Spätantike- Rückschritt oder Fortschritt?

Warum es ein Desinteresse der Reichsbewohner an ihrem Staat gab, liegt auf der Hand. Der römische Staat hatte seine Grenzen überdehnt und seine Ressourcen überschätzt – zumindest Westrom. Er brauchte somit ungeheure finanzielle Mittel, um das Militär nebst der gesamten Bürokratie überhaupt unterhalten zu können.

Daher strebte die Regierung unersättlich nach neuen und höheren Steuern, sodass die Steuerlast den Reichsbewohnern bald zur unerträglichen Bürde wurde. Die Kolonen, die bis aufs Blut von den Grundbesitzern ausgesaugt wurden, flohen von den Feldern, das Städtewesen verfiel, da auch hier niemand mehr die Abgabenlast tragen konnte.

Ein städtisches Amt mochte niemand mehr übernehmen, da ihn der Staat persönlich für die Steuerabgaben seiner Kommune verantwortlich machte. Es kam daher so weit, dass städtische Magistrate zwangsweise von den Behörden eingesetzt wurden, was zur Folge hatte, dass sich Honoratioren auch hier dem Staat durch Flucht entzogen.

Die reichen Grundbesitzer hingegen litten keine Not, dennn sie waren durch Verbindungen oder entsprechende Gesetze in der Lage, sich dem Steuerdruck zu entziehen. So lebte neben der verarmenden Masse der Bevölkerung eine Provinzaristokratie, die ungeschoren unermesslichen Reichtum ansammeln konnte.

So wurde der Staat im 4./5. Jh. schließlich nur noch als Gegner wahrgenommen, dessen unersättlichen Forderungen man sich entziehen wollte. Jede Motivation der Reichsbewohner erstickte, womit der Keim des Untergangs gelegt war.
 
Der römische Staat hatte seine Grenzen im Wesentlichen bereits im 1. Jhdt. n. Chr. erreicht und kam gut damit zurecht. Zumindest im frühen Prinzipat war der Staat sehr schlank, vor allem dank der städtischen Selbstverwaltung, die dem Gesamtstaat einen aufwändigen Behördenapparat ersparte. Erst in der Spätantike wurde der Beamtenapparat dann zunehmend aufgebläht, was wiederum den Finanzbedarf vergrößerte (was weitere Beamte notwendig machte ...) und die Korruption förderte.
Die Ausdehnung des Reiches als solche kann also nicht das Problem gewesen sein.
 
Die Ausdehnung des Reiches als solche kann also nicht das Problem gewesen sein.

Der Staat besaß überdehnte Grenzen. Die Kosten für die Reichsverteidigung stiegen in enorme Höhen, sodass die Steuerlast ebenfalls ins astronomische wuchs. Dennoch brach die Grenzsicherung zusammen. Diese Situation ist mitverantwortlich für den relativ raschen Zusammenbruch des weströmischen Staates im Verlauf der letzten 50 Jahre seines Bestehens.

Natürlich war das nicht das einzige Dilemma, dem Westrom gegenüberstand. Hinzu kamen demografische, ökonomische und soziale Probleme, die bis zum Untergang unbewältigt blieben
 
Mir ist immer wieder unbegreiflich, wie man einem Staat, der im Wesentlichen ca. 400 Jahre (!) * in seiner vollen Ausdehnung überdauerte und dabei zwischendurch einige Jahrzehnte völliger innerer Zerrüttung überstand, bescheinigen kann, seine Grenzen seien überdehnt gewesen. (Hätte ihm dann nicht außerdem der Verlust etlicher Territorien im 5. Jhdt. im Sinne eines "Gesundschrumpfens" gut tun müssen? Stattdessen gingen für das Reich und seinen Wirtschaftsraum wichtige Gebiete verloren.)

Der römischen Armee wird sogar oft bescheinigt, sie wäre für das Reich zu klein gewesen. Gemessen an der Größe des Reiches erscheint sie zwar tatsächlich etwas klein, konnte aber trotzdem vierhundert Jahre lang erfolgreich die Grenzen sichern, Einfälle abwehren und - vor allem gegenüber den Parthern - selbst in die Offensive gehen. Und das alles sogar zu Zeiten, in denen sie primär damit beschäftigt war, sich selbst zu bekämpfen.

* Zur Veranschaulichung: Das ist in etwa die Zeit vom Dreißigjährigen Krieg bis heute. Wer würde einem Staat, der im Wesentlichen in etwa dieser Zeit seinen vollen Umfang erreichte und bis heute besteht, die grundsätzliche Lebensfähigkeit absprechen?
 
Eine Kette von Invasionen führte zum Untergang des Römischen Reichs, oder besser seiner Westhälfte. Jedem einzelnen Invasoren konnte Rom Paroli bieten, doch reichte seine Kraft nicht aus, die überdehnten Grenzen an allen Fronten zu schützen, und überall dort, wo es Einbrüche von Barbaren gab, militärische Überlegenheit zu zeigen.

Allerdings liegen die Gründe für die Schwäche des Reichs tiefer. Mit der Entstehung des Weltreichs war zwangsläufig eine Berufsarmee entstanden und damit eine Arbeitsteilung zwischen dem militärischen und dem zivilen Sektor der Gesellschaft. Der zivile Sektor hatte die Mittel für den Unterhalt des Heeres aufzubringen, doch reichten die finanziellen Ressourcen nicht mehr aus, zeitlich limitierte Massenaufgebote ins Feld zu führen.

Einer der Gründe für die strukturelle Schwäche war die geringe Produktivität der Wirtschaft, ferner spielte der soziale Wandel der Gesellschaft eine zentrale Rolle. Die Kosten des stehenden Heeres hatten die Bauern zu tragen, was angesichts ihrer sinkenden Zahl immer weniger gelang. Die Großgrundbesitzer hingegen fanden Mittel und Wege, sich den Steuereintreibern zu entziehen.

Als im Jahr 376 eine große Zahl vor den Hunnen flüchtender Goten an der Donaugrenze des Reichs auftauchte und um Asyl bat, wurden sie entgegen der überlieferten römischen Politik hereingelassen, ohne zuvor unterworfen gewesen zu sein. Damit war die Büchse der Pandora geöffnet und nur 100 Jahre später Westrom untergegangen.
 
Sehr interessante Diskussion, danke für die Beiträge an Dieter und Ravenik!

Auch wenns nicht direkt zur Themen-Überschrift passt: Inwiefern haben sich denn die Gegner verändert, die das Reich bedrohten? War es vielleicht (neben den Änderungen innerhalb des Reiches) auch die "Barbaren", die durch Entwicklungsprozesse sozialer und militärischer Art gefährlicher wurden, und deshalb i-wann (zumindest im Westen) nicht mehr abgewehrt werden konnten, wie das in den jahrhunderten davor noch möglich war? Könnte mir da einiges vorstellen, aber für einen wirkliche Einschätzung fehlt mir dann doch das Hintergrundwissen.
 
Der (west-)römische Staat konnte zwar bis ins 5. Jahrhundert hinein immer noch große Leistungen vollbringen, aber Steuerlast und eine sich selbst abkapselnde Verwaltung brachten die Vorteile des Gesamtstaats nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung. Lange Zeit war allen klar, was wie zu geschehen habe und es wurde um die ausführenden Personen und andere Details gerungen. Aber mit der fortschreitenden Völkerwanderung gab es keine offensichtliche und funktionierende Antwort. Die langen Grenzen konnten Kriegsscharen abwehren, aber gegen den Siedlungsdruck der Germanen hätten nur mehr Truppen (nicht finanzierbar) oder eine andere Politik geholfen. Aber diese nötige Politikänderung war eben aus römischer Sicht nur zu einem kleinen Teil zu begründen. Klimaveränderungen und Aktionen hunderte Kilometer jenseits der römischen Grenze waren zu wenig greifbar und das System der Foederaten hing zu stark von den beteiligten Personen ab um der politischen Kaste des Imperiums grundsätzliche Verbesserungen zu ermöglichen. Konnten ohne große sichtbare Nachteile versprochene Leistungen vorenthalten werden, dann geschah dies. Die langfristige Wirkung einer derartigen kurzsichtigen Politik waren schlicht nicht absehbar, sie wurde ja von keinem gesehen.
 
Auch wenns nicht direkt zur Themen-Überschrift passt: Inwiefern haben sich denn die Gegner verändert, die das Reich bedrohten? War es vielleicht (neben den Änderungen innerhalb des Reiches) auch die "Barbaren", die durch Entwicklungsprozesse sozialer und militärischer Art gefährlicher wurden, und deshalb i-wann (zumindest im Westen) nicht mehr abgewehrt werden konnten, wie das in den jahrhunderten davor noch möglich war?
Gute Frage.
Gefährlicher wurden paradoxerweise vor allem die Gegner im Osten, nämlich die Sassaniden. Mit den Parthern waren die Römer im Allgemeinen recht gut fertig geworden. Die Parther hatten ohnehin das grundsätzliche Problem, in ihrem Reich Fremdherrscher zu sein, weiters waren sie öfters in Bürgerkriege um den Thron verwickelt (wobei es sich Rom oft nicht entgehen ließ, zugunsten eines Prätendenten Partei zu ergreifen), außerdem war das Reich eher dezentral-feudal aufgebaut mit diversen autonomen Unterkönigreichen, was sich ungünstig auf die Zentralgewalt auswirkte. Zwar griffen die Parther trotzdem manchmal die Römer an und konnten auch Siege erringen, aber alles in allem behielten die Römer die Oberhand. Eine wirkliche Bedrohung für den Ostteil des Reiches waren die Parther nur selten.
Die Sassaniden hingegen waren deutlich aggressiver und schlagkräftiger, vor allem auch wesentlich entschlossener, den römischen Orient mitsamt Ägypten (also die ehemals unter Achaimenidenherrschaft stehenden Gebiete) zu unterwerfen. Zu Beginn des 7. Jhdt. gelang ihnen das vorübergehend auch weitgehend. ("Vorübergehend" ist relativ: Teile Syriens und Palästinas standen an die 20 Jahre unter persischer Herrschaft.) Dennoch setzten sich die Römer am Ende durch und konnten ihr Reich im Orient retten - nur um es wenig später großteils an die Araber zu verlieren.

Von den Germanen an Rhein und Donau wird häufig gesagt, dass sie durch die Bildung der Großstämme im 3. Jhdt. gefährlicher wurden und auch an militärischer Schlagkraft gewannen. Dem will ich nicht widersprechen, aber trotzdem wurden die Römer noch lange Zeit ganz gut mit ihnen fertig. Sogar während der Wirren des 3. Jhdts. konnten mehrere große Einbrüche vor allem der Goten und Alemannen abgewehrt werden, im 4. Jhdt. wurde es dann sogar wieder etwas ruhiger, und bis zu Beginn des 5. Jhdts. hielten die Grenzen im Wesentlichen.
(Nicht übersehen sollte man in diesem Zusammenhang, dass sich auch das römische Heer weiterentwickelte und ab dem 3. Jhdt. auch die Kavallerie - der traditionelle Schwachpunkt der Römer - stärker wurde.)
Die Gründe dafür, dass das im 5. Jhdt. nicht mehr gelang, sehe ich hauptsächlich in einer Art Verknüpfung unglücklicher Zufälle. Da wäre zunächst die Schlacht am Frigidus, die enorm verlustreich gewesen sein dürfte und in der sich die Römer selbst aufrieben. Der große Rheinübergang von 406 fiel unglücklicherweise mit einem Bürgerkrieg im Westreich zusammen, und wie so oft kämpften die rivalisierenden römischen Kaiser im Zweifel lieber gegeneinander als gegen die äußeren Feinde. Dass Westrom wenig später seinen fähigsten Anführer Stilicho selbst ausschaltete, war auch nicht hilfreich.
Damit war eine Entwicklung in Gang gesetzt, die nicht mehr gestoppt werden konnte. Die nunmehr erfolgreich ins Reich eingefallenen Scharen wurde man nicht mehr los, und zugleich entzogen sie den Römern wichtige Territorien, was wiederum die Finanzkraft des Reiches weiter schwächte, was es erst recht unmöglich machte, die Eindringlinge wieder loszuwerden.

Eine eher ambivalente Rolle spielten die Germanen in römischen Diensten, denen gerne die Schuld am militärischen Niedergang gegeben wird. Ich sehe sie nicht so negativ. Ein gern angestellter Vergleich - jetzt setzte das Reich auf ungehobelte, unzuverlässige und unzivilisierte Barbaren statt wie früher auf brave patriotische Bürgersoldaten - ist eher realitätsfremd. Das römische Heer war schon im 3. Jhdt. nicht mehr das der aufstrebenden Republik oder von Augustus gewesen. Bereits in der frühen Kaiserzeit war der Anteil an Italikern im Heer stark rückläufig. Die fortschreitende Romanisierung führte paradoxerweise dazu, dass für die Rekrutierung immer mehr auf weniger romanisierte Randprovinzen (wie Illyrien) zurückgegriffen werden musste. Dass man zur Ergänzung zunehmend auf fremde Truppen zurückgriff, war eher eine logische Fortsetzung dieser Entwicklung. Die Germanenkieger in römischen Diensten waren politisch sogar zuverlässiger als so manche römische Armeen, die insbesondere im 3. Jhdt., aber auch noch danach, gerne ihre Feldherrn zu Kaisern ausriefen. An militärischer Schlagkraft gab es bei den Foederaten auch nichts zu bemäkeln. Solange sie sich wertgeschätzt fühlten und ihre versprochenen Belohnungen erhielten, leisteten sie im Großen und Ganzen gute Arbeit.
Problematisch wurde es, wenn sie sich hintergangen fühlten (hier war ein Problem der wachsende römische Verwaltungsapparat mit diversen zivilen und militärischen Zuständigkeiten, Kompetenzkonflikten und reichlich Möglichkeiten, Geld "versickern" zu lassen) oder ihre Anführer das Gefühl hatten, dass ihnen nicht genügend Respekt entgegengebracht wurde. Das führte zur Katastrophe von Adrianopel. Fortan wurde es immer schwieriger, die Foederaten zufriedenzustellen und somit im Griff zu behalten. Vor allem das Westreich geriet in einen Teufelskreislauf: Je mehr Gebiete (und somit auch Einnahmequellen) verlorengingen, umso weniger konnten die Foederaten zufriedengestellt werden, was dazu führte, dass sie sich einfach selbst holten, was ihnen ihrer Meinung nach zustand, was wiederum das Reich noch mehr schwächte.
Aus dieser Abwärtsspirale kam der Westen nicht mehr heraus.
 
Die fortschreitende Romanisierung führte zu einem höheren Lebensstandard, was wiederum zu einer verringerten Neigung, sich für wenig Sold jahrezehntelang schinden zu lassen, geführt zu haben scheint.
Der Lust auf Strapazen, Krieg und Lagerleben ist ein kultivierterer Lebensstil auch nicht unbedingt zuträglich.

Abenteurer und Idealisten gab und gibt es zwar immer, und zumindest der Dienst als Offizier war auch für Personen aus bessersituierten Familien attraktiv, aber grundsätzlich lässt sich quer durch die Weltgeschichte beobachten, dass sich für auf Freiwilligkeit beruhende Kriegsdienste als einfache Mannschaften tendenziell eher Menschen aus ärmeren Regionen und sozialen Schichten mit ansonsten eher geringen Perspektiven/Aufstiegschancen melden.
 
In dem Sinne scheint ja doch was dran zu sein an der Dekadenz-Geschichte. ;)
Dabei wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das weströmische Reich weiter existiert hätte, wenn nur genügend Römer mit genügend Einsatz in der Armee gedient hätten.
Hierbei bleibt die Entwicklung auf Seiten der "Barbaren" völlig außer Acht. Die militärische Überlegenheit, sowohl in Ausbildung, als auch in Waffentechnik, welche die römische Expansion begründet hatte, war schon lange nicht mehr gegeben.
Auch strukturell kämpfte nicht mehr eine römische "Profitruppe" gegen ortsansässige Bauern, sondern es standen sich auf beiden Seiten die gleichen Söldnertrupps gegenüber, selbst die Zuordnung Römer - Nichtrömer fällt oft schwer.
 
Hierbei bleibt die Entwicklung auf Seiten der "Barbaren" völlig außer Acht. Die militärische Überlegenheit, sowohl in Ausbildung, als auch in Waffentechnik, welche die römische Expansion begründet hatte, war schon lange nicht mehr gegeben.

Die Frage, inwieweit das ein Rolle spielt, hab ich oben selber gestellt. ;)

Dabei wird wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass das weströmische Reich weiter existiert hätte, wenn nur genügend Römer mit genügend Einsatz in der Armee gedient hätten.

Wenn man das ganze in eine monokausale Theorie gießt, ja. Das halte ich für nicht zielführend. Aber der Effekt, den Ravenik da beschreibt*, ist schon interessant.

* und der sich auch anderswo beobachten lässt, heutzutage bspw...

Auch strukturell kämpfte nicht mehr eine römische "Profitruppe" gegen ortsansässige Bauern, sondern es standen sich auf beiden Seiten die gleichen Söldnertrupps gegenüber, selbst die Zuordnung Römer - Nichtrömer fällt oft schwer.

Sicher. Schon in den römischen Legionen vor der Spätantike war der Anteil an "Germanen" ja mWn sehr hoch. Später wurden doch germanische Wehrbauern als Föderierte an den grenzen angesiedelt. Da verschwammen die Unterschiede, zumindest im militärischen Bereich.
 
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