Der "böhmische Gefreite"

Sepiola

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Oft kann man lesen, Hindenburg habe Hitler als "böhmischen Gefreiten" bezeichnet. Den frühesten Beleg habe ich bisher in Konrad Heidens Hitler-Biographie (Band 1 "Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit", Zürich 1936, S. 288) gefunden. Da wird der Ausspruch auf Hindenburgs erste Begegnung mit Hitler (10. Oktober 1931) zurückgeführt:

Einen Tag vor der Harzburger Kundgebung treten die beiden vor Hindenburg an. Die nationalsozialistischen Darstellungen sind sehr schweigsam über diese Begegnung, die ein schwerer Mißerfolg von Hitlers Verhandlungskunst ist. Offenbar hat er vergessen, daß ein alter Soldat nur auf die Fragen seines Feldmarschalls antwortet; er kommt nach seiner Gewohnheit ins unendliche Reden und wird dem alten Herrn lästig. Nach der Begegnung sagt der Präsident zu Schleicher, er habe ihm da einen sonderbaren Kerl geschickt; dieser böhmische Gefreite wolle Reichskanzler werden? Niemals! "Höchstens Postminister."
Otto Meissner, Staatssekretär im Büro des Reichspräsidenten und engster Mitarbeiter Hindenburgs, erinnert sich an die Begegnung wie folgt:

Während der Regierungsbildung am 10. Oktober 1931 empfing der Reichspräsident neben anderen Parteiführern zum ersten Mal auch Adolf Hitler zu einer Unterredung. In dieser Besprechung versuchte Hindenburg den Führer der Nationalsozialisten zu einer positiveren Einstellung zur Reichsregierung und zu einer Beteiligung oder Tolerierung des neuzubildenden Kabinetts Brüning zu gewinnen. Hitler, der von Göring begleitet war, antwortete ausweichend, legte in längeren Ausführungen seine und seiner Bewegung Ziele und seine Auffassung über die Notwendigkeit einer einheitlichen Regierungsführung dar, versicherte aber unter Hinweis auf seine zeugeneidliche Aussage im Leipziger Prozeß gegen die drei Reichswehroffiziere, daß er seine Ziele nur auf legalem Weg erreichen wolle. Als ihm Hindenburg die scharfen Reden seiner Unterführer und die häufigen gewalttätigen Überfälle seiner Anhänger auf politische Gegner vorhielt, die mit dieser Legalitätsversicherung nicht in Einklang ständen, erwiderte Hitler, daß er seine Partei angewiesen habe, ihre Ziele nie mit ungesetzlichen Mitteln zu verfolgen und daß er gegen jeden ihm zur Kenntnis gebrachten ÜBergriff einschreiten werde. Seine Versammlungen und Anhänger würden aber häufig von den Linksradikalen angegriffen und handelten in Notwehr, wenn sie sich dagegen verteidigten. So endete diese erste Unterhaltung zwischen Hindenburg und Hitler trotz des dringlichen Appells des Reichspräsidenten an Hitlers Vaterlandsliebe und soldatisches Pflichtgefühl ohne irgenein Ergebnis.
Otto Meissner: Ebert, Hindenburg, Hitler - Erinnerungen eines Staatssekretärs 1918-1945, Esslingen/München 1991, S. 202 (Erstausgabe 1950 unter dem Titel "Staatssekretär unter Ebert, Hindenburg und Hitler")

Um eine Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kann es bei dieser Gelegenheit nicht gegangen sein.
Bringt Heiden zwei Episoden durcheinander?

Es gibt eine (allerdings umstrittene) Notiz des damaligen Chefs der Heeresleitung, Kurt von Hammerstein-Equord, laut der Hindenburg wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gesagt haben soll:
"... er dächte gar nicht daran, den österreichischen Gefreiten zum Wehrminister oder Reichskanzler zu machen‘ (wörtlich am 26. Januar 1933 um 11.30 Uhr vormittags vor einem Zeugen)."
http://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A7428/attachment/ATT-0/

Ein weiteres angebliches Hindenburg-Zitat geistert in der Literatur herum:
"Reichskanzler will der werden? Höchstens Postminister. Dann kann er mich auf den Briefmarken von hinten lecken."

Weiß jemand, wann und wem gegenüber des Wort vom "böhmischen Gefreiten" wirklich gefallen ist?
 
Zuletzt bearbeitet:
Zur Besprechung vom 10. Oktober 1931 gibt es noch eine zeitnahe Quelle. Magnus von Levetzow teilte am 14. Oktober Guidotto von Donnersmarck die Version mit, die ihm Hitler und Göring erzählt hatten.
Levetzow fährt dann fort: "Wenn man hieraus den Eindruck gewinnt - und Hitler hat in der Tat diesen Schluß gezogen-, daß dem Alten Hitler und Göring recht gut gefallen haben, so wird dieser Eindruck wieder verwischt durch verbürgte Äußerungen vom Reichspräsidenten, wonach ihm die beiden Männer nicht sonderlich gefallen hätten, Äußerungen, die natürlicherweise über kurz oder lang ihnen zu Ohren kommen werden."
(Gerhard Granier, Magnus von Levetzow - Seeoffizier, Monarchist und Wegbereiter Hitlers - Lebensweg und ausgewählte Dokumente, Boppard 1982, S. 311)

Leider erfährt man auch hier nicht, wie die Äußerungen lauteten und durch wen sie verbürgt sein sollen...
 
In die Zeit passte auch, dass einfach beschlossen wurde, die fragliche Äußerung zu komplettieren, da man ja gedachte, ihn unter Kontrolle zu halten.

Aber da es in nicht öffentlischem Gespräch gefallen ist, mag wird es vielleicht nur mündlich weitergegeben worden sein. Dazu passt ja dann auch die Divergenz Böhmisch - Österreichisch. Wirklich direkte Quellen, braucht es dann nicht geben, ohne dass das Zitat anzufechten ist. Griffige Sprüche wurden ja seit der Renaissance wieder gesucht, auch wenn es da in der 2. Hälfte des 21. Jahrhunderts eine Delle gab. Es wurde ja auch in der Schule geübt. Und von der Satzmodie passte böhmisch auch besser. Wenn man es mal philologisch betrachtet. :D

Das 20. Jahrhundert ist ja nicht mein eigentlicher Bereich, aber ich habe im Kopf, dass es auf mündliche Äußerungen von Ohrenzeugen beruht. Da bleibt dann nur zur schauen, ob es passen kann, und ansonsten entweder alle Aussagen, die gleich schriftlich fixiert oder aufgenommen wurden zu streichen oder es zu akzeptieren. Und das ist eben in allen Zeiten so. Ob nun bei karthagischen Feldherren oder deutschen Reichspräsidenten.
 
Es ist hier natürlich so, dass die "verbürgten Äußerungen" verschwiegen werden und die unverbürgten Äußerungen ein Eigenleben entwickeln.
Der "Postminister" taucht erstmals 1936 auf, die "Briefmarken" erstmals 1950:

Von Hindenburg war vorher schon folgendes erzählt worden: als man ihm einmal Hitler als Reichskanzler nannte, da habe er geantwortet: "Hitler Reichskanzler? Höchstens Postminister; da kann er mich dann - auf den Briefmarken hinten ..."
Ernst von Weizsäcker, Erinnerungen, München/Leipzig/Freiburg 1950

Da ist der "böhmische Gefreite" allerdings schon wieder ganz draußen.

Dazu passt ja dann auch die Divergenz Böhmisch - Österreichisch.
Unsere zeitnächste Quelle spricht vom "österreichischen Gefreiten" (und datiert das Zitat auf 1933, nicht 1931). Falls wir hier dem O-Ton am nächsten sein sollten, wäre das auch abwertend gemeint gewesen, "denn Hindenburg war wegen der Erfahrungen mit der Donaumonarchie am Krieg schlecht auf alles Österreichische zu sprechen" (Wolfram Pyta, Hindenburg - Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, München 2007, S. 637)

Der "Gefreite" gehörte zu Hitlers Selbststilisierung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Reich...,_Wahlplakat_der_NSDAP_zur_Reichstagswahl.jpg
 
Um eine Ernennung Hitlers zum Reichskanzler kann es bei dieser Gelegenheit nicht gegangen sein.

Das erste Gespräch unter 4 Augen zwischen Hindenburg und Hitler fand am 19. November 1932 statt. Ursprünglich auf 15 Minuten angesetzt, dauerte es 65 Minuten.

In diesem Gespräch soll Hindenburg gesagt haben: "Helfen Sie mir. Ich erkenne durchaus den großen Gedanken an, der in Ihnen und Ihrer Bewegung lebt und würde es daher begrüßen, Sie und Ihre Bewegung an der Regierung beteiligt zu sehen." (Protokoll in Akten der Reichskanzlei. Bd 2, S. 984ff zitiert in Pyta S. 753)

"Hindenburg ging bei diesem Treffen einen Schritt weiter auf Hitler zu und schloss dessen Kanzlerschaft nicht mehr kategorisch aus. (Pyta, S. 753)

Der Hintergrund für diesen Wandel der Sicht von Hindenburg ist ein gleichzeitig erstellten Memorandum aus der Wirtschaft und Landwirtschaft und es befanden sich darunter Personen, die Hindenburg schätzte (wie der Präsident des Reichslandbundes, Graf v. Kalckreuth), die sich für Hitler aussprachen. Gute Timing.

Und so folgert Pyta aus den Ereignissen:
"In den Augen Hindenburgs war Hitler im November 1932 mittlerweile durchaus für die Kanzlerschaft befähigt." (ebd. S.756)

Oft kann man lesen, Hindenburg habe Hitler als "böhmischen Gefreiten" bezeichnet.

Aus seinem wilhelminischen Weltbild heraus wird die soziale Einordnung von Hitler korrekt sein. Ähnlich wird Hindenburg als "emotionaler Monarchist" charakterisiert, der zwar Monarchist ist, aber dieses nicht auf die politische Agenda gesetzt hatte.

Das gesellschaftliche Weltbild von Hindenburg speiste sich dabei aus zwei Überlegungen. Zum einen weil Hitler nicht adelig war und zum anderen weil er kein Offizierspatent hatte war er keiner von "Ihnen". Und diese zwei Aspekte definierten die soziale Position im wilhelminischen Deutschland sehr ausgeprägt. Und in diesen Kategorien dachten die post-Wilhelminer noch in der WR.

Insofern ist das Zitat zumindest sinngemäß für die Periode innerhalb der WR zutreffend und verdeutlicht den preußischen, aristokratischen und militaristischen Standesdünkel. Der aber für die reale Politik von Hindenburg ab Ende 1932 wohl keine praktische Bedeutung hatte.

Es gibt eine (allerdings umstrittene) Notiz des damaligen Chefs der Heeresleitung, Kurt von Hammerstein-Equord, laut der Hindenburg wenige Tage vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler gesagt haben soll: "... er dächte gar nicht daran, den österreichischen Gefreiten zum Wehrminister oder Reichskanzler zu machen‘ (wörtlich am 26. Januar 1933 um 11.30 Uhr vormittags vor einem Zeugen)."

Dieses Zitat steht in deutlichem Kontrast zu obigen Deutungen von Pyta und zu den realen Ereignissen.

Pyta, Wolfram (2007): Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler. 1. Aufl. München: Siedler.
 
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Dieses Zitat steht in deutlichem Kontrast zu obigen Deutungen von Pyta und zu den realen Ereignissen.

Pyta dazu:

WELT ONLINE: Aber nur wenige Tage vor dem 30. Januar hatte Hindenburg dem General Kurt von Hammerstein-Equord noch versichert, den „österreichischen Gefreiten“ keinesfalls zum „Wehrminister oder Reichskanzler“ zu machen. Wie kam es zu dem Sinneswandel?

Pyta: Schon seit dem Oktober 1931 wird Hitler in den Augen Hindenburgs zunehmend ministrabel, und ab November 1932 hält ihn der Reichspräsident sogar für geeignet für die Kanzlerschaft – aber natürlich nur zu den Bedingungen Hindenburgs. Damals gab Hitler zu erkennen, dass er bereit sei, diese Bedingungen zu akzeptieren. Damit rückte die Verwirklichung eines gemeinsamen Ziels näher, das man als das „Projekt Volksgemeinschaft“ umschreiben kann: die innere Einigung des deutschen Volkes, wie sie scheinbar im August 1914 bereits einmal gelungen war. Hindenburg fühlte sich als der politische Treuhänder dieser Volksgemeinschaft, die bei ihm mit der Ausschaltung aller internationalistisch ausgerichteten Kräfte verbunden war. Er wollte die völlig zerstrittene politische Rechte zusammenführen – das ging in seinen Augen nur mit einem Kanzler Hitler. Was das angeführte Zitat angeht: Hindenburg wischte damit eine als unerbetene Einmischung empfundene politische Warnung des nicht sehr geschätzten Hammerstein beiseite. Das sollte man nicht zu hoch bewerten.
https://www.welt.de/kultur/article1534449/Der-Reichspraesident-war-nie-eine-Marionette.html


Aber was sind die realen Ereignisse?


Dagegen Lars Voßen (Masterarbeit):

Alle Quellen belegen, dass Hindenburg selbst bis zum 27./28. Januar weiterhin gegen Hitler als Reichskanzler war und es in Gesprächen mit Papen, Meissner sowie General Hammerstein und sogar Schleicher zum Ausdruck brachte - ein Faktum, das Pyta in seiner Studie umgeht. Er zweifelt den Wahrheitsgehalt der Niederschrift Hammersteins an und vermutet, dass Hindenburg jene Aussage nur im Affekt getroffen habe. Selbst wenn dies stimmen sollte, bleiben die Einträge von Goebbels und Ribbentrop als Belege für Hindenburgs Widerstand gegen eine Kanzlerschaft Hitlers übrig, die Pyta nicht nennt.
http://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A7428/attachment/ATT-0/


Meissner, S. 257:
Nachdem in einer gemeinsamen Aussprache, die am 28. Januar 1933 im Arbeitszimmer des Reichspräsidenten stattfand, sowohl von Papen als auch Oberst von Hindenburg und ich uns dahin geäußert hatten, daß uns keine andere verfassungsmäßige Lösung mehr möglich erscheine als die, unter der Führung von Hitler eine Rechtsregierung mit möglichst starken Gegengewichten gegen eine nationalsozialistische Vormacht zu bilden, erklärte Hindenburg, seine bisherige Bedenken zurückstellen zu wollen.


Eine ungehaltene Reaktion Hindenburgs auf Hammerstein überliefert auch Meissner, allerdings für den Abend des 28. Januar in der Folge von Schleichers Rücktritt (S. 259):
Hindenburg unterbrach den General von Hammerstein, ehe er weitere politische Ausführungen machen konnte, ziemlich ungehalten mit den Worten: "Ich weiß selbst, was für die Wehrmacht tragbar ist und muß in dieser Beziehung Belehrungen der Herrn Generale ablehnen." Herr von Hammerstein und die anderen Generäle möchten sich um die Ausbildung der Truppe kümmern und sich nicht in die Politik einmischen, die seine und der Reichsregierung Angelegenheit sei. Damit waren die beiden Generäle ziemlich ungnädig entlassen.
 
Eigentlich ist das ein schönes Beispiel, welche Spannbreite der Interpretation Quellen bieten.

Unabhängig vom einzelnen Zitat und seiner Auslegung kann man - über alles - Hindenburg in den letzten Jahren der Weimarer Republik als hin- und hergerissen annehmen: der ordinäre, pöbelnde, niedrigrangige Gefreite/Volkstribun Hitler dürfte ihm - aus der höchsten kaiserlichen Generalität - zutiefst zuwider gewesen sein. Auf der anderen Seite wird dieser hölzerne, senile, zum Reich (in seinen Kategorien) grundloyale GFM - "hier stehe ich, aus Pflicht und Berufung, ich kann nicht anders" - völlig verzweifelt und unsicher gewesen sein angesichts der politischen Lage.

Vermutlich kann man beide Versionen "lesen", und vermutlich wechselten Hindenburgs Einstellungen tageweise, wenn nicht stündlich.

Natürlich war er Steigbügelhalter, oder diente dazu. Aus welchem Antrieb und mit welchem "Vorsatz" er das abgab, lässt sich wohl nicht festnageln.
 
Das erste Gespräch unter 4 Augen zwischen Hindenburg und Hitler fand am 19. November 1932 statt. Ursprünglich auf 15 Minuten angesetzt, dauerte es 65 Minuten.

In diesem Gespräch soll Hindenburg gesagt haben: "Helfen Sie mir. Ich erkenne durchaus den großen Gedanken an, der in Ihnen und Ihrer Bewegung lebt und würde es daher begrüßen, Sie und Ihre Bewegung an der Regierung beteiligt zu sehen." (Protokoll in Akten der Reichskanzlei. Bd 2, S. 984ff zitiert in Pyta S. 753)

Der Wortlaut des Protokolls ist online verfügbar. Ich zitiere die Äußerung in einem etwas erweiterten Zusammenhang (Hervorhebungen von mir):

Der Herr Reichspräsident faßte die persönliche Aussprache in ihren wesentlichen Punkten dahin zusammen: „Herr Hitler hat erklärt, er habe die stärkste Volksbewegung in Deutschland hinter sich; man könne aber nur regieren mit einer starken Volksstimmung als Stütze. Hieraus leite er das Recht ab, daß er als Führer der Bewegung an die Spitze einer neu zu bildenden Regierung gestellt werde. Ich habe ihm hierauf erwidert, daß ich an dem Grundsatz einer überparteilichen Regierung festhalten müsse. Eine Regierung, die von Herrn Hitler geführt würde, wäre eine Parteiregierung. Herr Hitler und der Nationalsozialismus kann doch seine Ziele auch in anderer Form erreichen dadurch, daß ihm in einer von einem überparteilichen Manne geleiteten Regierung einige Ministerposten zugewiesen würden.
...
Der Herr Reichspräsident „Ich kann immer nur meine Bitte wiederholen: Helfen Sie mir. Ich erkenne durchaus den großen Gedanken an, der in Ihnen und Ihrer Bewegung lebt, und würde es daher begrüßen, Sie und Ihre Bewegung an der Regierung beteiligt zu sehen. Ich zweifle durchaus nicht an der Ehrlichkeit Ihrer Absichten, aber zu einem Parteienkabinett kann ich mich nicht entschließen.
"Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik" Online * "Nr. 222 Aufzeichnung des Staatssekretärs Meiss..." (1.93:)
 
Aus den Tagebüchern des DNVP-Politikers Reinhold Quaatz:

27. Januar 1933
[...] Mittags Hugenberg, Oberfohren, Schmidt wegen des Ältestenrats. Nachher hält mich Hugenberg fest. Lage: Hindenburg will Hitler nicht. Papen teilt das törichterweise Hitler mit, fordert aber Hugenberg auf, trotzdem die Möglichkeiten mit Hitler bei Hindenburg zu erörtern.

Und vom 29. Januar 1933:
Kommt Hitler-Regierung nicht zustande, so werden Papen, Meißner, vielleicht sogar Hindenburg (obwohl er den "Gefreiten im Weltkrieg" im Grunde perhorresziert) die Schuld uns aufzuhalsen suchen.

http://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1989_4_8_jones.pdf
 
Auf der anderen Seite wird dieser hölzerne, senile, zum Reich (in seinen Kategorien) grundloyale GFM - "hier stehe ich, aus Pflicht und Berufung, ich kann nicht anders" - völlig verzweifelt und unsicher gewesen sein angesichts der politischen Lage.

Dass Hindenburg senil war, wird von Wolfram Pyta vehement bestritten. Ich bin geneigt, ihm in diesem Punkt zuzustimmen.
Pyta unterstellt Hindenburg eine politisch konsequente Linie, die schließlich zur Ernennung Hitlers führte:

Pyta S. 800 schrieb:
Trotz alledem ist die Berufung Hitlers zum Reichskanzler nicht durch Gerüchte, falsche Nachrichten oder sinistre Intrigen herbeigeführt worden. Die Ernennung des "Führers" der weitaus stärksten politischen Partei zum Reichskanzler einer Regierung, in der sich erstmals alle aus Hindenburgs Sicht "nationalen Kräfte" zusammengefunden hatte, nahm der Reichspräsident vor, weil sie der Gesamtanlage seiner Politik entsprach.
...
Die seit 1930 um sich greifende Entparlamentarisierung des politischen Systems hat er gezielt forciert und das Schwergewicht auf das Präsidentenamt verlagert, weil er im Reichstag das Spiegelbild der politischen Fragmentierung erblickte, weshalb er dieses Verfassungsorgan bei der Regierungsbildung möglichst ausgeschaltet wissen wollte. Damit hat sich Hindenburg als eminent politischer Reichspräsident profiliert, der aber 1932 die Erfahrung machen mußte, daß sich vom Präsidentenamt aus die nationale Integration nicht erzwingen ließ, solange die nationalsozialistische Bewegung nicht eingebunden wurde. Wenn Hindenburg unbeirrt an der Verwirklichung seines Projekts festhalten wollte, konnte er sich dem Drängen Hitlers nach der Kanzlerschaft nicht entziehen, falls dieser sich nicht mehr als Parteiführer aufführte, sondern als Chef einer Regierung der vereinigten "nationalen Front", die im Kern die Politik Hindenburgs verfolgte.

Nach Meissners "Erinnerungen" müssen allerdings Franz von Papen, Oskar von Hindenburg und Meissner selbst bei der Entscheidung ziemlich mitgeholfen haben:
Meissner S. 257f schrieb:
Nachdem in einer gemeinsamen Aussprache, die am 28. Januar 1933 im Arbeitszimmer des Reichspräsidenten stattfand, sowohl von Papen als auch Oberst von Hindenburg und ich uns dahin geäußert hatten, daß uns keine andere verfassungsmäßige Lösung mehr möglich erscheine als die, unter der Führung von Hitler eine Rechtsregierung mit möglichst starken Gegengewichten gegen eine nationalsozialistische Vormacht zu bilden, erklärte Hindenburg, seine bisherigen Bedenken zurückstellen zu wollen. Er erteilte nunmehr von Papen seine Einwilligung, auf der von ihm vorgeschlagenen Grundlage die Verhandlungen über die Bildung der neuen Regierung zu Ende zu führen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass Hindenburg senil war, wird von Wolfram Pyta vehement bestritten. Ich bin geneigt, ihm in diesem Punkt zuzustimmen.
Pyta unterstellt Hindenburg eine politisch konsequente Linie, die schließlich zur Ernennung Hitlers führte:

Ist bekannt.

Wenn Pyta genug Beispiele kennen würde, aus engstem persönlichen Umfeld und in einem gehobenen ökonomischen oder politischen Kontext, würde er das vermutlich nicht so vehement vertreten.
 
Gibt es denn belastbare Argumente für die These, dass Hindenburg wirklich senil war?
Laut Meissner war Hindenburg noch bis ins Frühjahr 1934 geistig und körperlich fit.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich halte das nicht einmal für eine am Einzelfall diskutable Frage.

Aber da hat natürlich jeder seine, auch abweichende Meinung bzw. Anschaungen, die aus Erfahrungen resultieren mögen.

Konkreter - bitte um Nachsicht - möchte ich das nur per PN formulieren, bei Interesse.
 
Jetzt habe ich doch noch etwas gefunden, einen Tagebucheintrag von 18. August 1932 des Zentrumspolitikers Hermann Pünder. Dieser beruft sich auf eine vertrauliche Mitteilung des damaligen Chefs der Reichskanzlei Erwin Planck (Pünder war sein direkter Amtsvorgänger gewesen) zum Gespräch zwischen Hindenburg und Hitler vom 13. August 1932:

Planck sagte mir ganz im Vertrauen, daß sie am Samstag nachmittag aus der amtlichen Verlautbarung eine „Emser Depesche" gemacht hätten. Tatsächlich hätte Hitler beim Reichspräsidenten „die gesamte Staatsgewalt im vollen Umfange" nicht verlangt, da es dort zu einer großen sachlichen Aussprache überhaupt nicht mehr gekommen sei. Der Reichspräsident hätte eben absolut nicht gewollt, den Nazi den Kanzlerposten zu lassen. Vor dem „böhmischen Gefreiten" hätte er keinerlei Respekt, und es sei ihm geradezu widerlich gewesen, jetzt auch noch seinerseits dem „Hinterlader" (Hauptmann Röhm) die Hand geben zu müssen.

Hermann Pünder, Politik in der Reichskanzlei - Aufzeichnungen aus den Jahren 1929-1932, Hrsg. Thilo Vogelsang (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 3, 1961, S. 141)
Politik in der Reichskanzlei

(S. 7):

Das handschriftliche Original der Aufzeichnungen überdauerte den Zweiten Weltkrieg und das harte Lebensschicksal Pünders zwischen 1933 und 1945. Das Tagebuch wurde 1948/49, nach Mitteilung des Autors ohne inhaltliche Änderung, in ein maschinenschriftliches Manuskript übertragen. Diese Ausfertigung hat Pünder im Frühjahr 1960 dem Institut für Zeitgeschichte für die Zwecke einer Veröffentlichung im Rahmen der „Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte" überlassen. Sie wurde von ihm mit geringfügigen handschriftlichen Korrekturen versehen, die ich in die Edition übernommen habe. Dabei handelt es sich lediglich um Berichtigungen von Fehlern oder um erklärende, dem besseren Verständnis dienende Zusätze, nicht jedoch um Veränderungen, welche die originale Quellenaussage beeinträchtigen würden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Viele Informationen ausgetauscht und dennoch bleibt bei mir die Frage, welche Relevanz diese Frage hat. M. Wildt (Generation des Unbedingten) fügt den "böhmischen Gefreiten" eher beiläufig in seinen Narrativ ein (Pos. 3210).

Brauchbar ist diese Bezeichnung wohl auch nur und primär, um den "Standesdünkel" der alten Rechten aus dem wilhelminisch Militärapparat gegenüber allem zu signalisieren, was nicht mindestens "Reserveoffizier" ist.

Und im umgekehrten Fall ist es der Hinweis auf die Distanz der extremen neuen Rechten - also der Nationalsozialisten - gegenüber der ehemaligen monarchistischen Elite.

Wesentlich spannender in der Darstellung ist beispielsweise die Darstellung des Vorgangs bei Brüning (Memoiren, 1918-1934), bei dem deutlich wird, wie unverantwortlich die Kamarilla um Hindenburg agierte.

Und es wird auch deutlich wie realitätsfern die alten Eliten ihre machiavellistischen Register gezogen haben, im Angesicht einer dynamischen, zu allem entschlossenen und rücksichtslos agierenden - von einem böhmischen Gefreiten angeführten - Massenbewegung.

Spannend ist allerdings, wie ein Mann wie Ludendorff - der sicherlich ähnlich Dünkel wie Hindenburg hatte - dennoch im Rahmen des Bierhallenputsches mit Hitler paktierte, ohne sich in dieser abfälligen Weise über ihn zu äußern. Ergo: Nicht alle aus dem Umfeld der "alten Eliten" waren ähnlich unflexibel in ihren politischen Sichten wie Hindenburg.

Und ihn dann sogar in der "Festungshaft" mehr als 5 Mal - so aus dem Kopf - besuchte.
 
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