Nationalstaaten, Minderheiten und "Entflechtung"

Solwac

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Spätestens nach dem ersten Weltkrieg wurde im Rahmen des "Selbstbestimmungsrecht der Völker" die Umsiedlung von ganzen Bevölkerungsteilen zur Politik erhoben. Seien es die Deutschen in Polen, die nicht polnisch werden wollten, der Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei oder auch die Umsiedlungen zwischen Bulgarien und Rumänien wie im Vertrag von Craiova vereinbart.

Eine vernünftige Minderheitenpolitik mit staatlichem Schutz und internationalen Garantien scheint aber so gut wie gar nicht entwickelt worden zu sein. Warum nicht?

Wurde einer solchen Politik keine Chance gegeben aufgrund von geringen Erwartungen an den Erfolg?
Oder war im Rahmen der Selbstbestimmung der Völker dem Mehrheitsstaat eine Einschränkung der Souveränität nicht zuzumuten?
Oder wurde nach der Niederlage von Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich dem Konzept eines Vielvölkerstaats aus grundsätzlichen Überlegungen heraus keine Chance gegeben?
 
Die Einschätzung ist nach meinem Kenntnisstand nicht ganz korrekt. Die Lage beispielsweise der deutschen Minoritäten in Polen oder in der Tschechoslowakei war - bis sie als Politikum durch Hitler funktionalisiert wurde - durchaus zufriedenstellend.

Einzelheiten müßte ich aber nachlesen.
 
Nach dem Austausch zwischen griechischer und türkischer Bevölkerung nach 1923 (Lausanne Abkomenn) gab es in Griechenland offiziell eine (religiöse) Minderheit in Westthrakien: die muslimische. In der Türkei gab es keine, mit Ausnahme der griechischen Minderheit in Konstantinopel, Imbros und Tenedos.

Die Muslime in Griechenland heute können sich hauptsächlich in drei Gruppen unterteilen: ethnische Türken in Westthrakien, Pomaken auch in Westthrakien, die aber auch in Bulgarien leben und slawischsprachig sind, und Roma, die teils muslimisch teils christlich sind. Nach 1923 gab es keine grundlegende Versuche, diese Minderheit einzugliedern, im Gegenteil gab es für alle Muslime türkischunterricht in der Schule, obwohl viele Muslime(hauptsächlich Pomaken) keine türkische Identität hatten. Das lässt sich darauf zurückführen, dass es den Regierungen in Athen gleichgültig war und so lebten Muslime bis vor einigen Jahren in eine Parallelgesellschaft und werden , insbesondere heute von islamistisch/expansionistischer Politik, wie die von Erdogan, als Grund gesehen, sie der Türkei einzugliedern.

Den Griechen in der Türkei nach 1923 ging es ähnlich, aber sie wurden zusätzlich Opfer der Gewalt der türkischen Regierungen, weil sie der Anlass waren für den Krieg(Befreiung ehemals byzantinischer Gebiete/Großgriechenland und deren Bevölkerung) der der Türkei fast die Existenz gekostet hätte. So hatte man potenzielle "Feinde" im Landesinneren der Türkei. Nach den Progromen von Istanbul (1955) und den nachfolgenden Jahren schwand die griechische Bevölkerung, insbesondere in Konstantinopel, und von einigen hunderttausend blieben und sind bis heute wenige tausend(2.000-3.000) Griechen übriggeblieben.

Andere sprachliche Minderheiten wie slawischprechende Christen im Norden Griechenlands und Vlachen, hatten griechisches Nationalgefühl. Angehörende des Bulgarischen Exarchats mussten nach 1912 und spätestens nach der Niederlage Bulgariens im WWII nach Bulgarien auswandern.
 
Vielleicht ist es nicht klar genug geworden, es geht mir nicht um das Schicksal der einzelnen Bevölkerungsgruppen, da gibt es andere Stränge.
Es geht mir um die internationale Politik und ihre Behandlung des Themas. Das Zusammenleben von Bevölkerungsgruppen ist bei Problemen im Sinne der Nationalstaatsidee angegangen worden, Minderheiten wurden gerne aufgewiegelt und zur Destabilisierung des ganzen Staats missbraucht. Letzteres ist ja heutzutage noch ein Problem und gute Minderheitenpolitik eine Seltenheit.
 
Spätestens nach dem ersten Weltkrieg wurde im Rahmen des "Selbstbestimmungsrecht der Völker" die Umsiedlung von ganzen Bevölkerungsteilen zur Politik erhoben. Seien es die Deutschen in Polen, die nicht polnisch werden wollten, der Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland und der Türkei oder auch die Umsiedlungen zwischen Bulgarien und Rumänien wie im Vertrag von Craiova vereinbart.

Eine vernünftige Minderheitenpolitik mit staatlichem Schutz und internationalen Garantien scheint aber so gut wie gar nicht entwickelt worden zu sein. Warum nicht?

Wurde einer solchen Politik keine Chance gegeben aufgrund von geringen Erwartungen an den Erfolg?
Oder war im Rahmen der Selbstbestimmung der Völker dem Mehrheitsstaat eine Einschränkung der Souveränität nicht zuzumuten?
Oder wurde nach der Niederlage von Österreich-Ungarn und dem Osmanischen Reich dem Konzept eines Vielvölkerstaats aus grundsätzlichen Überlegungen heraus keine Chance gegeben?


M. W. gab es im nach dem 1. Weltkrieg neu erstandenen Polen keine Umsiedlung/Vertreibung der deutschen Minderheit. Aber sehr wohl Versuche, diese zwangsweise zu assimilieren. Gleiches geschah wohl auch mit den anderen nationalen Minderheiten (Ukrainer, Weißrussen, Litauer) in Polen. Das führte zu einer Emigration der deutschen Minderheit Richtung Deutschland. Es gab wohl auch eine Reihe von Elsässern, die obwohl sie nicht als deutschstämmig im Sinne von Nachkommen von Deutschen, die nach 1870 ins Elsaß kamen, als prodeutsch galten, die in den 20er Jahren ins Deutsche Reich auswanderten.


Vielleicht ist es nicht klar genug geworden, es geht mir nicht um das Schicksal der einzelnen Bevölkerungsgruppen, da gibt es andere Stränge.
Es geht mir um die internationale Politik und ihre Behandlung des Themas. Das Zusammenleben von Bevölkerungsgruppen ist bei Problemen im Sinne der Nationalstaatsidee angegangen worden, Minderheiten wurden gerne aufgewiegelt und zur Destabilisierung des ganzen Staats missbraucht. Letzteres ist ja heutzutage noch ein Problem und gute Minderheitenpolitik eine Seltenheit.

Das Problem mit Minderheiten ist die Instrumentalisierung bei Konflikten zwischen Nationalstaaten. Heute gibt es europäische Regelungen (Autonomiestatus für einzelne Regionen, bilaterale Regelungen zwischen den einzelnen Nationalstaaten, europäische Schutzabkommen der Europarates), die diese Konflikte zwar nicht immer zufriedenstellend lösen, aber zumindest entschärfen.
 
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