Ich bezweifle auch ob es ein Sinn machen kann, Geschichte zu ergründen zu wollen, ohne einen gegenwärtigen Bezug, der ja ohnehin aus ihr selbst heraus gegeben ist indem wir ihre Kinder sind.
Richtig! Und deswegen noch ein paar weitere Aspekte.
Aus Geschichte lernen alle. Der normale Bürger, der Rechtsextreme, ein Politiker, der Historiker oder eine Vertreter der historischen Soziologie.
Teilweise beziehen sie sich auch auf die gleichen Ereignisse, bei denen Neonazis an den Kampf um die Normandie im Jahr 1944, so Langebach und Sturm, einzelnen heroisierte Soldaten der Wehrmacht gedenken, während die offiziellen Vertreter der ursprünglichen Kriegsparteien allen Opfern der Invasion gedenken.
Und aus diesen unterschiedlichen Erinnerungskulturen auch der Zwang resultiert, die eigene Sicht auf die Geschichte als die richtige durchzusetzen.
Es ist also die gesellschaftliche Einordnung und die Bewertung von historischen Ereignissen, die die Art der kollektiven Erinnerung und auch das Vergessen definiert. Und das wirft die Frage auf, ob und wie es möglich ist, historischen Ereignisse neutral und objektiv zu rekonstruieren und an welchen Kriterien das zu überprüfen ist.
Ein richtiges und nicht verklärendes Andenken an historische Ereignisse kann nur gelingen, sofern wir weiterhin die Forderung stellen, dass Geschichtsschreibung dem Imperativ einer wissenschaftlichen Objektivität unterliegt (vgl. z.B. Novick zur ausführlichen Diskussion in den USA) Trotz allem Gerede über einen angeblichen "postfaktischen" Trend. Eine Objektivität, die sich Vorstellungen verbunden fühlt, die in den Kanon des europäischen Wertesystems gehören und dennoch nicht gleichbedeutend sind mit einer Parteinahme für irgendeine Gruppierung. Und die sich in Opposition zu dem Werterelativismus von „Deconstruktivisten“ befindet, der kein "Wahrheitskriterium" jenseits der individuellen Meinung mehr zulassen kann (Derrida etc.) sieht (vgl. die Kritik dazu in Evans, Kap 8, Pos. 4217ff)
Und gleichzeitig sich im Rahmen des eigenen wissenschaftlichen Werturteils rückversichert, bewußt oder unbewußt keine Apologie zu betreiben und so keine historischen Rechtfertigungen für staatliches Handeln bereit zu stellen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Werturteilsstreit
Und es für den Kontext einer an „Wahrheit“ orientierten Historiographie relevant, dass ein Wertkonservativer wie McCain (ex republikanischer Präsidentschaftskandidat), die Unabhängigkeit der Medien und somit von Berichterstattung (darunter fällt im weitesten Sinne natürlich auch „Sozial-Wissenschaft“) als zentrale Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie bezeichnet, und Washington Post schreibt: „In the “Meet the Press” interview, McCain told Todd that a free press was central to a functional democracy, even if news organizations' stories challenged those being held accountable.“
Das Problem ist jedoch, dass es anders als im Bereich der Naturwissenschaften keine „Objekte“ an sich gibt, sondern sie müssen sprachlich als Konstrukte definiert werden, damit wir überhaupt in der Lage sind, Geschichte zu denken und sie analytisch zu fixieren. Historische Konstrukte werden mit Bedeutungen aufgeladen und sie werden auch im Rahmen des individuellen Werturteils mit einer positiven oder negativen Bedeutung versehen.
Und der Streit, auch der „Historikerstreit“, drehte sich um Konstrukte, die geschichtliche Ereignisse beschreiben und ihre Bewertung. Und somit auch die Frage der „Singularität“ des Holocaust betroffen haben. Es geht dabei nicht nur um die Frage, ob eine historische Beschreibung durch historische Dokumente belegt werden kann, sondern es geht auch um die Frage, mit welchen Konstrukten sie angemessen beschrieben werden und somit in die Kontinuität und Brüche der Geschichte eines Staates eingebunden.
In diesem Kontext setzt sich beispielsweise Wehler mit der Darstellung von H. Köhler`s „Jahrhundertgeschichte“ auseinander, der bestimmte Begriffe als „marxistisch eingefärbt“ kritisiert, die allerdings bereits bei bedeutenden Wissenschaftlern vor Köhler, wie bei Schmoller, Mommsen, Weber, Sombart oder Preuss eingeführt waren. Und Wehler stellt zu Recht die Frage, ob mit dieser Kritik von Köhler an Konstrukten ein revisionistisches – präziser formuliert – ein extrem konservatives Weltbild in Abgrenzung zu der bisherigen wissenschaftlichen Terminologie transportiert werden soll. (Wehler, S. 157)
Von einer anderen Sicht spricht sich Nipperdey für eine unvoreingenommene Verwendung von Konstrukten aus, sofern sie helfen, historische Ereignisse analytisch angemessen zu beschreiben, wie beispielsweise der Begriff des „Imperialismus. Und schlussfolgert in diesem Sinne, dass man durchaus mit Konstrukten sinnvoll arbeiten kann als Historiker, die in ihrem Entstehungszusammenhang einen marxistischen Hintergrund gehabt haben. Und das ihre Verwendung nicht zwangsläufig bedeutet, dass man „Marxist“ sei muss(Nipperdey, Kap 3, Pos. 1122) Und damit weist Nipperdey auf die Möglichkeit einer Selbstzensur hin, die Wehler wiederum empirisch zutreffend an einem Beispiel benennt, als er verwundert feststellte, dass es analytisch für die Beschreibung der deutschen Gesellschaft keine "Unterschicht" mehr geben würde.
Relevanter erscheint zudem, dass Nipperdey an der Idee festhält, man würde einen kumulativen Wissensprozeß auch im Bereich der Historiographie haben. Und das bedeutet aber auch im Gegensatz zu beispielsweise Köhler, dass es nicht damit getan ist, eingeführte Konstrukte mit dem ideologischen Skalpell aus der Wissensbestand der Historiographie beliebig herausoperieren zu können. Ohne sich seinerseits dem Vorwurf der ideologischen Manipulation auszusetzen. (vgl. z.B. Nipperdey, Kap 3, Pos. 1154 )
Diese oben aufgeführten Konfliktlinien zwischen Wehler, Köhler und Nipperdey verweisen auf den Prozess einer permanente Neuerfindung und somit Revision von Geschichte. Und dieser Impuls kommt nicht selten aus einem Umfeld, das ein Interesse an einem "neuen" Narrativ hat und somit sind neue Deutungsmuster nach dem Erkenntnisinteresse kritisch zu hinterfragen. An diesem Punkt wird dann mehr als deutlich, wie stark die aktuelle Politik die retrospektive Geschichtsdeutung beeinflußt und von der eigentlichen Geschichtsschreibung nicht zu trennen ist.
Die Frage, welche Darstellung der Vergangenheit einer Gesellschaft angemessen ist, zeigt sich am Stellenwert der Historiographie im Rahmen der Erinnerungskultur, wie bei Assmann dargestellt. Es ist aber auch mit Koselleck kritisch anzumerken, dass „Historia docet“, also dass mit Geschichte alles belegt werden kann. „Oder anders gewendet: Man findet, was man sucht.“ (Koselleck, Pos. 2596).
Das wirft die Frage auf, unter welchen Umständen somit historische Erkenntnisse produziert werden. In Ahnlehnung an die Arbeiten von Halbwachs wird die sprachliche Vermittlung von sozialem Erinnern an vergangene Ereignisse zum Kristallisationspunkt für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Dieses auch vor dem Hintergrund der Subjektivität von Erkenntnis und der sprachlichen Vermittlung im Rahmen eines Diskurses. Wie bei Habermas im Diskursmodell der Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Theorien im Anschluss an den „Pragmatismus“ bei Peirce formuliert (vgl. dazu auch Appelt etc.)
https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Sanders_Peirce
https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Halbwachs
Es sind somit vor allem die Rahmenbedingungen innerhalb einer Gesellschaft, die diesen Diskurs entweder uneingeschränkt zulassen oder aber ideologische Barrieren formulieren, die nicht übersprungen werden dürfen. Nur eine offene und demokratische Gesellschaft – inklusive einer weltweiten scientific community - ohne zensierende Eingriffe in die Produktion von Wissenschaft - ist in der Lage, kritische Ergebnisse hervorzubringen und zu diskutieren und damit die notwendige Qualitätskontrolle der Theorien sicher zu stellen, wie ausführlich bei Appleby, Hunt und Jacob in Bezug auf Demokratien dargestellt (vgl. ebd. Kap 8 The Future of History)
Exkurs: Und genau das ist der springende Punkt in der deutlichen Ablehnung einer auf „deutsche“ Publikationen reduzierte Historiographie. Nur die internationale Pluralität der Meinungen verhindert eine einseitige und apologetische Sicht auf Geschichte, auch auf deutsche Geschichte. Nicht zuletzt weil sich die Geschichtsschreibung dagegen wehren muss, Staatsbürgerlicher Unterricht zu sein wie ein Stürmer die Rolle der Historiographie gerne neu definiert hätte.
Und ein Beispiel für die Funktionsfähigkeit einer eigenständigen und kritischen Geschichtsschreibung liefert beispielsweise MacMillan die in dem Kapitel „Who owns the Past“, den Konflikt in 1959 zwischen dem Luftfahrministerium und der RAF und der unabhängigen und kritischen offiziellen Geschichtschreibung (durch J. Butler et al. ) auch zum Bomberkrieg anführt und die Unabhängigkeit der historischen Darstellung betont(ebd. Kap 3, , Pos. 478). In diesem Kontext antwortete ein Kabinettsmitglied dem Ministerium sehr eindeutig: „The histories were not meant to whitewash the recors. Rather, by dealing with difficult issues, they could help future governments learn from past mistakes.“ (ebd. Pos. 509. Eine bemerkenswerte Antwort, die der historischen Wahrheit sich verpflichtet fühlte und das Lernen aus der Geschichte, wenn es unangenehm sein sollte, hoch bewertete.
In diesem Sinne zitiert MacMillan Michael Howard zustimmend: „The proper role for historians is to challenge and even explode national myths. (ebd. Pos 478).
Und an diesem Punkt sollte man deutlich sagen, dass die BRD / Deutschland an vielen Punkten eine offene und selbstkritische Aufarbeitung ihrer Vergangenheit geleistet hat. Auch eingefordert durch eine rebellische akademische Jugend im Kontext der Apo.
Wenngleich auch Gegentendenzen vorhanden sind, die eine neue Sicht auf deutsche Geschichte in Anknüpfung an imperiale Traditionen vornehmen wollen und versuchen, die kritischen Traditionsbestände der deutschen Geschichtsschreibung durch einen neuen, nationalistischen Narrativ zu ersetzen.
Appleby, Joyce Oldham; Hunt, Lynn; Jacob, Margaret C. (1994): Telling the truth about history. New York: Norton.
Assmann, Aleida (2011): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck.
Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. Originalausgabe. München: C.H. Beck
Evans, Richard J. (2001): In defence of history. Rev. ed. London: Granta Books.
Habermas, Jürgen; Thyen, Anke (2008): Erkenntnis und Interesse. Hamburg:
Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Koselleck, Reinhart (2014): Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Berlin:
Langebach, Martin; Sturm, Michael (2015): Erinnerungsorte der extremen Rechten. Wiesbaden: Springer VS
MacMillan, Margaret (2010): The uses and abuses of history. London: Profile.
Nipperdey, Thomas (2013): Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays, München: Beck
Novick, Peter (1988): That noble dream. The "objectivity question" and the American historical profession. Cambridge [England]: Cambridge University Press
Wehler, Hans-Ulrich (2003): Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays. München: Beck