Transformation der Dame-Schachfigur im 15. Jahrhundert

Chan

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Es gibt mehrere Hypothesen über den Grund für die außergewöhnliche Machtstellung der ´Dame´ im Schachspiel. Zu dieser Machtstellung gelangte die Figur gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Hypothese 1 besagt, dass Jeanne d´Arc das Vorbild für die Verstärkung der bis dahin eher schwachen Dame-Figur war. Hypothese 2 sieht Isabella von Spanien in dieser Rolle. Hypothese 3 hält den Kult um die ´Muttergottes´ und ´Himmelskönigin´ Maria, der in dieser Zeit seinen Höhepunkt erreichte, für den Auslöser der Figurentransformation. Hypothese 4 sieht in dem im 15. Jahrhundert noch anhaltenden Kult um die ´höfische Liebe´ die Ursache für die herausragende Stellung der ´Dame´. Zu diesem Kult schrieb ich vor Jahren u.a. folgendes:

Ihr ganzes Dasein (= der Ritterzöglinge, Anm. Chan) stand also in einer Phase unter dem Zeichen einer mächtigen Frau, in der im Jüngling die ´Triebe erwachen´. Es ist klar, dass in der Phantasiewelt der Heranwachsenden die Burgherrin die Funktion der begehrten Idealfrau annimmt.

Was könnte die Hauptursache für die Funktionserweiterung der Figur sein? Wirken vielleicht alle vier genannten Gründe oder zumindest einige von ihnen zusammen?
 
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Was wäre denn so das Merkmal, an dem sich die „weite Verbreitung“ der Jeanne d’Arc-Hypothese festmachen lässt?

Die Hinweise von Yalom sind eigentlich eindeutig.
 
Sind nicht die Läufer damals auch stark aufgewertet worden, wer ist denn damit gemeint?
Ich glaub eher nicht dass da bestimmte Damen gemeint gewesen sind sondern dass diese Änderungen, die eine sehr starke Dynamisierung des Spiels bewirkt haben, mehr dem Zeitgeist in der heraufziehenden Neuzeit entsprochen haben werden.
 
Was könnte die Hauptursache für die Funktionserweiterung der Figur sein? Wirken vielleicht alle vier genannten Gründe oder zumindest einige von ihnen zusammen?
Das Spiel dreht sich trotz des erhöhten Aktionsradius der Dame nach wie vor um den König. Die Dame erhielt nicht mehr Schlagkraft im eigentlichen Sinn (sie kann, wie jede andere Figur, auch nur eine Figur aufs Mal schlagen), sondern erweiterte Wirkungsdistanzen in alle Richtungen, begrenzt nur durch das Brett und durch die geradlinige Bewegung. Die Figur kann am schnellsten agieren und bei Konflikten am schnellsten vor Ort sein. Trotzdem hat sie keine größere »Machtstellung«, denn sie bleibt ein (ersetzbarer) Kämpfer, wenn auch deutlich wertvoller als zuvor.

Um 1500 waren die Zeiten vorbei, als Herrscher noch im Kampf zuvorderst agieren mussten. Sie wurden an sicherem Ort geschützt, von wo aus sie ihre Macht ausübten, umgeben von für den Machterhalt wertvollen Untergebenen. Bequemlichkeit wurde zum Statussymbol.

Darstellungen der gehenden Madonna sind äußerst selten; sie wurde zumeist als sitzende oder stillstehende Figur dargestellt. Allein schon deswegen halte ich einen auch nur unbewussten Zusammenhang mit der Marienverehrung für absurd.

Hingegen würde ich einen Bezug zum osmanischen Machtsystem nicht ausschließen. Hierfür spricht auch die Möglichkeit der Bauernumwandlung in eine Dame.
 
Ich höre von der Jeanne d'Arc-Hypothese heute zum ersten Mal, kannte v.a. die Marienkulthypothese. Was deutlich gegen die Jeanne d'Arc-Hypothese spricht ist, dass die Dame im europäischen Schach - beispielsweise die Lewis Chessmen - schon frühzeitig als Königin dargestellt wurde.* Jeanne d'Arc war niemals Königin.


*Das indische Schach kannte vier Parteien, wobei immer zwei gegen zwei spielten, es gab also pro Partei nur acht statt sechszehn Figuren, und statt zwei vier Königen. Über Persien vermittelt wurde das Spiel im islamischen Raum bekannt und nur noch zu zweit gespielt, der überflüssige König wurde zum Wesir (al-wazir) oder zum Reiterführer (al-fāris). Im spanischen Militär noch als alférez erhalten. Davon abgeleitet, womöglich unter Einfluss eines mittelpersischen firzān ('Wächter') die Dame im alfonsinischen Schach: alferza. Zunächst noch männlich gebraucht wegen des auslautenden -a bald zur weiblichen Figur geworden. Auf die alferza hätte Jeanne d'Arc natürlich gut gepasst.
 
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, dass die Dame im europäischen Schach - beispielsweise die Lewis Chessmen - schon frühzeitig als Königin dargestellt wurde.*

* [...]Davon abgeleitet, womöglich unter Einfluss eines mittelpersischen firzān ('Wächter') die Dame im alfonsinischen Schach: alferza. Zunächst noch männlich gebraucht wegen des auslautenden -a bald zur weiblichen Figur geworden.

Wobei in meiner obigen Darstellung ein chronologisches Problem auftaucht. Das alfonsinische Schachbuch stammt ja aus dem 13. Jhdt. Die Lewis Chessmen sind aber älter und noch älter, nämlich aus dem 10. Jhdt. ist das Versus de Scachis (10. Jhdt.), in dem bereits von der Königin gesprochen wird:

Præfati ruris agmina prima tenet,
In quorum medio rex et regina locantur,
Consimiles specie, non racione tamen.
Post hos acclini comites, hic inde locati,
Auribus ut dominum conscia uerba ferant.
Tertius a primis æques est hinc inde paratus
Debita transverso carpere calle loca.
Extremos retinet fines invectus uterque
Bigis seu rochus, marchio sive magis.

Des Feldes vorausgeschickt hält das erste Heer
in dessen Mitte König und Königin gestellt werden.
Ähnlich in der Art...​

Ich bin jetzt zu faul, weiter zu übersetzen. Und zur Frage, warum sich um 1500 die möglichen Spielzüge insbesondere der Dame so verändern, trägt das ja nun auch nichts bei. Da Schachzabelbücher aber eine beliebte Literaturgattung waren, sollte sich in diesen etwas finden lassen.
 
Hingegen würde ich einen Bezug zum osmanischen Machtsystem nicht ausschließen. Hierfür spricht auch die Möglichkeit der Bauernumwandlung in eine Dame.
Das müsstest du näher erklären. Was hat die Bauernumwandlung in die Dame bei Erreichen der gegnerischen Grundlinie (was ja bei der Schrittgeschwindigkeit und beschränkten Möglichkeiten des Bauern schon eine Leistung ist, die hier honoriert wird, zumal der Bauer sich ja - als einzige Figur des Spiels - nicht rückwärts bewegen kann) mit den Osmanen zu tun?

Allein schon deswegen halte ich einen auch nur unbewussten Zusammenhang mit der Marienverehrung für absurd.
Wer spricht von unbewusst?
Die Katholische Kirche hat bereits seit Jahrhunderten ein Problem mit der Volksfrömmigkeit in den katholischen Bevölkerungen. Diese neigt nämlich zu einer überhöhten Marienverehrung, dass Maria, die ja theologisch betrachtet eigentlich "nur" das "Gefäß" war, mit dessen Hilfe Gott sich in seine Menschengestalt transformmiert hat, noch über ihrem Sohn (also Gott) steht. Diese Marienverehrung würde die Macht der Dame auf dem Schachbrett, nicht unschlagbar, aber bis auf die Züge des Springers die Zugmöglicheiten aller anderen Figuren zusammenfassend, erklären können. Das ich hier mit Konjunktiv und können abschwäche, hat seine Gründe darin, dass ich eine Möglichkeit darstelle und nicht etwa konkret Position beziehe.
 
nämlich aus dem 10. Jhdt. ist das Versus de Scachis (10. Jhdt.), in dem bereits von der Königin gesprochen wird.

Deshalb hatte ich ja oben den link zitiert (der wiederum recht schlecht seine Quelle, nämlich Yalom, zitiert):

„The first surviving mention of this piece as a queen or similar was "regina" in the Einsiedeln Poem, written in Latin around 997 and preserved in a monastery at Einsiedeln in Switzerland.

[dazu Fußnote:]
Helena M. Gamer, “The Earliest Evidence of Chess in Western Literature: The Einsiedeln Verses,” Speculum 29 (October 1954): 734–50. This is the most authoritative study of the Einsiedeln Poem.“

Yalom, S. 15, 212
 
Also vom Fußsoldaten zur Umm Walad?
El Quijote, vielleicht bist Du zu sehr auf die Bezeichnung »Dame«, resp. auf das Geschlecht der wertvollen Figur fixiert.

Das müsstest du näher erklären. Was hat die Bauernumwandlung in die Dame bei Erreichen der gegnerischen Grundlinie (was ja bei der Schrittgeschwindigkeit und beschränkten Möglichkeiten des Bauern schon eine Leistung ist, die hier honoriert wird, zumal der Bauer sich ja - als einzige Figur des Spiels - nicht rückwärts bewegen kann) mit den Osmanen zu tun?
Du selbst hast nach meiner zugegeben knappen Aussage auch die Bezeichnung »Vesir« für den »überflüssigen König« eingebracht, was mich frohgemut angesichts meiner Kurzangebundenheit werden ließ. Ich dachte nämlich an die Möglichkeiten der entführten Jungen bei der Knabenlese, die es bis zum Großvesir schaffen konnten, an jene wertvollen Figuren im osmanischen Machtsystem, die in der Ferne die Kreuzzüge leiteten.(was auch der Grund für meine Einleitung zur Funktion der Dame war)

Wer spricht von unbewusst?
Die Katholische Kirche hat bereits seit Jahrhunderten ein Problem mit der Volksfrömmigkeit in den katholischen Bevölkerungen. Diese neigt nämlich zu einer überhöhten Marienverehrung, dass Maria, die ja theologisch betrachtet eigentlich "nur" das "Gefäß" war, mit dessen Hilfe Gott sich in seine Menschengestalt transformmiert hat, noch über ihrem Sohn (also Gott) steht. Diese Marienverehrung würde die Macht der Dame auf dem Schachbrett, nicht unschlagbar, aber bis auf die Züge des Springers die Zugmöglicheiten aller anderen Figuren zusammenfassend, erklären können. Das ich hier mit Konjunktiv und können abschwäche, hat seine Gründe darin, dass ich eine Möglichkeit darstelle und nicht etwa konkret Position beziehe.
Aus Deinem Fürhalten für die Hypothese kann ich nur die Gewichtung Mariens zur betr. Zeit herauslesen, nicht aber das eigentliche Argument für die Assoziation jener Zeit mit der Heiligen.(Oder hab ich was überlesen?) M.M.n. wäre es sogar ein Sakrileg gewesen, Maria mit einem Spiel, und dann noch mit einem Kriegsspiel in Verbindung zu bringen. Sowas würde ich ausschließlich unserem Zeitgeist zuordnen, ohne hier jemandem auf den Schlips treten zu wollen. Maria war in keiner Weise hurtig, und gewalttätig schon gar nicht; nicht in den Köpfen des Spätmittelalters.
 
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Ich bin nun kein Kenner der Geschichte des Schachspiels, aber Schach muss schon vor den Kreuzzügen in Mitteleuropa bekannt gewesen sein, denn es wird in dem Versepos Ruodlieb aus dem 10 oder 11. Jahrhundert erwähnt. Viele Regeln wie der Doppelschritt des Bauern bei der Eröffnung, das en passant schlagen und die Rochade kamen erst im Laufe der Jahre hinzu. Die Türme symbolisierten ursprünglich die Streitwagen der altindischen Armeen, die Läufer die Kriegselefanten, weshalb der Läufer russisch heute noch slon=Elefant heißt. die Turmfigur wurde wohl durch ein symbolisiertes Rad gekennzeichnet. Mittelalterliche Spieler haben darin die Zinnen eines Turmes erkennen wollen. Das Schachspiel ist Produkt vieler Völker und Kulturen. Die Identifizierung des "Wesirs" mit einer "Königin" könnte auch einfach Zufall sein, ohne dass dabei der Marienkult des Mittelalters oder die "Devsirme" der osmanischen Truppen dabei Pate gestanden hat.
 
Habe unterdessen genauer nachgeschaut und nehme meinen Einwand an El Quijote bzgl. Fixierung auf das Geschlecht zurück, zumindest teilweise. Denn die Umwandlung ins Weibliche fand in Europa definitiv vor der Aufwertung der Figur statt. Nach der en. Wikipedia zu “Queen” erfolgte die Erweiterung des Aktionsradius in zwei Schritten, zunächst um 1300, was deutlich nach der Erwähnung einer regina in Einsiedeln geschah. Da bleibt dennoch die Frage, wo diese erste Aufwertung geschah, um über ihre Motivation Vermutungen anstellen zu können; in einer Gegend, wo die Figur noch als Vesir waltete, oder in Europa? Dazu konnte ich jetzt nichts finden.

Jeanne d’Arc jedenfalls kommt demnach höchstens als Vorbild für die zweite Aufwertung in Frage, für die scacchi de la donna, die erst im 16. Jh. verbreitet wurde. Betrifft aber auch meine Knabenlesethese… ;)
 
Ich habe es immer so verstanden, als ob der Wesir der islamischen Welt ziemlich schnell zur abendländischen Dame mutierte, da es das Amt des Wesirs nicht gab und die Rolle der Königin öffentlicher als im Islam war. Nötig war dazu die Aufnahme des Schachspiels in die christliche Kultur, was wohl ziemlich schnell gegangen sein müsste.
 
Die Potenzierung der Figur und ihre Umbennung zur "Dame" und "Königin" fanden in Europa statt. Das Spiel war aber in Europa bereits vor der Mutation des Grosswesirs zur Dame bekannt und wurde anfänglich mit den Figuren des arabischen Typs gespielt, welche aufgrund des islamischen Bilderverbots stark abstrahiert waren. Der vermutlich älteste europäische Text, in welchem Schach-Regeln festgehalten sind ist eine hebräische Dichtung von Abraham ibn Erza (1089-1164) aus Spanien.

Ich bin überzeugt davon, dass für die Entstehung der Spielfigur der Dame ausschliesslich Hypothese 4 verantwortlich ist - die höfische Kultur und damit verbunden vor allem die Überhöhung der "Dame" im Minnekult. Auch gehörte das Schaschspiel zu den sieben ritterlichen Tugenden, womit eine weitere Verbindung zum Minnekult gegeben wäre. Als "Vorspiel" hielt das Spiel als "Liebesschach" auch Einzug in die Minnedichtung.

Die Lewis-Schachfiguren mit der Königin sind vermutlich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert in Norwegen entstanden, weiter existiert im Bode-Museum Berlin eine Schach-Königin (Elfenbeinschnitzerei, auf einem Thron sitzend) welche aus Süditalien stammt und in das frühe 12. Jahrhundert datiert wird. Also kommen zum Mindesten weder Isabella noch Jeanne d' Arc als Vorbild für die Schachkönigin in Frage. Zwar gibt es Thesen, welche den Ursprung des mittelalterlichen Marienkults in der Minnekultur erkennen, aber ganz unabhängig davon, ob diese beiden kulturellen Entwicklungen in usrsächlichem Zusammenhang stehen oder nicht, am Anfang des Minnekults stand eindeutig die zwar idealisierte, aber nichtsdestotrotz weltliche Dame.

Die vielen Beispiele der grossen Rolle des Schachs in der Minneliteratur (Scorpio hat bereits auf das Versepos Ruodlieb verwiesen, Gottfried von Strassburg rühmt Tristans Schachkünste, in Wolframs von Eschenbach "Parzival" schleudert die Königin Antikonie ihren Feinden Schabrett und Schachfiguren entgegen, der Pfaffe Konrad schildert in seinem "Rolandslied" Karl den Grossen als Schachspieler, etc.) lassen den m.M. schon fast zwingenden Schluss zu, dass auch die Königin als Spielfigur auf den Einfluss der Minnekultur zurückzuführen ist.
 
Es gibt noch eine weitere Theorie, die ich erwähnen möchte, ohne mich zu positionieren.

Die Königin im Mittelalter hatte durchaus wichtige Aufgaben und Handlungsmöglichkeiten. Sehen wir die Figuren als Abbildung des Hofs mit König, Königin, Bischöfen, Rittern und bezahlten Garden, kann man das Schachspiel auch als Abbild von Intrigen sehen. Und hier ergibt sich ja auch ein Wandel und eine höhere Bedeutung der einzelnen Figuren am Hof. Ob dies so sein könnte, kann ich nicht sagen, da ich mich mit der Geschichte des Schachspiels kaum beschäftigt habe, ich habe es als Bild interessant gefunden, nachdem ich es in der Schulzeit las.

Eher überzeugt hat mich der allgemeine Wandel in der Renaissance und auch der Wandel der Kriegführung. Einzelne Aspekte muss ich in diesem Forum ja nicht nennen. Sie würden auch den Thread sprengen. Ich will auf etwas anderes hinaus:

Könnte es gerade für die veränderte Damenbewegung nicht mehrere Ursachen geben? Könnte es nicht einfach in die Zeit passen? Nicht als irgendeine Kopie der Realität oder als Allegorie, sondern einfach so, wie wir sagen, dass eine Neuerung ganz einfach dem Zeitgeist entspricht?

Aber, wie gesagt, dass soll keine Positionsbestimmung sein, dazu liegt mir das Thema -zumindest historisch- nicht nahe genug. Ich habe immer lieber gespielt, als darüber zu lesen. Aber mich würde interessieren, was ihr dazu meint, dass es nicht 'die' Ursache geben könnte, sondern es einfach in der Zeit lag, ohne viel mehr als Lebens- und Spielgefühl anzuführen.

(Das jemand einfach experimentiert hat, bleibt natürlich möglich. Dem ist nur mangels Quellen kein Wahrheitswert zuzuordnen.)
 
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