Historizität Jesu von Nazareth

Ich bezog mich bei den epigraphischen Quellen, die L. Sergius Paullus und Nachkommen von ihm wie seine Tochter Plancia Marcia belegen nicht auf eine zypriotische Inschrift, sondern auf Inschriften in Südanatolien, die eindeutig nicht nur die Existenz eines L. Sergius Paulus belegen, sondern auch die von mehreren Verwandten und Nachkommen, und die es sehr plausibel machen, dass die Sergier Paulliner aus Pisidien, vermutlich aus Antiochia ad Pisidiam stammten.

Auf Ramsays Theorie habe ich mich, ohne seinen Namen zu nennen, bereits am Morgen in meinem Beitrag #1490 bezogen:

Auch ein Bezug zum L. Sergius Paulus in Antiochia ist völlig ungesichert, selbst wenn es sich in der zyprischen Inschrift um den Sergius Paulus der Apg handeln sollte. Dass dieser L. Sergius mit dem zyprischen Proconsul verwandt war, ist reine Spekulation

Ramsay macht zwei spekulative Voraussetzungen: (1) Der L. Sergius Paulus aus der Tiber-Grenzstein-Inschrift (siehe mein #1491) ist identisch mit dem (vermeintlich späteren) Prokonsul Sergius Paulus der Apg. (2) Der Lucius Sergius Paulus aus Antiochia ist ein Nachfahre des Prokonsul Sergius Paulus der Apg. Auf dieser Basis bildet er eine interessante Theorie, welche die Lücken gut ausfüllt, ohne dass die Basis dadurch gefestigt wird. Weder ist belegt, dass der römische Paulus später als Proconsul in Zypern tätig war noch dass der antiochische Paulus mit dem zypriotischen etwas zu tun hat.

Meine Intention bei all dem hast du wie auch andere User ziemlich missverstanden. Es geht mir (wie ich bereits im gelöschten Beitrag schrieb) nicht darum, kategorisch zu behaupten, dass es keine Historizität bestimmter Personen und Ereignisse in den christlichen Quellen gibt. Vielmehr möchte ich darauf hinweisen, dass eine solche Historizität weder durch archäologische noch durch textliche Indizien zweifelsfrei feststeht. Das gilt praktisch für alle relevanten Personen und Ereignisse des frühen Christentums, soweit diese dem 1. Jahrhundert zugeordnet werden. In all diesen Fällen besteht eine mehr oder weniger große Unsicherheit, die bestenfalls dazu berechtigt, von Wahrscheinlichkeit zu sprechen. Gleich aber, wieviele Wahrscheinlichkeiten man addiert, man gelangt nie zu einer Sicherheit - zumal es unmöglich ist, die einzelnen Wahrscheinlichkeiten zu quantifizieren. Es bleibt bei allem ein Rest an Unsicherheit, wie auch jetzt diskutierten Fall, weil es an ganz simplen Daten mangelt ("Proconsul Paulus" ohne "Sergius", "Proconsul Quintius Sergius" ohne "Paulus" und in der Apg, wie du selbst schreibst, "Sergius Paulus" ohne Angabe des Pränomens, sowie, nicht zu vergessen, die Unleserlichkeit der Datierungszeile der Inschrift von Soli).

Es wäre natürlich viel schöner, wenn Lukas den vollen Namen des Mannes und seine Titulatur angegeben hätte

Wenn du den Titel "Anthypatos“ (Proconsul) meinst: Der steht im griechischen Originaltext der Apg.

Wenn die ApG erst im zweiten Jahrhundert und nach dem 1. jüdischen Krieg entstand, warum werden dann die Römer als relativ korrekt und als Garanten des Rechts dargestellt. Spätestens nach der neronischen Christenverfolgung und lokalen Martyrien in Kleinasien existierte doch gar kein Anlass mehr, sich von den Römern viel zu versprechen.

Erstens ist eine neronische Christenverfolgung alles andere als historisch gesichert. Die einzige Quelle ist Tacitus (wenn die Stelle überhaupt echt ist), ohne dass dieser seine Quelle angibt. Weder Sueton noch Cassius Dio berichten davon. Auch im 1. Clemensbrief (angeblich um 100 CE) ist nichts davon zu lesen. Der erste Christ, der Nero dieser Verfolgung bezichtigte, war Sulpicius Severus im 4. Jahrhundert. Auch hier bleibt wieder ein für christliche Frühhistorie anscheinend unvermeidlicher Rest an Unsicherheit (und zwar ein ziemlich großer). Was lokale Martyrien betrifft, so geschahen diese eher selten und in der Regel ohne staatliche Initiative. Es gab also keinen zwingenden Grund, die Römer als "viel versprechende" Ansprechpartner grundsätzlich abzuschreiben.

Ein weiteres Argument sind apokalyptische Vorstellungen. Wozu hätte man diese erwähnen sollen, wenn die Vorstellung vom nahen Weltende im 2. Jahrhundert gar nicht mehr gegeben waren? Warum hätte man ein nahendes Weltende vorhersagen sollen, wenn die Texte erst im 2. Jahrhundert entstanden sind und das Weltende offensichtlich ausgeblieben war?

Wo in der Apg ist von einem "nahen" Weltende die Rede? Gerade die Apg ist bekannt dafür, dass diese Vorstellung in ihr nicht auftaucht.

L. Sergius Paullus Cur(ator) rip(a) et alv Tiberis, Proconsul von Cyprus 46/48

dessen Sohn hieß ebenfalls L. Sergius Paullus und war 72 und 78 Consul. Sie Tochter dieses L. Sergius Paullus war mit C. Caristanius Fronto (Co(n)sul des Jahres 90 verheiratet. sein Sohn L. Sergius Paullus filius bekleidete mehrere Ämter. Dieser hatte eine Tochter Sergia Paulina, die mit einem Cnaeus Pinarius Cornelius Severus verheiratet war, der 112 das Konsulat bekleidete und einen Sohn der ebenfalls L. Sergius Paullus hieß, dessen Sohn wiederum war L. Sergius Paullus, der 168 als Consul Ordinarius amtierte

Gut und schön, aber es ist nicht überliefert, dass diese Leute Christen waren, was sie als Nachfahren des Apg-Sergius-Paulus doch hätten sein müssen. Ramsay behauptet es aber (spekulativ).

Dass "L. Sergius Paullus Cur(ator) rip(a) et alv Tiberis" später "Proconsul von Cyprus 46/48" war, wie der Ausgrabungsleiter von Pessinous, J. Devreker, meint, ist total spekulativ, aber das sagte ich schon zwei Mal. Oder hat er Argumente, die mir unbekannt sind?

Jedenfalls gilt für mich, dass Ramsays Überlegungen bei gutem Willen überzeugend wirken, aufgrund unsicherer Prämissen aber eben nicht mehr als eine Theorie sind.
 
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Erstens ist die neronische Christenverfolgung alles andere als historisch gesichert. Die einzige Quelle ist Tacitus (wenn die Stelle überhaupt echt ist), ohne dass dieser seine Quelle angibt. Weder Sueton noch Cassius Dio berichten davon. Auch im 1. Clemensbrief (angeblich um 100 CE) ist nichts davon zu lesen. Der erste Christ, der Nero dieser Verfolgung bezichtigte, war Sulpicius Severus im 4. Jahrhundert.
Lies einmal nach in Suetons Nero-Biographie, 16. Kap.: http://penelope.uchicago.edu/Thayer/L/Roman/Texts/Suetonius/12Caesars/Nero*.html#16 http://penelope.uchicago.edu/Thayer/E/Roman/Texts/Suetonius/12Caesars/Nero*.html#16
Bei Cassius Dio ist zu berücksichtigen, dass der entsprechende Abschnitt seines Werkes nur in Exzerptform überliefert ist.
Im 1. Clemensbrief wird zwar nicht ausdrücklich die Neronische Verfolgung mit Namen genannt, aber Verfolgungen werden erwähnt: BKV
Tertullian erwähnte die Neronische Christenverfolgung ausdrücklich: BKV
So viel also zu erst im 4. Jhdt. ...
 
Als zuverlässiger Beleg für eine Existenz des in Apg 13 erwähnten Sergius Paulus kann die Inschrift nicht gelten, so viel habe ich aus der Fachliteratur eindeutig entnehmen können (auf die Nennung von Namen und Werken verzichte ich lieber...:))

Warum der "Verzicht"?
Wenn Deine Angaben nicht nachprüfbar sind, sind sie nichts wert.
Wepwawet/Uauput/Ophis


Es bleibt bei allem ein Rest an Unsicherheit
Das ist es, was ich bei Deinen Beiträgen nicht verstehe.
Hypothesen, die sich auf dünnste Belege oder auf reine Spekulation gründen, erklärst Du gerne in "apodiktischer" Form für gesicherte Fakten. (Siehe auch
http://www.geschichtsforum.de/thema...n-und-privatannahmen.53425/page-2#post-791773)
Desgleichen nimmst Du Legenden, die aus obskursten Quellen - Jahrhunderte nach den Ereignissen, von denen sie angeblich berichten - stammen, gern für bare Münze (ich erinnere an Zarathustra, Buddha oder Pythagoras).

Andererseits schiebst Du zeitnahe Quellen wie Tacitus oder Sueton ohne sachliche Begründung beiseite.

Dieses groteske Missverhältnis erstaunt mich immer wieder.

Weder Sueton noch Cassius Dio berichten davon.
Auch das hartnäckige Ignorieren der Belege finde ich erstaunlich. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Du auf die von Sueton berichteten Maßnahmen Neros gegen die Christen aufmerksam gemacht wirst:

Die Maßnahmen Neros gegen die "Christiani" erwähnt Sueton in der Nero-Biografie:
afflicti suppliciis Christiani, genus hominum superstitionis novae ac maleficae
https://la.wikisource.org/wiki/Vita_Neronis
 
Ramsay macht zwei spekulative Voraussetzungen: (1) Der L. Sergius Paulus aus der Tiber-Grenzstein-Inschrift (siehe mein #1491) ist identisch mit dem (vermeintlich späteren) Prokonsul Sergius Paulus der Apg.

Diese Voraussetzung lässt sich nicht belegen. Es gibt einige vage Indizien, die dafür sprechen, und keine, die dagegen sprechen. Um es mit Deinen Worten zu sagen:

mehr als nur "Spekulation", nämlich eine Annahme, für die alles und gegen die nichts spricht.



Sie Tochter dieses L. Sergius Paullus war mit C. Caristanius Fronto (Co(n)sul des Jahres 90 verheiratet.

Das scheint inzwischen widerlegt zu sein:

"Über lange Jahre spielte die Inschrift IGRR III 300, die nach den Ergänzungen Sir William Ramsays eine Σεργ]ία Παῦλλα, Tochter eines Lucius, bezeugte, eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion des Familienstammbaums. Ramsay sah in dieser Sergia Paulla die Tochter des Proconsuls aus der Apostelgeschichte. Nach der Inschrift IGRR III 300 war sie die Gattin eines C. Caristanius Fronto, und weil die Caristanii zu den führenden Familien des pisidischen Antiochia zählten, entwickelte Ramsay auf dieser Grundlage eine weitreichende Theorie über die Konsequenzen dieser Familienverbindung. Eine neue Inschrift aus Kaunos hat - worauf gerade Christol/Drew-Bear mit allem Nachdruck verweisen - nun all diese Überlegungen hinfällig gemacht und gezeigt, daß die Gattin des C. Caristanius Fronto eine Calpurnia Paulla war und diese Sergia Paulla somit aus dem Familienstammbaum zu streichen ist."

Alexander Weiß, Sergius Paullus, Statthalter von Zypern, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik,
Bd. 169 (2009)
 
Diese Voraussetzung lässt sich nicht belegen. Es gibt einige vage Indizien, die dafür sprechen, und keine, die dagegen sprechen. Um es mit Deinen Worten zu sagen:

Das scheint inzwischen widerlegt zu sein:

"Über lange Jahre spielte die Inschrift IGRR III 300, die nach den Ergänzungen Sir William Ramsays eine Σεργ]ία Παῦλλα, Tochter eines Lucius, bezeugte, eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion des Familienstammbaums. Ramsay sah in dieser Sergia Paulla die Tochter des Proconsuls aus der Apostelgeschichte. Nach der Inschrift IGRR III 300 war sie die Gattin eines C. Caristanius Fronto, und weil die Caristanii zu den führenden Familien des pisidischen Antiochia zählten, entwickelte Ramsay auf dieser Grundlage eine weitreichende Theorie über die Konsequenzen dieser Familienverbindung. Eine neue Inschrift aus Kaunos hat - worauf gerade Christol/Drew-Bear mit allem Nachdruck verweisen - nun all diese Überlegungen hinfällig gemacht und gezeigt, daß die Gattin des C. Caristanius Fronto eine Calpurnia Paulla war und diese Sergia Paulla somit aus dem Familienstammbaum zu streichen ist."

Alexander Weiß, Sergius Paullus, Statthalter von Zypern, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik,
Bd. 169 (2009)

Danke für die Informationen, die mir bisher nicht bekannt waren!

Erstens ist eine neronische Christenverfolgung alles andere als historisch gesichert. Die einzige Quelle ist Tacitus (wenn die Stelle überhaupt echt ist), ohne dass dieser seine Quelle angibt. Weder Sueton noch Cassius Dio berichten davon. Auch im 1. Clemensbrief (angeblich um 100 CE) ist nichts davon zu lesen. Der erste Christ, der Nero dieser Verfolgung bezichtigte, war Sulpicius Severus im 4. Jahrhundert. Auch hier bleibt wieder ein für christliche Frühhistorie anscheinend unvermeidlicher Rest an Unsicherheit (und zwar ein ziemlich großer). Was lokale Martyrien betrifft, so geschahen diese eher selten und in der Regel ohne staatliche Initiative. Es gab also keinen zwingenden Grund, die Römer als "viel versprechende" Ansprechpartner grundsätzlich abzuschreiben

Die neronische Christenverfolgung wird auch von Sueton erwähnt in der Nerobiographie und zwar unter der Rubrik lobenswerte Regierungsmaßnahmen. In den Annales des Tacitus äußert sich dieser vernichtend über die Christen:
Ergo abolendo rumoriNero subdidit reos et quesitissimis poenis affecitquos per flagitia invisos vulgus Chrestianos appellabat. Auctor nominis eius Christus Tiberio imperitante per procuratorem Pontium Pilatum supplicio affectus erat. repressaque in prasens exitiabilis superstitio rursum erumpebat non modo per Iudaeam originemeius mali, sed per urbem etiam, quo cuncta undique atrocia aut pudenda confluunt celebranturque. igitur primum cporrepti qui fatebantur. Deinde indicio eorum multitudo ingens haud proinde in crimine incendi quam odio humani generis convicti sunt
Daher schob Nero um den Gerüchten ein Ende zu machen, andere als Schuldige vor, und ging mit ausgesuchten Strafen gegen die vor, die wegen ihrer Schandtaten verhasst waren unter dem Volk und Chrestianer genannt wurden. Der Mann auf den jener Name zurückging, Christus, war vom Statthalter Pontius Pilatus unter der Regierung des Tiberius hingerichtet worden, und für den Augenblick unterdrückt, brach der scheußliche Aberglaube wieder hervor. Nicht nur in Judäa, dem Ursprungsland dieses Übels, sondern auch in der Stadt (Rom), wo aus der ganzen Welt alle Gräuel und Scheußlichkeiten zusammenströmen und gefeiert werden. Darauf verhaftete man zunächst diejenigen, die ein Geständnis ablegten und auf deren Anzeige hin eine ungeheure Menge. Weniger wegen des Verbrechens der Brandstiftung, als wegen eines Hasses gegen das Menschengeschlecht wurden sie schuldig gesprochen. Tacitus Annales XV, 44.

Bei diesen vernichtenden Äußerungen gegen die Christen kann es sich kaum um christliche Interpolationen handeln. Tacitus ist ja durchaus für die Verfolgung und Exekution der Christen, hält sie allerdings für Sündenböcke, denen der Brand von 64 in die Schuhe geschoben werden soll.
 
Bei diesen vernichtenden Äußerungen gegen die Christen kann es sich kaum um christliche Interpolationen handeln. Tacitus ist ja durchaus für die Verfolgung und Exekution der Christen, hält sie allerdings für Sündenböcke, denen der Brand von 64 in die Schuhe geschoben werden soll.
Das weiß chan doch längst, da kannste dir die Finger wund tippen.
 
Hat ihn schon einer darauf aufmerksam gemacht, dass eine Quellenangabe bei Tacitus eher ein Grund für Zweifel, ja vielleicht eine Andeutung der Distanzierung von der Information wäre?

Im Übrigen gab es zu Tacitus Zeiten genügend Zeitzeugen, die in so wichtigen Punkten widersprochen hätten.
 
Im Übrigen gab es zu Tacitus Zeiten genügend Zeitzeugen, die in so wichtigen Punkten widersprochen hätten.
Wahrscheinlich verstehe ich dich jetzt falsch. Wenn ich dich doch richtig verstehe: Chan hält die entsprechende Tacitus-Stelle für eine mittelalterliche Interpolation und lässt dabei außer Acht, dass das Christentum eben gerade nicht positiv sondern negativ dargestellt wird.
 
Wenn man wie Chan davon ausgeht, dass es "nicht den geringsten Beleg" für ein Christentum im 1. Jahrhundert gibt, dass die Historizität von Jesus von Nazareth unwahrscheinlich ist und alle christlichen Quellen unglaubwürdig und nichts, als "christliche Propagandaliteratur" sind, ist es nur konsequent, wenn auch alle außerchristlichen Quellen die für die Existenz von Jesus von Nazareth, für ein organisiertes Christentum im 1. Jahrhundert für unglaubwürdig erklärt werden, selbst wenn diese Quellen so offensichtlich negativ über das Christentum berichten, dass es geradezu absurd anmutet, dass es sich bei Tacitus, Sueton und den Pliniusbriefen zu bithynischen Christen um christliche Interpolationen handeln könnte. Ärgerlich ist es, wenn einem unterstellt wird, dass man Quellen unkritisch rezipiert, wenn man eigentlich nur die gleiche Methodik anwendet, die man bei allen anderen Quellen anwenden würde und wenn offensichtlich ist, dass die Quellenlage keineswegs so dürftig ist, wie behauptet wird.
 
Warum hätte man ein nahendes Weltende vorhersagen sollen, wenn die Texte erst im 2. Jahrhundert entstanden sind und das Weltende offensichtlich ausgeblieben war?

Wo in der Apg ist von einem "nahen" Weltende die Rede? Gerade die Apg ist bekannt dafür, dass diese Vorstellung in ihr nicht auftaucht.

Es würde vielleicht helfen, wenn Ihr präzisieren könntet, was Ihr
a) unter "nah" (Chan) bzw. "nahend" (Scorpio)
b) unter "Weltende"
versteht.

Unter "Weltende" kann ein kosmisches Ereignis verstanden werden, aber eben auch "nur" das Ende der römischen Weltordnung und die Errichtung eines irdischen Gottesreiches.

Letztere Vorstellung taucht sehr wohl in der Apostelgeschichte auf, gleich im ersten Kapitel - im Zusammenhang mit einer extremen "Nah"-Erwartung:

"... ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft. Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat ..."

Der Verfasser der Apg geht also davon aus, dass es in der ersten Zeit der christlichen Gemeinde eine extreme Naherwartung gegeben hat - die sich aus seiner Perspektive natürlich schon erledigt hat. Um ein nachträglich vom Verfasser erfundenes Motiv kann es sich hier offensichtlich nicht handeln.

Eine "Naherwartung", bei der mit einer Wiederkunft Jesu noch in der Lebenszeit seiner Jünger gerechnet wird, ist an verschiedenen Stellen des NT zu belegen. Ebenso die Auseinandersetzung mit dem Faktum, dass die Wiederkunft nicht eingetreten ist. Exemplarisch Joh 21,22: "Da kam unter den Brüdern die Rede auf: Dieser Jünger stirbt nicht. Aber Jesus hatte nicht zu ihm gesagt: Er stirbt nicht, sondern: Wenn ich will, dass er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an?"
 
Gut und schön, aber es ist nicht überliefert, dass diese Leute Christen waren, was sie als Nachfahren des Apg-Sergius-Paulus doch hätten sein müssen. Ramsay behauptet es aber (spekulativ).

Wo behauptet Ramsay, dass die Nachfahren des Sergius Paullus hätten Christen sein müssen?

In seinem 1915 erschienenen Buch "The bearing of recent discovery on the trustworthiness of the New" lese ich das Gegenteil: Sogar wenn Sergius Paullus getauft worden wäre, hätte das keinerlei Auswirkung auf die Religion seines Sohnes haben müssen!

"The fact that in patriarchally administered homes of an Eastern town like Philippe, belonging to a comparativeley humble class, the whole family were baptized with the head of the household, cannot be taken as proof of what would happen in such an aristocratic family as the Sergii Paulli with a son in the circumstances usually attending that position. The son would naturally continue his own life and work, without change of religion, whatever were the case with the father." (S. 161/162)

(Zuvor schon, S. 160: "The brother and the husband of Sergia Paulla, and the descendants of her brother, were all pagan...")

Dabei behauptet Ramsay noch nicht einmal, dass Sergius Paullus getauft war, er hält es sogar für unwahrscheinlich:

"There is no sign, and no probability, that the Proconsul was baptized.
...
It may reasonably be doubted whether his words imply more than intellectual belief resulting from amazement ant what had been heard and seen, i. e. some very deep impression on the mind, but nothing beyond that of an openly avowed and permanently religious character." (S. 166)

The bearing of recent discovery on the trustworthiness of the New Testament : Ramsay, William Mitchell, Sir, 1851-1939 : Free Download & Streaming : Internet Archive
 
Zuletzt bearbeitet:
Nochmals auf die Schnelle zwei Worte zum Thema Naherwartung in der Apg:

Apg 1:

6 Da fragten ihn die, welche zusammengekommen waren, und sprachen: Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel die Königsherrschaft wieder her? 7 Er aber sprach zu ihnen: Es ist nicht eure Sache, die Zeiten oder Zeitpunkte zu kennen, die der Vater in seiner eigenen Vollmacht festgesetzt hat; 8 sondern ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde!

Die Stelle wird generell als Zurechtweisung der Jünger durch Jesus ausgelegt. Eine "unberechtigte" Naherwartung wird dahingehend korrigiert, dass das Weltende (d.h. das Kommen des christlichen Gottesreichs) für Menschen weder vorhersehbar noch voraussagbar ist, quasi nach dem Motto "Es ist soweit, wenn es soweit ist".

Ähnliches findet sich in Lk 19,11-27.
 
Nochmals auf die Schnelle zwei Worte zum Thema Naherwartung in der Apg:

Apg 1:

6 Da fragten ihn die, welche zusammengekommen waren, und sprachen: Herr, stellst du in dieser Zeit für Israel die Königsherrschaft wieder her? 7 Er aber sprach zu ihnen: Es ist nicht eure Sache, die Zeiten oder Zeitpunkte zu kennen, die der Vater in seiner eigenen Vollmacht festgesetzt hat; 8 sondern ihr werdet Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist auf euch gekommen ist, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis an das Ende der Erde!

Die Stelle wird generell als Zurechtweisung der Jünger durch Jesus ausgelegt. Eine "unberechtigte" Naherwartung wird dahingehend korrigiert, dass das Weltende (d.h. das Kommen des christlichen Gottesreichs) für Menschen weder vorhersehbar noch voraussagbar ist, quasi nach dem Motto "Es ist soweit, wenn es soweit ist".

Genau die Stelle habe ich zwei Beiträge vorher zitiert:

"... ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft. Als sie nun beisammen waren, fragten sie ihn: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reich für Israel wieder her? Er sagte zu ihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat ..."

Der Verfasser der Apg geht also davon aus, dass es in der ersten Zeit der christlichen Gemeinde eine extreme Naherwartung gegeben hat - die sich aus seiner Perspektive natürlich schon erledigt hat. Um ein nachträglich vom Verfasser erfundenes Motiv kann es sich hier offensichtlich nicht handeln.

Wie soll ich Deinen Beitrag auffassen? Als Ergänzung zu meinem? Als Widerspruch?
 
Das verstehe ich nicht, chan, wenn dir doch die Naherwartungen - ist ja auch nicht das erst Mal in diesem Thread, dass sie thematisiert werden, erstmalig durch fingalo im November 2007 - bekannt sind, wieso vertrittst du dann vehement die Auffassung, dass die Evangelien/Apg./Briefe jünger sind? Warum sollte jemand, als Naherwartungen sich als falsch herausgestellt haben, was leicht die Implosion der ganzen Religion zufolge hätte haben können, sich die Mühe gemacht haben, die Schriften der Religion derart zu gestalten, als sei eine Naherwartung aktuell? Das ergibt doch keinen Sinn.
 
Wie soll ich Deinen Beitrag auffassen? Als Ergänzung zu meinem? Als Widerspruch?

Weder noch - ich hatte ihn in Eile ohne Lektüre vorausgehender Beiträge gepostet.

Letztere Vorstellung taucht sehr wohl in der Apostelgeschichte auf, gleich im ersten Kapitel - im Zusammenhang mit einer extremen "Nah"-Erwartung:

Richtig, ich hatte mich ungenau ausgedrückt, als ich davon schrieb, dass die Vorstellung "nicht auftaucht", ich meinte, dass sie nicht als vertretene Vorstellung auftaucht; als zurückgewiesene Vorstellung taucht sie aber auf. Im Sinne von "vertretene Vorstellung" hatte ich Scorpios Argument (wohl miss-)verstanden. Aber so oder so - ein Argument für eine Frühdatierung der Apg ist das meiner Meinung nach nicht (siehe unten).

Der Verfasser der Apg geht also davon aus, dass es in der ersten Zeit der christlichen Gemeinde eine extreme Naherwartung gegeben hat - die sich aus seiner Perspektive natürlich schon erledigt hat. Um ein nachträglich vom Verfasser erfundenes Motiv kann es sich hier offensichtlich nicht handeln.

Ok, nur stellt sich unter der Voraussetzung, dass die Apg in die Mitte des 1. Jh. fällt, die Frage, wie der Verfasser dazu kommt, einer evangelikalen Spruchüberlieferung, die auch die Naherwartungs-Aussagen von Jesus enthielt, zu widersprechen, indem er dem Jesus in Apg 1,6 eine deutlich abweichende Aussage ("Weltende zeitlich unbestimmt”) in den Mund legt. Hat der Verfasser diese Aussage frei erfunden oder entstammt sie einer alternativen Spruchüberlieferung? Diese Frage müsste sich doch für all jene stellen, die die Apg in das 1. Jh. datieren und von der Realität von Jesus und Jesus-Sprüchen überzeugt sind.

Eine mögliche Erklärung wäre, dass der Verfasser unerwünscht gewordenen Naherwartungen im 2. Jahrhundert entgegentreten wollte. Was die Relevanz von 1,6 für die Frage der Datierung der Apg betrifft, spricht die Thematisierung der Naherwartung nicht zwingend für eine Datierung ins 1. Jahrhundert, aus dem einfachen Grund, weil auch im 2. Jahrhundert immer noch eine starke Tendenz zur nahen Erwartung des Weltendes bestand, die vor allem bei den Montanisten (2. Hälfte 2. Jh.) zum festen Glaubensrepertoire gehörte. Das 2. Jahrhundert war eine Zeit, in der die Naherwartung nur allmählich an Bedeutung verlor. Das zeigt sich auch im intensiven Bemühen der Montanisten, diesem Bedeutungsverlust entgegenzuwirken, was keinen Sinn gemacht hätte, wäre die Naherwartung um die Mitte des 1. Jh. schon obsolet gewesen. Deswegen, meine ich, kann die (zurückweisende) Thematisierung der Naherwartung in der Apg nicht als Argument gegen eine Datierung der Apg ins 2. Jahrhundert dienen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Aber gerade das ergibt doch keinen Sinn, chan. Die Naherwartungen ergeben nur bis etwa 60 oder 70 n. Chr. einen Sinn, vielleicht noch achtzig, wenn die unmittelbaren Jünger Jesu sehr alt geworden wären. Danach bilden sie ein Scheitern der Ideologie der Jesusnachfolger ab. Es ist erstaunlich, dass die junge Religion das überlebte und nicht implodierte, weil ihre wesentliche ideologische Erwartung nicht eintraf. Der Glaube muss derart gefestigt gewesen sein, dass nach dem Ableben der ersten Generation, dasselbe die Gläubigen entgegen aller Vorhersagen nicht anfocht. Was sollten denn "Naherwartungen im 2. Jhdt."? Das ist doch Unsinn.
 
Ok, nur stellt sich unter der Voraussetzung, dass die Apg in die Mitte des 1. Jh. fällt, die Frage, wie der Verfasser dazu kommt, einer evangelikalen Spruchüberlieferung, die auch die Naherwartungs-Aussagen von Jesus enthielt, zu widersprechen, indem er dem Jesus in Apg 1,6 eine deutlich abweichende Aussage ("Weltende zeitlich unbestimmt”) in den Mund legt.

Meine Frage, was jeweils mit "Naherwartung" gemeint ist, scheint untergegangen zu sein.

Bei den von Dir herangezogenen lukanischen Stellen geht es um eine sehr extreme Naherwartung. In Lk 19,11 meinen die Leute, das "Reich Gottes werde sofort erscheinen", in Apg 1,6 ist von "wenigen Tagen" die Rede.
Diese Erwartungen - die der Verfasser eindeutig in die tiberische Zeit datiert - haben sich offensichtlich nicht erfüllt (egal ob man die Apg in die 40er, 60er, 80er Jahre oder noch später datiert).

Die Aussage "Weltende zeitlich unbestimmt” legt der Verfasser auch Jesus nicht in den Mund. Ich lese die Aussage so, dass Gott sehr wohl einen Zeitpunkt bestimmt hat, den die Jünger jedoch nicht erfahren sollen.

Das liegt auf einer Linie mit dem Spruch aus Lk 12,39-40 (vgl. Mt 24,43-44): "Bedenkt: Wenn der Herr des Hauses wüsste, in welcher Stunde der Dieb kommt, so würde er verhindern, dass man in sein Haus einbricht. Haltet auch ihr euch bereit! Denn der Menschensohn kommt zu einer Stunde, in der ihr es nicht erwartet."

Welchen Sprüchen widerspricht er denn? Werde doch mal konkret.



Aber gerade das ergibt doch keinen Sinn, chan. Die Naherwartungen ergeben nur bis etwa 60 oder 70 n. Chr. einen Sinn

... und es wäre übrigens sehr gut nachvollziehbar, wenn sie zur Zeit des Jüdischen Kriegs 66-70 n. Chr. noch einmal so richtig hochgekocht wären.
 
Erstens ist eine neronische Christenverfolgung alles andere als historisch gesichert. Die einzige Quelle ist Tacitus (wenn die Stelle überhaupt echt ist), ohne dass dieser seine Quelle angibt. Weder Sueton noch Cassius Dio berichten davon. .



Das verstehe ich nicht, denn dass Sueton sehr wohl darüber berichtet, und dass von Cassius Dios 80- bändigem Geschichtswerk nur Fragmente erhalten sind, und zwar nur der Zeitraum von der späten Republik bis in die ausgehenden 40er Jahre und dann erst wieder die Zeit des Commodus und der Severer muss dir doch eigentlich bekannt sein.
Du bist wohl auch kein junger Kerl mehr, ich erinnere mich, dass du mal erwähntest, dass du einen Sohn hast, der schon studiert. Für einen Menschen in "reiferen Jahren" wie man so sagt, der wohl selbst eine Hochschulausbildung hat, jedenfalls durchaus über eine umfangreiche Allgemeinbildung mit vielseitigen Interessen verfügt, finde ich es doch recht ungewöhnlich, einerseits mit sehr viel Verve und Selbstvertrauen Thesen als Tatsachen hinzustellen, für die es oft nur unsichere, spekulative Belege gibt, andererseits aber mehrheitlich anerkannte Forschungsergebnisse in Frage zu stellen, für die sehr wohl Belege existieren und die auch nicht so umstritten sind, wie du suggerierst. Aber auf dieses Missverhältnis hat dich schon Sepiola angesprochen. Sorry, für dieses argumentum ad hominem! Geht mich ja auch nichts an, und es wäre ja auch langweilig, wenn alle einer Meinung wären.
 
Chan ist eben auf der hellen Seite der Macht und hat bei Sueton nur bei den schlechten Taten Neros gesucht.

Es fällt aber tatsächlich schwer heutigen Menschen zu erklären, dass die Erwähnung durch ein oder zwei Quellen schon ein Beleg sein soll. Die Mehrheit denkt wohl, es seien ganze Bibliotheken heutiger Art erhalten.
 
Es ist ja nicht so, dass Chan keinen Finger in die Wunde der Mediävisten und Althistoriker legen würde. Nur legt er diesen Finger eben recht einseitig. Nach chans Methode müssten wir im Prinzip jede historische Person der Antike die nur aus historiographischen Quellen und nicht zusätzlich aus epigraphischen und numismatischen oder dokumentarische Quellen bezeugt ist als literarische Fiktion betrachten. Dekonstruktivismus in allen Ehren, aber das ist dann doch ein bisschen zu viel des Guten. Zudem, wenn es auch ein völlig anderes Thema ist, aber ich denke zur methodischen Problematik gehört das dazu, dann ganze weltumspannende Ideologiegebäude aus uns nur archäologisch bekannten, vorschriftlichen Kulturen gezimmert werden, die wir dann kritiklos anerkennen sollen. Da klaffen doch Anspruchsdenken gegenüber den erzählenden historischen Quellen auf der einen Seite und Ansprüche an die Rezipienten auf der anderen Seite ohne erzählende Quellen alles mögliche zu glauben sehr weit auseinander.
 
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