Anrede im deutschen Reich um 1500

stephan11

Neues Mitglied
Hallo,
hier wieder eine Frage für die Spezialisten: Wie redeten sich um 1500 Kleinadelige, Bürger und sozial tieferstehende untereinander und standesübergreifend an?
Wir wollen entsprechende Personen bei einer historischen Stadtführung auftreten und sie dabei möglichst korrekt sprechen lassen.
Vielen Dank schon mal.
 
Vom 13. bis zum 16. Jahrhundert waren in Deutschland folgende Anredeformen üblich (laut Jakob Grimm):

Einfache Leute (Volk) untereinander: DU

Adel:

Geschwister untereinander: DU
Eltern zum Kind: DU
Sohn & Tochter zum Vater: IHR
Sohn zur Mutter: IHR
Tochter zur Mutter: DU
Ehepartner untereinander: IHR
Sich Liebende: IHR oder DU
Geringerer zum Höheren: IHR
Höherer zum Geringeren: DU
Freunde untereinander: DU
An Frauen, Geistliche, Fremde: IHR

Die Formen zwischen Adel und Bürgertum sind mir gerade nicht bekannt, ich vermute aber, dass der Adlige den Bürger duzte (so wie im Adel der Höhere den Geringeren duzte), während der Bürger den Adligen ihrzte (so wie im Adel der Geringere den Höheren ihrzte).

Das "Ihr" breitete sich im Laufe des 16. Jh. auch beim Nicht-Adel aus. Luther z.B. begann seinen Sohn zu ihrzen, als dieser seinen ersten akademischen Titel erlangte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich könnte mir vorstellen, dass die Formen zwischen Adel und Bürgertum auch davon abhingen, welche Position beide hatten. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass ein armer Ritter den Bürgermeister der Stadt XY so einfach geduzt und dieser ihn da geihrzt hat.
 
Das "Ihr" breitete sich im Laufe des 16. Jh. auch beim Nicht-Adel aus. Luther z.B. begann seinen Sohn zu ihrzen, als dieser seinen ersten akademischen Titel erlangte.

Das ist ein soziolinguistisch interessantes Phänomen, welches man in mehreren Sprachen beobachten kann. So ist z.B. das englische you die Enstprechung zu euch/euer, wohingegen die englische Kognate zum dt. du/dir/dein, engl. thou/thy allenfalls noch aus älteren Texten bekannt ist aber im Alltag längst ausgestorben. Das spanische Usted/Ustedes ist eine Verschleifung des zunächst inflationär gebrauchten, dann immer mehr verschliffenen vuestra merced ('Euer Gnaden'). (Beliebt aber historisch nicht haltbar ist die These, dass span. Usted von arab. Ustād käme. Allerdings ist der Verschleifungsprozess von Vuestra Merced zu Usted anhand der Schriftquellen gut nachzuverfolgen und, um dem noch eines aufzusetzen, spricht die Umlautung von arabischen Lehnworten im Spanischen dagegen. Abgesehen davon ist Ustād ein Wort für 'Lehrer', wobei die semantische Verschiebung noch das geringste Problem wäre).

Aber an Luther habe ich bei der Fragestellung gestern auch gedacht. Der hat ja genug Schriftliches hinterlassen. Von der BibelÜS bis hin zu Briefen, wo man historio-soziolinguistische Untersuchungen von Anredeformen dran machen könnte. Ich bin gestern einige Texte vom 15. zum 16. Jhdt. durchgegangen, habe aber keinen gefunden, der Anreden beinhaltete, außer einem von Fischart, worin dieser sowohl duzte als auch ihrzte (jrzte). Das Problem dabei: Bei dem Geduzten handelte es sich um nichtmenschliche Gegenstände (sein Sujet), bei dem Geihrzten war nicht klar, ob er sich an den konkreten Leser oder die anonyme Masse der Leser wandte.
 
Das ist ein soziolinguistisch interessantes Phänomen, welches man in mehreren Sprachen beobachten kann. So ist z.B. das englische you die Enstprechung zu euch/euer, wohingegen die englische Kognate zum dt. du/dir/dein, engl. thou/thy allenfalls noch aus älteren Texten bekannt ist aber im Alltag längst ausgestorben.

Die Anrede "thou", "thee", "thy" statt "you", "your" ist u. a. charakteristisch für die englischen Bibelübersetzungen, und der Sprachgebrauch war schon im 18., spätestens aber im 19. Jahrhundert altmodisch und altertümlich, wurde aber mit Vorliebe von den amerikanischen Quäkern (und Mormonen?) verwendet, die sich noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts so anredeten. Das kann man auch in amerikanischen Romanen aus dieser Zeit nachlesen, z. B. in Herman Melvilles "Moby Dick or the Whale" und Harriet Beecher-Stowes "Uncle Tom´s Cabin or Live among the Lowly" (beide um 1850, jedenfalls im gleichen Jahr erschienen) nachlesen kann.
Der Ich Erzähler Ishmael begibt sich von Manhattan in die von Quäkern dominierten Walfangzentren Nantucket und New Bedford, und die entlaufenen Sklaven Eliza mit ihrem Sohn Harry und ihrem Mann George Harris finden auf ihrer Flucht und Richtung Kanada Hilfe und Zuflucht durch die Quäker Phineas Fletcher und die Familie Halliday, die sie in einer Quäker Siedlung verstecken. Wegen des "Fugitive Slave Acts von 1850 hatten die freien Nordstaaten aufgehört, ein sicherer Hafen für entlaufene Sklaven zu sein.

Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das "thou", "thee", "thy" im Alltag tatsächlich "längst ausgestorben" ist. Im normalen Sprachgebrauch sicher, aber die Hand dafür ins Feuer legen, ob nicht die Quäker, Mormonen, Hutterer, Mennoniten und Amish-People nicht auch im 20. und 21. Jahrhundert diesen Sprachgebrauch aufgegeben haben, würde ich nicht.
 
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das "thou", "thee", "thy" im Alltag tatsächlich "längst ausgestorben" ist. Im normalen Sprachgebrauch sicher, aber die Hand dafür ins Feuer legen, ob nicht die Quäker, Mormonen, Hutterer, Mennoniten und Amish-People nicht auch im 20. und 21. Jahrhundert diesen Sprachgebrauch aufgegeben haben, würde ich nicht.
Ich auch nicht, aber die Gruppen, die du nennst, sind ja eher abgespaltene Nischengesellschaften und nicht Otto-Normal-Amerikaner. Insofern möchte ich hier Alltag nicht gelten lassen.
 
Ist ja klasse, dass hier gleich so viele kompetente Aussagen kommen. Ich möchte meine Frage noch etwas spezialisieren. Ist die heute übliche Anrede "Herr/Frau Nachname" im 16. Jh. schon üblich gewesen, oder ist das nur was für Höhergestellte? Wie sprechen sich dann Bürger untereinander an? Du oder Ihr ist ja geklärt, aber mit Anrede kann ja auch so eine Form gemeint sein. Mir fehlt hier irgendwie die richtige Bezeichnung.
 
Ich auch nicht, aber die Gruppen, die du nennst, sind ja eher abgespaltene Nischengesellschaften und nicht Otto-Normal-Amerikaner. Insofern möchte ich hier Alltag nicht gelten lassen.
Mal abgesehen von peripheren Bevölkerungsgruppen ist die Nutzung in der Alltagssprache sicherlich veraltet, aber nicht ausgestorben. In bestimmten Kontexten werden die alten Personalpronomen noch gern benutzt: Religion, Gospelmusik, Literatur, Film (wenn es altmodisch klingen soll). Dass es ein Bedürfnis der Abgrenzung von Singular und Plural auch für die 2. Person gibt, zeigt z.B. das Auftreten von Y'all.
 
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das "thou", "thee", "thy" im Alltag tatsächlich "längst ausgestorben" ist.
Es wird noch in ganz wenigen, sehr formalen, meist religiösen, Situationen verwendet, und dient dann dazu, um große Achtung auszudrücken. Man kann seine Stellung mit dem deutschen Singular-Ihr vergleichen, das heute auch fast gar nicht mehr verwendet wird.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ist die heute übliche Anrede "Herr/Frau Nachname" im 16. Jh. schon üblich gewesen, oder ist das nur was für Höhergestellte?

Angaben aus der Sekundärliteratur konnte ich dazu nicht finden, dafür aber als frühestes mir bekanntes Textbeispiel ein Gedicht von Martin Opitz vom Anfang des 17. Jahrhunderts, in dem es um die Geburt der Tochter seines Freundes Möller (oder Müller) geht:

herr Müller gieng im scherze
ein wetten mit mir ein,
sein trost und liebstes herze
brächt ihm ein töchterlein.
(...)


Die Anrede "thou", "thee", "thy" statt "you", "your" ist u. a. charakteristisch für die englischen Bibelübersetzungen, und der Sprachgebrauch war schon im 18., spätestens aber im 19. Jahrhundert altmodisch und altertümlich,

In den Romanen meines Favoriten Samuel Richardson stößt man öfters auf den Gebrauch des "thou" unabhängig von der religiösen Einstellung der Figur. In "Clarissa" von 1747 sind es die beiden adligen Libertins Lovelace und Belford, die sich als Freunde in Briefen gegenseitig regelmäßig "thou-en":

LETTER LIV.
Mr. Lovelace, To John Belford, Esq.
Well, but now my heart is a little at ease, I will condescend to take brief notice of some other passages in thy Letters.
I find, I am to thank thee, that the dear creature has avoided my visit. Things are now in so good a train, that I must forgive thee; else thou shouldst have heard more of this new instance of disloyalty to thy General.


LETTER XLIX.
Mr. Belford, To Robert Lovelace, Esq.
Thou, Lovelace, hast been long the entertainer; I the entertained. Nor have I been solicitous to animadvert, as thou wentest along, upon thy inventions, and their tendency. For I believed, that with all thy airs, the unequalled perfections and fine qualities of this lady would always be her protection and security.

In "Pamela" von 1740 tritt das "thou" nur in Ausnahmefällen auf, das "you" ist zwischen allen Personen unabhängig vom Stand der Normalfall. Der adlige Mr. B "thou-t" seine geliebte Pamela nur einmal, in einem leidenschaftlichen Moment:

What say'st thou, my Girl? said he, with some Eagerness; hadst thou not rather stay with me, than go to my Sister Davers?

Pamelas Freundin Mrs. Jervis erlaubt sich in einer Gefühlsaufwallung ebenfalls ausnahmsweise das "thou":

Pretty-face, where gottest thou all thy Knowledge, and thy good Notions, at these Years? Thou art a Miracle for thy Age, and I shall always love thee.

Als Pamela sich gegen Mrs. Jewkes´ sexuelle Offerte verwahrt, verfällt auch diese ausnahmsweise aufs ´thou´:

She fell a laughing very confidently, and said, That's prettily said, I vow! Then thou hadst rather be kissed by the other sex? 'I fackins, I commend thee for that!
 
Ich vermute, die Voraussetzung dafür, um mit Herr oder Frau Müller (oder Ähnliches) zu werden, war, dass es diesen bereits gab.
 
Ich vermute, die Voraussetzung dafür, um mit Herr oder Frau Müller (oder Ähnliches) zu werden, war, dass es diesen bereits gab.
Um 1500 gab es schon Familiennamen, wie man u.A. in Gerichtsakten sehen kann. Häufig wurde bei den Frauen ein "in" z.B. Müllerin angehängt. Die Mutter von Albrecht Dürer hieß Barbara Dürer und war eine geborene Holper, Tochter von Hieronymus Holper, durch die Ehe (seit 1467) mit Dürers Vater Albrecht erhielt auch sie dessen Familiennamen. Folglich waren Familiennamen auch im 15. Jh. üblich und Frauen übernahmen diesen nach der Heirat.
 
Der Familienname ist aus dem Beinamen einer Person entstanden, der meistens auf einen Beruf oder den Bauern- oder Gutshof hinwies, wo sie lebte. Zunächst konnte die Person alternativ mit ihrem Rufnamen oder Beinamen bezeichnet werden, die noch nicht miteinander verbunden waren.

Ab ca. 1100 kam das Verbinden dieser Namen auf, wobei dem Beinamen ein "genannt" vorangestellt wurde, z.B. "Johann genannt Müller". Etwa ab dem 14. Jahrhundert wurde daraus (zumeist) ein "Johann Müller", auch wenn das "genannt" in Urkunden noch viel später erscheint.

Das Kriterium eines Familiennamens ist die Vererbbarkeit. Wenn der Beiname auf die Nachkommen überging, wurde aus ihm ein Familienname. Hieß der Sohn von "Heinrich Pfister (= Bäcker)" "Peter Pfister", konnte das aber auch nur auch bedeuten, dass Peter den gleichen Beruf hatte wie sein Vater. Hieß der Sohn "Peter Egger", bestand die Möglichkeit, dass er entweder einen zum Familiennamen gewordenen, also vererbten Hofnamen trug ("Egger" = Winkel, Ecke) oder dass er auf dem gleichen Hof lebte wie sein Vater. Hieß Peter also Müller oder Egger, war aber aber kein Müller bzw. lebte nicht auf dem Hof Egger, dann trug er einen Familiennamen.

Um 1400 trug praktisch jeder Mensch im deutschsprachigen Raum eine Kombination aus Ruf- und Beiname. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war der Beiname aber noch geringgeschätzt, was sich in seiner Kleinschreibung ausdrückte, wenn er mit dem Rufnamen kombiniert wurde. Dürers Monogramm demonstriert augenfällig die Überordnung des Rufnamens.

Bis zum 17. Jahrhundert waren Wechsel des Beinamens noch leicht möglich, wenn der Träger z.B. einen neuen Beruf ausübte oder den Familiennamen einfach änderte. Die Behörden schoben dem dann einen Riegel vor und verboten bzw. erschwerten die Änderung eines Familiennamens.
 
Zuletzt bearbeitet:
Auszüge aus dem Eintrag "Der Herr" in: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 1774-86, von Johann Christoph Adelung (Bibliothekar, Lexikograph und Germanist):

(...)
Im höchsten und vorzüglichsten Verstande bezeichnet dieses Wort in der Deutschen Bibel und biblischen Schreibart, Gott, den höchsten Oberherren, so wohl für sich allein, als mit allerley Beysätzen, z. B. Gott der Herr, der Herr Herr, d. i. der Herr aller Herren, das Hebr. Jehovah Elohim auszudrucken. Ehedem pflegte man das Wort Herr, wenn es Gott bedeutete, entweder ganz, oder den ersten zwey Buchstaben nach mit großen Anfangsbuchstaben zu drucken, HERR oder HErr, welches aber jetzt immer mehr aus der Gewohnheit kommt. Auch Obrigkeiten, von dem höchsten Landesherren an, bis zu geringern Unterbeamten werden mit diesem Nahmen beleget. Der Kaiser, unser allergnädigster Herr. Der König, mein Herr. In den Titulaturen pfleget man es in diesem Verstande zu verdoppeln: Durchlauchtigster Herzog, Gnädigster Fürst und Herr, Herr; welches doch nicht in allen Gegenden üblich ist. Eine Person weiblichen Geschlechtes wird in diesem Falle Frau genannt.
(...)
Ehedem war das Wort Herr vorzüglich dem hohen Adel eigen, indem auch Fürsten und Grafen auf den Titel edler Herr stolz waren. Die Grafen von Reuß pflegten sich noch in der neuern Zeiten nur Herren Reußen oder Herren von Reuß zu schreiben. Nachmahls ward dieses Wort den Freyherren und Baronen eigen, in welcher Bedeutung es noch nicht ganz veraltet ist, ob es gleich jetzt am häufigsten einer jeden adeligen männlichen Person beygeleget wird; der Herr von N., welche von ihren Unterthanen auch nur der Herr schlechthin genannt werden. S. Herrenbank, Herrenstand. Auch die bürgerliche Obrigkeit in den Städten, die Rathsglieder, werden von ihren Bürgern nur schlechthin die Herren genannt, vollständig die Rathsherren, oder Herren des Rathes.
(...)
Aus Höflichkeit nennt man auch eine jede männliche Person von einigen Stande, auch wenn es nicht der bloße Titel ist und den Nahmen begleitet, einen Herren (...) In der häuslichen Gesellschaft heißt der Hausvater in Rücksicht auf das Gesinde dessen Herr. Herr und Frau, der Hausherr oder Hausvater und dessen Gattinn. Sprichw. Wie der Herr so der Knecht. Auch Ehegattinnen pflegen ihre Ehegatten in der anständigen Sprechart ihren Eheherren oder nur Herren schlechthin zu nennen. Mein seliger Herr, d. i. Ehemann. 3) In weiterer Bedeutung ist dieses Wort, so wie das weibliche Frau, auch ein Ehrenwort oder Titel, welchen alle männlichen Personen von einigem Stande, so wohl von Geringern, als von Personen ihres Standes und von Vornehmern zu bekommen pflegen, wenn man sie anredet, oder auch ihrer mit Achtung erwähnet; da man es denn so wohl ihrem Nahmen, als auch ihrer Würde oder dem Nahmen ihres Verhältnisses vorzusetzen pflegt. Der Herr Graf von N. der Herr Baron von X. (aber nicht Herr Freyherr, ob man gleich sagt der Herr Kammerherr von F.) der Herr Amtmann, der Herr Pfarrer u. s. f. Herr Peter, Herr Hofmann u. s. f. Ihr Herr Vater, ihr seliger Herr Bruder, mein Herr Verleger u. s. f. Oft gebraucht man auch dieses Wort, besonders im Oberdeutschen absolute, solche Personen anzureden, die man nicht kennet, oder auch, denen man eben keine vorzügliche Achtung schuldig zu seyn glaubt. Wie heißt der Herr? d. i. wie heißen sie, mein Herr? Wer ist der Herr? wer sind sie, mein Herr? Ich bin des Herren ergebener Diener.
(...)
 
Hallo,
hier wieder eine Frage für die Spezialisten: Wie redeten sich um 1500 Kleinadelige, Bürger und sozial tieferstehende untereinander und standesübergreifend an?

Für Angehörige des niederen Adels (Edle, Ritter Freiherren) war im Spätmittelalter die Anrede "Euer Hochwohlgeboren“ üblich.
 
Zurück
Oben