren nicht beantwortet, wie das sozialistische Experiment in der UdSSR zu bewerten sei. Zumindest einzelne Mitglieder der Frankfurter Schule, so auch Benjamin, standen dem sozialistischen Experiment aufgeschlossen gegenüber.

Diese Sicht ergab sich auch aus der theoretischen Beschäftigung mit Fragen einer gerechten sozialen Ordnung, die im Rahmen einer Planwirtschaft zu erreichen wäre. Mit diesem Punkt hatte sich Pollock beschäftigt und auch entsprechende Analysen für die Sowjetunion vorgelegt.

Scholems These, Benjamin sei kein richtiger Marxist gewesen, steht im Kontext der 68er-Bewegung. Kommunistische Studenten entdeckten Benjamin für sich als ihren Vordenker. Adorno und Scholem widersprachen. Der Streit um den Marxismus Benjamins ist daher ein politischer Streit der Nachkriegszeit und die Argumente haben zum Teil Züge einer Verschwörungstheorie.

Es ist zunächst Adorno und Sholem hoch anzurechnen, dass sie durch die Herausgabe des Werks von Benjamin, ihn vor dem völligen Vergessen bewahrt haben und er posthum die Würdigung erhielt, die ihm zu seinen Lebzeiten vorenthalten geblieben ist.

Insgesamt ist für die frühen Arbeiten der Frankfurter Schule / Kritische Theorie, im weiteren jetzt für die Phase nach dem WW2 nur noch als KT bezeichnet, zu erkennen, dass die radikalen Positionen insgesamt durch die 68er bzw. die APO aufgegriffen worden sind und als theoretische Legitimation für ihren revolutionären Protest genutzt worden sind. Das hat vor allem Horkheimer und teilweise auch Adorno in der radikalen Übertragung aus der Vorkriegsperiode zum WW2 in die Zeit des „Vietnamkrieges“ „erschrocken“ und zu Widerspruch – auch sehr deutlich durch Habermas – geführt.

Benjamin ist dabei in zweifacher Hinsicht von der APO und den damit zusammenhängenden westlichen „neue Linken“ wahrgenommen worden. In seinem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ hat Benjamin in hochspekulativer Weise die Frage nach der Gewalt im Verhältnis zum Recht formuliert. Die Schlußfolgerung, die Benjamin aus seiner Analyse der Gewalt im Recht und der Gewalt des Rechts zieht, mündet ein in eine hypothetische Rechtfertigung einer gewaltsamen Revolte. Theoretisch wurde dieser Aspekt durch Derridas Deutungen im Rahmen der „Gesetzeskraft“ und vor allem durch die Ausarbeitung von Habermas im Zuge der Entwicklung der Diskurstheorie aufgegriffen und unterschiedlich weiter entwickelt.

Bedeutsamer für die neue Linke war jedoch seine Arbeit zu einer kritischen Medientheorie, die er im „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ ausgearbeiett hat.

Insgesamt war die Bedeutung von Benjamin im Vergleich zu Marcuse für das ideologische Verständnis geringer. Marcuse dominierte mit Arbeiten wie „der eindimensionale Mensch“ und „Triebstruktur und Gesellschaft“ die politische Diskussion von „New Left“ in Europa und auch in starkem Maße in den USA. Allerdings sind seine theoretischen Positionen nicht unwidersprochen geblieben wie an „Antworten auf Herbert Marcus“ (Habermas Hrsg.) deutlich wird.

Abschließend ist festzuhalten, dass sich bei der eingehenden Beschäftigung ein spannendes, komplexes historisches Szenario entwickelt und ein sehr vielschichtiges theoretisches Gebäude der Frankfurter Schule / Kritische Theorie auftut.

Und vor allem sperrt es sich gegen die Projektion aktueller klischeehafter Vorurteile. Nicht zuletzt, da die politische Intention nur zu ersichtlich wird und zu deutlich das neutrale wissenschaftliche Interesse überlagern möchte.


Benjamin, Walter: Über den Begriff der Geschichte, in: Benjamin, Walter (2014): Gesammelte Werke: Vollständige Ausgaben. Essays, Aufsätze, Satiren, Kritiken und Autobiografische Schriften.
Benjamin, Walter; Marcuse, Herbert (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Erste Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag
Dubiel, Helmut (1974): Dialektische Wissenschaftskritik und interdisziplinäre Sozialforschung. Theorie- und Organisationsstruktur des Frankfurter Instituts für Sozialforschung (1930ff). In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 26 (2), S. 237–266.
Dubiel, Helmut (1978): Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Jay, Martin (1981): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag.
Honneth, Axel und andere (2006): Schlüsseltexte der kritischen Theorie. Für Ludwig von Friedeburg zum 80. Geburtstag. Hg. v. Axel Honneth Institut für Sozialforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Horkheimer, Max: Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung (1931), in: Horkheimer, Max (1972): Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vorträge 1930-1972. Herausgegeben von Werner Brede. Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch Verlag, S. 33-46
Migdal, Ulrike (1981): Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung. Frankfurt, New York: Campus Verlag
Tiedemann, Rolf (1973): Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Wiggershaus, Rolf (2015): Die Frankfurter Schule. Geschichte/Theoretische Entwicklung/ Politische Bedeutung.Frankfurt am Main:
 
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Die Frage, ob Benjamin ein richtiger Marxist war oder nicht, bewegt weiterhin das Feuilleton.
Anlass ist die neue Benjamin-Biografie von Lorenz Jäger. Sie trägt den vielsagenden Titel "Das Leben eines Unvollendeten".

Hierzu Micha Brumlik in der taz:
taz schrieb:
Noch problematischer werden Jägers Ausführungen, wenn er Benjamin die Aneignung „allerhärtester bolschewistischer Maximen“ zuschreibt. [...] In der Summe vollzieht Jäger also eine postume Ausbürgerung Benjamins als eines bolschewistisch-jüdischen Teilnehmers am Weltbürgerkrieg.
 
Die Frage, ob Benjamin ein richtiger Marxist war oder nicht, bewegt weiterhin das Feuilleton.

Die Frage ist schon deswegen unsinnig, weil der frühe Marx nicht identisch ist mit dem späten. Vergleich dazu beispielsweise Fromm, der auf die "Pariser Manuskripte hinweist und die anti-ökonomische Sichtweise der Analyse betont (Fromm: Marx`s Concept of Man.) Es drängt sich die Frage auf, ob Marx selber kein richtiger Marxist war. Und Engels schon gar nicht mit seiner Hinwendung zu einem evolutionären Marxismus.

Aber vermutlich ist deswegen der "Feuilleton" daran interessiert, weil auf sinnlose Fragen ebenso vielfältige wie sinnfreie Antworten gegeben werden können.

Ansonsten kann man kein Marxist sein, da der historische Materialismus zwingend davon ausgeht, dass eine Analyse an den jeweiligen Gegebenheiten zu erfolgen hat. Jede Generation muss ihren "Historischen Materialismus" neu erarbeiten, da sich die Umstände immer neu gestalten.

Glaubensbekenntnisse von früheren K-Parteien und ihren Chefideologen haben bedauerlicherweise theoretischen Aussagen von Marx zu einem erstarrten und damit sinnfreien "Evangelium" erhoben und sich selber die Rolle der "Hohepriester" zugeschrieben.

Moderne westliche "Neo-Marxisten" sind schon lange keine "Marxisten" mehr und beziehen sich genauso selbstverständlich auf Hegel, Weber, Parsons oder andere Theoretiker.

In diesem Sinne war wohl Horkheimer mindestens genauso von Schopenhauer inspiriert wie er sich auf Marx bezog. War Horkheimer "Marxist"?
 
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Nicht direkt zur Sache, wer nach Port Bou kommt, sollte unbedingt das Denkmal oder den Gedächtnisort "Passagen" für Walter Benjamin anschauen.
Meiner Ansicht nach ein beeindruckendes Denkmal - die nach unten führende steile Treppe ins "Nichts", oder besser zum Meer, dass hier nicht wie im griechischen als Brücke (Pontos) sondern als unüberwindliche Grenze erscheint - meiner Ansicht nach ist es dem Erbauer Dani Karavan gut gelungen, die Aussichtslosigkeit der Flucht darzustellen.
Auf einer Plexiglasscheibe steht dann, wenn man sich nähert lesbar, ein Zitat aus Benjamins Werk "Über den Begriff der Geschichte"
Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.
Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.
Walter Benjamin, G.S. I, 1241“

Wenn das kein Auftrag für ein Geschichtsforum ist ....

https://de.wikipedia.org/wiki/Gedenkort_„Passagen“
 

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Die Ausstellung zu Benjamin (und Brecht) in der Berliner Akademie der Künste läuft noch eine Weile:

Benjamin und Brecht. Denken in Extremen


Die Feuilletonisten geben sich da wohl die Klinke in die Hand.

Die Beziehung zwischen Walter Benjamin (1892–1940) und Bertolt Brecht (1898–1956) ist eine außergewöhnliche Konstellation. Höchst unterschiedlich geprägt, nähern sich der Kritiker und der Dichter in der Weimarer Republik einander an. Sie diskutieren Grundfragen der Kunst und der Politik in einer Form, die bis heute Spannungen erzeugt. Im Exil entsteht eine verlässliche Freundschaft. Die Ausstellung der Akademie der Künste zeigt die Aktualität dieser Begegnung, das historisch Doku-mentierbare, das Echo von Freunden und Feinden sowie Momente der Rezeption. Sie geht aus von der persönlichen Nähe und reagiert auf den Umstand, dass die Namen Benjamin und Brecht Chiffren geworden sind, Modelle für die Kunst und die Weltbetrachtung. Zu sehen sind Handschriften, Objekte aus Brechts Wohnung und künstlerische Kommentare von Zoe Beloff, Adam Broomberg/Oliver Chanarin, Edmund de Waal, Felix Martin Furtwängler, Friederike Heller, Alexander Kluge, Mark Lammert, Thomas Martin/Irina Rastorgueva/Jakob Michael Birn, Marcus Steinweg und Steffen Thiemann.
 
Nach meinem Eindruck ist das Werk von Siegfried Bernfeld für die Jugendbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts sehr aussagekräftig. Spannend ist, dass Bernfeld sowohl als "Führer" mehrerer Jugendbewegungen als auch als psycho- und sozialwissenschaftlicher Theoretiker in Erscheinung tritt.

Bernfeld ist ein interessanter Vertreter aus einem Umfeld von hochproduktiven und originellen Theoretikern und mir nicht bekannt gewesen. Als Ergänzung zu dem Beitrag auf Wiki noch ein paar interessante Aspekte für das Verständnis von Bernfeld.

https://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_Bernfeld

Einen frühen interessanten Einfluss hatte Bernfeld auf Lazarsfeld, der mit Jahoda und Zeisel u.a. die klassische Studie zu "die Arbeitslosen von Marienthal" verfasst hatte, kennen, Bei seiner Tätigkeit in der sozialdemokratischen Jugendbewegung lernte Lazarsfeld in den 20er Jahren Bernfeld kennen. Zu dem Zeitpunkt war Bernfeld u.a. der Leiter des Wiener Kinderheims für Kriegswaisen, an dem zukunftsorientierte Modelle der Jugendselbstverwaltung praktiziert worden sind. Und in der Folge seinen Ruf als wegweisender Pädagoge zu sein, wobei diese Anerkennung erst spät nach dem WW2 einsetzte.

Auf Anregungen von Bernfeld besuchte Lazarsfeld die Vorlesungen von Charlotte und Karl Bühler am Psychologischen Institut der Wiener Universität und startete von hier aus seine Karriere in den USA.

Bernfeld, so Wiggershaus, gehörte in den späten 20er frühen 30er Jahren neben Fromm und W. Reich zu den Linksfreudianern, die den Versuch unternommen haben, die Freudsche Trieblehre und die Marx`sche Klassentheorie zu kombinieren.

In den späten 20er Jahren öffnete sich Horkheimer der Psychoanalyse und es kam über den Kontakt von Horkheimer zu Karl Landauer zur Öffnung des "Frankfurter Psychoanalytischen Instituts". Es entstand ein institutsübergreifendes Netzwerk, dem u.a auch Fromm, Frieda Reichmann, Leo Löwenthal und auch Bernfeld angehörten.

Zur Eröffnung des Psychoanalytischen Instituts am 16.02.1929 hielt Fromm einen Vortrag über die Anwendung der Psychoanalyse auf Soziologie und Religionswissenschaft. "Er entwarf das Konzept einer antimetaphysischen und historischen Anthropologie, das der von Wilhelm Reich und Siegfried Bernfeld vorgenommenen Historisierung bestimmter psychoanalytischer Kategorien eine allgemeine, historisch materialistische Form gab und vorwegnahm, was Horkheimer in den Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie entwickelte." so Wiggershaus.

In den ersten Monaten nach Gründung des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts gehörte neben Hanns Sachs, Anna Freud und Paul Feder auch Bernfeld zum Kreis der "bedeutenden Wissenschaftler", so Jay, die Seminare hielten. (Jay, S. 115). Und diese Phase gehörte zur Hochphase des Instituts für Sozialforschung und des Frankfurter Psychoanalytischen Instituts.

https://de.wikipedia.org/wiki/Frankfurter_Psychoanalytisches_Institut

Insgesamt war Bernfeld ein hervorragender Wissenschaftler, dem durch die zeitlichem Umstände Entwicklungspfade nach 1933 in Deutschland verbaut worden sind. Und er gehörte zu dem Kreis an Wissenschaftlern, deren Emigration, ähnlich wie bei Lazarsfeld, zu einem Verlust an qualifizierten Wissenschaftlern führte.

Aus dem Kreis der emigrierten Wissenschaftler, es gehörte Lazarsfeld dazu, kamen viele der Protagonisten, die die empirisch orientierte Sozialforschung in den USA einen deutlichen Schub gaben. Und es dauerte in der BRD relativ lange bis man nach dem WW2 Anschluss fand an dieser Tradition.

Jay, Martin (1981): Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag.
Wiggershaus, Rolf (2015): Die Frankfurter Schule. Geschichte/Theoretische Entwicklung/ Politische Bedeutung.Frankfurt am Main:
 
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Bernfeld und Benjamin engagierten sich beide in der Jugendbewegung, obwohl Bernfeld in Wien und Benjamin in Berlin bzw. in verschiedenen reformpädagogischen Internaten in Deutschland aufwuchs. Beide publizierten als Jugendliche in der verbotenen Jugendzeitschrift "Der Anfang", herausgegeben vom Reformpädagogen Gustav Wynecken, der einige Zeit tatsächlich Lehrer an Benjamins Schule war. Benjamin und Bernfeld nahmen im Gefolge ihres damaligen Gurus (damals sagte man noch Führer) Wynecken am Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner (Hessen) im Jahr 1913 teil.

Mit Beginn des 1. Weltkrieges positionierten sich Wynecken und andere Akteure der Jugendbewegung zunehmend deutschnational und antisemitisch, was zum Bruch mit Benjamin und Berndfeld führte.
Bernfeld baute unter Zuhilfenahme des Philosophen Martin Buber eine jüdische Jugendbwegung in Österreich auf.
Benjamin lernte hingegen Gershon Scholem kennen, der stark durch die jüdische und sozialistische Jugendbewegung und ähnlich wie Bernfeld durch Martin Bubers Kulturzionismus geprägt war.

Sehr gut aufgearbeitet ist die über Jahrzehnte übersehende Zusammenarbeit von Bernfeld und Benjamin in der Jugendbewegung in Peter Dudek (2002): Fetisch Jugend - Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges.

Nochmals zum Streit zwischen Scholem und Adorno:
Scholem war Anhänger des Kulturzionismus im Sinne von Buber. Die Lehre Bubers ist zwar auch ein bisschen sozialistisch, aber eben nicht atheitisch wie der reine Marxismus.
 
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