Der Gemlich-Brief 1919: Erstes antisemitisches Dokument Hitlers

Die zweibändige Hitler-Biographie von Ian Kershaw, die vielfach immer noch als 'maßgeblich' eingeschätzt wird, kann selbstredend nicht in sämtlichen Details den Kontext angemessen wiedergeben.

So notiert Kershaw, Hitler Bd.1 S. 169, unmittelbar, bevor er Hitlers Brief vom 16. Sept. 1919 an Gemlich im nächsten Abschnitt streift, der Kommandeur des Lagers Lechfeld, Oberleutnant Bendt, habe es für nötig gefunden, Hitler zu bitten, dessen Antisemitismus zu dämpfen, um Beschwerden vorzubeugen, die Referate seien 'Judenhetze'.

Bendt, der keinesfalls Kommandeur des DULAG (Durchgangslager) Lechfeld gewesen war und sein konnte als Oberleutnant, sondern nur Chef einer dorthin abkommandierten Reichswehr-Kompagnie - das DULAG hatte allein etwa 30 eigene Wachkompagnien (Plöckinger, Unter Soldaten und Agitatoren, S. 114 + 116), hatte in einem Bericht vom 25. August 1919 an das Reichswehrgruppenkommando 4 über die Tätigkeit des von Hauptmann Mayr eingesetzten Aufklärungskommandos zur Bekämpfung 'bolschewistischer Aktivitäten' im DULAG u.a. geschrieben:

''Gelegentlich eines sehr schönen, klaren und temperamentvollen Vortrags des Gefr. Hitler über den Kapitalismus, der dabei die Judenfrage streifte, ja streifen mußte, entstanden über die Art und Weise gelegentl. einer Besprechung d. Abteilg. mit mir Meinungsverschiedenheiten, ob man klar und unverblümt seine Meinung äußern solle, oder in etwas verschleierter Form. Es wurde angeführt, die Abteilg. sei von Gruppenkdo. Möhl aufgestellt und in dienstlicher Eigenschaft tätig. Wenn nun die Judenfrage in ganz klarer Form unter bes. Berücksichtigung des germanischen Standpunktes dargestellt würde, so könnte leicht diese Erörterung den Juden Anlaß geben, die Vorträge als eine Judenhetze zu bezeichnen. Ich sah mich deshalb veranlaßt anzuordnen, daß bei Behandlung dieser Fragen möglichst vorsichtig vorgegangen werden solle und daß zu deutliche Hinweise auf die dem deutschen Volke fremde Rasse nach Möglichkeit zu vermeiden seien.''

(Bendt zitiert nach: Ernst Deuerlein, Hitlers Eintritt in die Politik und Reichswehr, in 'Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte', 1959, Heft 2, S. 199).

Kleine und feine wie wichtige Unterschiede, meine ich doch.

Bei Deuerlein, Hitlers Eintritt, Vierteljahreshefte, S. 193, Dokument 3, wird der Lagerkommandant des Lechfeldlagers namentlich erwähnt: General Raab.
 
@andreassolar,
Du stellst zwar recht interessante und lesenswerte Quellen ein,
Danke dafür,
aber gibt es irgend einen darüber hinausgehenden Befund, oder Bogen der sich spannen lässt?
 
Kershaw notiert in Hitler 1889 - 1936, S. 169, zum Gemlich-Brief Hitlers u.a., in der Gruppe (Kershaw meint das Aufklärungskommando) wie bei seinem Vorgesetzten Hauptmann Mayr müsse sich Hitler den Ruf eines Experten in 'Judenfragen' erworben haben.

Schaut man sich andererseits die von Kershaw S. 168 angeführten Belege für Hitlers besondere Fähigkeiten an, so stehen dort nicht etwa die antisemitischen 'Experten'-Positionen Hitlers bei seinen Aufklärungskommando-Vorträgen im Mittelpunkt, sondern H.s rhetorische Fähigkeiten, die Hörer zu fesseln und zu erreichen.
Dies hat gänz ähnlich auch Oberleutnant Bendt bemerkt, siehe eingerücktes Zitat im vorhergehenden Beitrag, welcher in seinem Bericht vom 25. August 1919 an das Reichswehrgruppenkommando 4 den sehr schönen, klaren und temperamentvollen Vortrag Hitlers erwähnt.

Plöckinger, Unter Soldaten und Agitatoren, S. 128f., schreibt u.a., die ''euphorischen Berichte über Hitler stammen hingegen vor allem von Kommando-Mitgliedern, die seine Einstellung teilten.'' Weitere Auszüge dieser Berichte der anderen Kommando-Mitglieder über Hitlers rhetorische Fähigkeiten siehe auch Deuerlein, Hitlers Eintritt in die Politik und Reichswehr, in 'Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte', 1959, Heft 2, S. 200f. Die Berichte sind allesamt an Hauptmann Mayr gerichtet gewesen.

Bendt, so Plöckinger (S. 126), hat am 25.8.1919 einen zweiten Bericht über den Einsatz des Aufklärungskommandos geschrieben, diesmal an Bendts Vorgesetzten, Major Pitrof im Kempten. In diesem Bericht an Pitrof wird Hitler gar nicht erwähnt, im Unterschied zum Bendts Bericht an Hauptmann Mayr beim Reichswehrgruppenkommando 4.
Plöckinger S. 126 bemerkt zu recht, dass Bendt die Berichte jeweils etwas an die Adressaten angepasst habe und Mayrs antisemitische Einstellung sei Bendt sicherlich bekannt gewesen.

Es waren wohl allgemein Hitlers nicht nur rhetorische Fähigkeiten, auch - damals ganz aktuelle - antisemitische Positionen 'fesselnd' zu vermitteln, die ihn in den Focus seines Vorgesetzten in der Propaganda-Abt. des Nachrichtendienstes des Reichswehrgruppenkommando 4, dem Rassenantisemiten Hauptmann Mayr, rückten.
Die antisemitischen Äußerungen Hitlers im Brief an Gemlich referieren lediglich Positionen aus dem damals aktuellen antisemitischen Diskurs, die auch Mayr - bis auf die Zinsfrage - ja teilte.

Zitate aus Berichten von Hitlers Kollegen des Aufklärungskommandos zu Hitlers 'Wirkung' finden sich, wie bereits oben genannt, bei Ernst Deuerlein, Hitlers Eintritt, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (Heft 2/1959), S. 200, Dokument 9.
Dem schließt sich inhaltlich weitgehend eine Beurteilung an, die Plöckinger, Unter Soldaten, S. 139, in Zusammenhang mit einer militärgeschichtlichen Schrift des Jahres 1937 zum Freikorps Schwaben von Bendts Vorgesetzten, Major Pitrof, aus Tagebuch-Aufzeichnungen (ein 'Nachtrag' womöglich von 1921) eines ehemaligen Mitglieds des genannten Freikorps, Hans Hohenester, zitiert:

Nachtrag 1921: Während des Dienstes im Lager Lechfeld kamen von München als Propagandaoffiziere Hitler und einer dessen Namen ich vergessen habe [Beyschlag, Anm. v. Plöckinger]. Während der letztere uns nicht imponierte, war die Abteilung von Hitler überrascht und begeistert. Er definierte die herrschenden Schlagwörter wie 'Syndikalismus' usw. kurz, klar und für jeden verständlich. Selbst Leutnant Hartwich konnte nicht gegen ihn sagen. Abends sassen noch mehrere von uns bei Hitler ein seiner Bude, wo er nocheinmal über die Revolution sprach.

Viele Grüße,
Andreas
 
@andreassolar,
Du stellst zwar recht interessante und lesenswerte Quellen ein,
Danke dafür,
aber gibt es irgend einen darüber hinausgehenden Befund, oder Bogen der sich spannen lässt?
@hatl, ich selber will hier nur halbwegs gründlich Anlass und direkten Kontext des Gemlich-Briefes darstellen. Grund dafür sind diverse, m.E. wenig zutreffende oder stark vereinfachende Ausführungen in diversen Publikationen verschiedener auch 'relevanter' Historiker, auf die ich hier teilweise eingehe.

Ein 'Bogen' entsteht vielleicht dadurch, dass man sich möglichst quellennah dem DAP-Auftritt H.s am 12.9.1919 und dessen Kontext nähert und sich dann weiter arbeitet.
 
Hitler stand mit seinen antisemitischen Positionen vom September 1919, wie sie im Gemlich-Brief überliefert worden sind, keinesfalls allein oder solitär bzw. hatte keine originären Inhalte zu bieten.

1919 explodierte die Anzahl der antisemitischen Schriften geradezu. Dass H. im Gemlich-Brief keine originär eigenen Positionen referierte, wird in diversen radikalantisemitischen Schriften des Jahres 1919 sichtbar, einige wenige Titel führe ich nachfolgend an.

· Artur Dinter, Lichtstrahlen aus dem Talmud. 1919

· Theodor Fritsch (Hg.), Handbuch der Judenfrage. 1919

· Fritz Kemper, Das deutsche Haus und das Haus Israel: Ohne Entjudung keine Rettung. 1919

· Wilhelm Meister, Judas Schuldbuch. Eine deutsche Abrechnung. 1919

· Walter Liek [=Hans von Liebig], Der Anteil des Judentums am Zusammenbruche Deutschlands. 1919 (Verlag Lehmann, München)

· Heinrich Pudor, Wie kriegen wir sie hinaus? 1913

· Franz Schrönghamer-Heimdal, Judas, der Weltfeind. 1919

Viele Grüße,
Andreas
 
Bereits 2002 hat der Historiker Michael Mayer, damals Volkswirtschaftliche Fakultät der LMU München, das Diskussionspapier mit dem Titel NSDAP und Antisemitismus 1919-1933 veröffentlicht, welches online frei zugänglich ist.
Das Paper passt nicht ganz in diesen Faden, einen separaten möchte ich aus Vorsicht zunächst nicht beginnen, streift aber als Ausgangspunkt auch den Gemlich-Brief S. 4. In Anmerkung 8, S. 4, notiert Mayer:

Der „Judenfrage“ ist nach 1914 au fond nichts mehr hinzuzufügen, alle wichtigen „Lösungsansätze“ sind schon „gedacht“ worden.

Das stimmt mit meinem Eindruck überein, den ich durch die Lektüre auch der oben genannten, radikalantisemitischen Veröffentlichungen des Jahres 1919 und davor gewonnen hatte.
 
Die Freimann-Sammlung innerhalb des Sammlungsbereiches Judaica der Frankfurter Uni-Bibliothek bietet eine umfangreiche Auswahl von Veröffentlichungen digitalisiert an, u.a. antisemitische wie anti-antisemitische Werke, auch und gerade der unmittelbaren und mittelbaren Zeit nach Kriegsende 1918/1919. 1919 entsteht eine Flut von wüsten, radikal antisemitischen Druckerzeugnissen unterschiedlicher Reichweite.

Einige Titel sind oben aufgezählt worden, dazu sowie zu anderen des Jahres 1919 und manchen radikal-antisemitischen 'Klassikern', die bereits vor 1919 Auflagen erlebt hatten, die Links zu den Digital-Ausgaben - manche Titel sprechen Bände...


Die Freimann-Sammlung enthält natürlich auch zahlreiche Digital-Ausgaben von klassischen anti-antisemitischen Publikationen, hier besonders der Zeit ab 1918, teils sehr lesenswert, so beispielsweise
Stern unterscheidet
  • den religiösen Antisemitismus
  • den wirtschaftlich-sozialen Antisemitismus
  • den Rassenantisemitismus, mit den Unterkapiteln
    • die Rassenfrage
    • die deutschvölkische Bewegung
    • der politische Antisemitismus
    • der Kulturantisemitismus
mitsamt ihren Apologeten, Geschichte etc.

Noch näher an das Jahr 1919 dran ist der Druck

Die damalige Differenzierung fehlt häufig in etlichen 'Generaleinschätzungen' bzw. 'Generalverurteilungen' des NS-Antisemitismus und seinen Wurzeln/Vorläufern, wie man sie auch hier immer wieder findet. Wird etwa in den beiden anti-antisemitischen Publikationen Wilhelm II. bereits als entscheidender Wegbereiter des (Radikal-)Antisemitismus eingeschätzt?

Doch das Thema dieses Threads ist und bleibt die Einbettung des Antisemitismus des Jahren 1919 von H. im Gemlich-Brief als getreues Abbild der radikalantisemitischen 'Szene', nicht zuletzt gerade auch in und um München.




 
Ein weiterer Aspekt, wenn man es denn wieder vom Ende her denken möchte, ist der weitere Lebensweg von "Hauptmann Mayr" (vgl. Deuerlein: Der Aufstieg der NSDAP in Augenzeugenberichten, bes. S. 83 und 89)

Im Kern steht dabei die Frage nach der Stabilität von "Glaubenssystemen" bzw. "kognitiven Karten" im Gehirn.

Und wirft die Frage auf, welche politische Haltung Mayr um 1920 denn "tatsächlich" hatte und ob diese von der "veröffentlichten" abwich oder identisch war.

https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Mayr_(Politiker,_1883)
 
Im Kern steht dabei die Frage nach der Stabilität von "Glaubenssystemen" bzw. "kognitiven Karten" im Gehirn.

Und wirft die Frage auf, welche politische Haltung Mayr um 1920 denn "tatsächlich" hatte und ob diese von der "veröffentlichten" abwich oder identisch war.

Ich glaube nicht, dass die Stabilität von (individuellen) Glaubenssystemen die Kernfrage darstellt, da z.B. der Antisemitismus ein soziales, kein individuelles Phänomen ist; gleiches gilt allgemein für 'Glaubenssysteme', sofern wir sie nicht als paranoide, individuelle Wahnsysteme bei Psychiatrie-Patienten klassifizieren/wahrnehmen.
Entsprechend können starke Veränderungen gesellschaftlich-sozialer Ordnungen beispielsweise Antisemitismen hervorrufen/fördern/initiieren/verstärken, wie dies offenbar mit Kriegsende/Kriegsverlust und Revolution, der unfreiwilligen Entstehung einer fragmentierten, politisch zersplitterten und zerrissenen Nachkriegsgesellschaft, wirtschaftlichen und finanziellen Nöten, der Münchner Räterepublik und den Folgen des Versailler Vertrages usw. geschah.

Daher wird m.E. auch nicht die Frage aufgeworfen, ob Mayr 'tatsächlich' auch privat-individuell die veröffentlichten Positionen vertrat oder nicht. Im Begleitschreiben Mayrs zum Gemlich-Brief (S. 5) von H. notiert Mayr auf eine entsprechende Frage Gemlichs an Mayr:
Meine Ausführungen sind nicht an das Amt gebunden, wie Sie meinen.

Zu Mayr, die letzte größere Be- und Überarbeitung des WP-Artikels stammt von mir, konnte zumindest ich keine weiteren Erkenntnisse und Quellen finden.

Zu Entstehungsbedingungen von Antisemitismen:
  • Wyrwa, Gesellschaftliche Konfliktfelder und die Entstehung des Antisemitismus. Das Deutsche Kaiserreich und das Liberale Italien im Vergleich, Berlin 2015.
  • Straus, Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, 1964 (ein bekannter 'Klassiker', 1940 abgeschlossen)
 
1919 explodierte die Anzahl der antisemitischen Schriften geradezu. Dass H. im Gemlich-Brief keine originär eigenen Positionen referierte, wird in diversen radikalantisemitischen Schriften des Jahres 1919 sichtbar, einige wenige Titel führe ich nachfolgend an.

Zu den berüchtigten Titeln jenes Jahres 1919 stammt das Werk, ohne Autoren-Nennung,
  • Semi-Imperator 1888-1918
1919 im völkisch-antisemitischen 'Thule'-Verlag Kyffhäuser/Franz Eher Nachf., München, erschienen - ab Dezember 1920 in Hand der NSDAP. U.a. geht es um die angeblich judaisierten Hohenzollern, mithin Wilhelm II. (siehe Buch-Cover)- damals kein Einzelfall als Position unter völkischen Radikal-Antisemiten.

Wenn ich recht gesehen haben, hat H. in einem Interview mit dem Pester Tag oder Pester Lloyd 1922 Wilhelm II. entsprechend ebenfalls als 'judaisiert' bezeichnet.
 
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