Hintergründe zum Kriegsbeginn am 01.09.1939

Helmut406

Mitglied
Guten Tag,

... von verschiedenen Hobby-Historikern höre ich immer wieder, dass NS-Deutschland den Kriegsbeginn im September 1939 vorverlegen musste, um den unmittelbar bevorstehenden Staatsbankrott abzuwenden. Wenn diese Aussage den Tatsachen entspricht müsste man das auch aus der ökonomischen Situation des Jahres 1939 ablesen können. Vor diesem Hintergrund ist für mich die Aussage nicht ganz plausibel.

Vom historischen Stellenwert ist diese Erkenntnis jedoch m. E. durchaus bedeutsam, denn im Herbst 1939 war die konventionelle Rüstung der Nazis sicherlich noch nicht abgeschlossen gewesen.
 
Dazu ließe sich eine Menge sagen.

Im Prinzip geht es bei dieser Diskussion um die Frage der Gewichtung innenpolitischer Friktionen, der Wirtschaftspolitik, ideologischer Ziele und nicht zuletzt um die Einflüsse im Zuge der Außenpolitik.

Im Prinzip lief die Diskussion so, dass Mason dem Primat der Innenpolitik zur Erklärung von Kriegen gefolgt war. Und die wirtschaftliche und soziale Situation im Jahr 1939 als hochgradig antagonistisch definiert hatte. Und unter dieser Voraussetzung die innenpolitische Stabilität nicht mehr mit den "normalen" Mitteln aus Konsumangeboten und Repression durch das NS-System zu kontrollieren war.

Im Prinzip folgte Mason dabei vor allem der historischen Wahrnehmung des 3. Reichs durch Chamberlain. Diese war durch eine Reihe von "Spionagereports" und Äußerungen gemäßigter NS-Parteigänger (Schacht etc.) der Vermutung gefolgt, dass die wirtschaftliche Situation in Deutschland problematisch sei und deshalb ein Appeasement, auch durch wirtschaftliche Angebote, die außenpolitische Situation stabilisieren kann.

Es liegt wohl ausreichend Evidenz vor, dass die Interpretation von Mason in der "krisenhaften" Entwicklung nicht grundsätzlich falsch ist, aber seine Schlußfolgerungen hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Kriegsausbruch nicht korrekt ist (vgl. z.B. Overy S.226ff)

Im Gegensatz zu Mason wird von vielen Historikern den Friktionen durch Fehleinschätzungen im Jahr 1939 eine zentrale Rolle zugeschrieben. Und meistens wird der "Gegenüber" falsch in seinen Intentionen eingeschätzt, indem er entweder über- oder unterschätzt wird in Bezug auf die Bestimmtheit mit der aggressive außenpolitische Ziele verfolgt werden.

In diesem Sinne hat Hitler die Entschlossenheit von GB und von Frankreich falsch eingeschätzt. Und ist im Prinzip von der Illusion ausgegangen, dass der Weg zur Hegemonie über einen begrenzten Krieg mit Polen führen könnte.

Und vor diesem Hintergrund war das Abkommen mit Stalin natürlich von hoher Bedeutung.

Ansonsten:
Die Entwicklung der Rüstung seit 1933 und der Bedeutung des Vierjahresplanes ist in den entsprechenden Publikation ausführlich dargestellt. Relativ ausführlich und kompetent zuletzt bei Tooze.

Carroll, Berenice A. (1968): Design for total war. Arms and economics in the Third Reich. The Hague: Mouton (Studies in European history, 17).
Mason, Timothy W. (1975): Inner Krise und Angriffskrieg 1938/1939. In: Friedrich Forstmeier und Hans Erich Volkmann (Hg.): Wirtschaft und Rüstung am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Düsseldorf: Droste, S. 158–188.
Meinck, Gerhard (1959): Hitler und die deutsche Aufrüstung 1933-1937. Teilw. zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1959.
Milward, Alan S. (1966): Die deutsche Kriegswirtschaft. Stuttgart: Dt. Verl.-Anst (Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 12).
Overy, Richard J. (2002): War and Economy in the Third Reich. Oxford: Clarendon Press.
Petzina, Dietmar (1968): Autarkiepolitik im Dritten Reich. Der nationalsozialistische Vierjahresplan. Teilw. zugl.: Mannheim, Wirtschaftshochsch., Diss., 1963/64, u.d.T: Petzina: Der nationalsozialistische Vierjahresplan von 1936.
Tooze, J. Adam Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. 1. Aufl. München: Pantheon.
Volkmann, Hans-Erich (2003): Ökonomie und Expansion. Grundzüge der NS-Wirtschaftspolitik. Ausgewählte Schriften. München: Oldenbourg (Beiträge zur Militärgeschichte, 58).
 
@Helmut406
c) nicht zu vergessen ist die Finanzpolitik des 3. Reichs ab 1933, also von Beginn an.
Zunächst wurde die Veröffentlichung des Staatsetats bereits in diesem Jahr für das Folgejahr verboten. (Götz Aly - Hitlers Volksstaat -Seite 368)
Damit war die einsetzende gallopierende Staatsverschuldung der öffentlichen Wahrnehmung entzogen.
Im November 1938 steht das 3. Reich vor dem Bankrott. Gemäß dem Bericht des "Vertreter des Reichsfinanzministerium im Reichbankdirektorium... stellte sich die öffentliche Finanzlage, ausgerechnet Mitte November 1938, als "katastrophal" dar.." (Das war der Zeitpunkt an dem die sogenannte "Judenbuße" zur Stabilisierung des Staatshaushalts diente)
(gleiche Quelle - Seite 61)

Im Zeitraum von 1934 - 1938 steigt der Anteil der Rüstungsausgaben von 18% auf 58% "aller Ausgaben der öffentlichen Haushalte"(!).
"Inzwischen [1938] opponierte Schacht dem längst nicht mehr die Konjunktur stützenden Kurs, sondern auf Inflation und Eroberungskrieg hinauslaufenden Kurs, freilich ohne etwas auszurichten.“
(Norbert Frei – Der Führerstaat – Seite 100/101)

Also es gibt den wirtschaftlichen Aspekt im Zusammenhang mit folgendem Raub und Raubmord.
Denn die brutale Ausbeutung der eroberten Gebiete setzte jeweils sofort ein und war detailliert geplant.

Daraus kann man jedoch nicht einfach das Datum Sept. 1939 ableiten.
Es waren auch erhebliche andere Einflüsse vorhanden, während der Hasardeur Hitler auf den passenden Zeitpunkt lauerte um seinen "ganz großen" Plan zu verwirklichen.
 
Der Sept. 1939 als Zeitraum des Kriegsbeginns ist sicher nicht nur durch die wirtschaftliche Lage bestimmt. Hitler sah eine Gelegenheit und - wie häufig in den Jahren zuvor - er ergriff sie, ging ein Risiko ein. Nur diesmal reagierten eben England und Frankreich anders, als er gedacht hatte.
Andererseits ist es sicher richtig, dass die wirtschaftliche Situation des 3. Reiches angespannt war und der ursprüngliche Zeitraum des Kriegsbeginns erst nach 1940 geplant war (und ja, die Rüstung war tatsächlich noch nicht soweit).
Anzeichen dafür, dass es in der Wirtschafts-- und Finanzpolitik nicht so rund lief, gibt es viele (der Wirtschaftsminister/Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht war nicht mehr bereit, die Politik mitzutragen, Goebbels notierte 1938 in sein Tagebuch, dass das Loch in der Finanzkasse größer sei, als er gedacht hatte - der Anschluss Österreichs, die "Sühnemilliarde" nach der Pogromnacht usw. halfen da sicher etwas darüber hinweg).

Bzgl. des schon erwähnten Werks von Tooze findet man z.B. :

- Wirtschaft im Dritten Reich
"Insgesamt aber manövrierte sich das Regime im Fahrwasser einer überhitzten Konjunktur mehr und mehr in eine Zwangslage. Verwundbar durch seine außenwirtschaftliche Abhängigkeit, belastet von einer enormen Auslandsverschuldung, strategisch angewiesen auf ausländische Rohstoffe und Nahrungsmittel, im Bewusstsein schließlich der wachsenden strukturellen Übermacht des Westens flüchteten sich Hitler und die Seinen 1939 Tooze zufolge in den Krieg. Ein gefährliches Vabanque-Spiel, weit entfernt von der lange behaupteten Überlegenheit der deutschen Wirtschaft als Motor der kriegerischen Aggression.

Wenn man fragt, ob die Mobilmachung Teil einer kohärenten strategischen Synthese war oder ob die Diplomatie, die militärische Planung und die Mobilisierung der Wirtschaft nach 1933 in eine kohärente Kriegsplanung mündeten, dann kann dieses Buch darauf nur eine negative Antwort erteilen (...) Deutschland begann den Krieg im September 1939, ohne über substanzielle materielle oder technische Vorteile gegenüber den etablierten Militärmächten des Westens zu verfügen."

Mich würde übrigens genauer interessieren, wie Du zu der Aussage dass man an der ökonomischen Situation des Reiches 1939 nicht ablesen könne, dass es um die Finanzen schlecht steht, kommst?
 
Helmut schrieb: "Wenn diese Aussage den Tatsachen entspricht müsste man das auch aus der ökonomischen Situation des Jahres 1939 ablesen können. Vor diesem Hintergrund ist für mich die Aussage nicht ganz plausibel."

Ich möchte wissen, warum man aus der Sicht der ökonomischen Situation des Jahres 1939 nicht ablesen kann, dass ein Staatsbankrott bevor stand.
 
Danke, jetzt versteh ich es.

Ich denke es ist Stand der Forschung, dass das "Reich" pleite war.

Grüße hatl
 
Die Frage ist ungeachtet dessen auch ob die Aneignung jüdischen Eigentums dazu dienen sollte die Staatsdefizite in den Griff zu bekommen. Wenn ein Staatsbankrott drohte musste Hitler wegen der hohen Rüstungsinvestionen vorzeitig handeln wenn man vom Standpunkt der Logik das betrachtet.

Hat er sich denn zu diesem Sachverhalt jemals gegenüber anderen Führungspolitikern sowie Offizieren geäußert ? Das würde den mutmaßlichen Sachzwang im September 1939 natürlich deutlich erhärten.
 
Die Defizite sind doch gar nicht in vollem Umfang bekannt geworden, d.h. die innere Zahlungsfähigkeit war gegeben ohne dass die Verschuldung offensichtlich wurde. Wäre es nur um die Finanzierung der Rüstung gegangen, dann hätte es sicher "bessere" Möglichkeiten gegeben als den Überfall auf Polen.
 
Wäre es nur um die Finanzierung der Rüstung gegangen, dann hätte es sicher "bessere" Möglichkeiten gegeben als den Überfall auf Polen.

Bei Aly fndet sich (S.318ff) eine Übersicht über das Verhältnis von "Einnahmen" und den Kosten der Besatzung. Es ist allerdings m.E. zweifelhaft, ob Hitler im September 1939 eine derartige differenzierte Bestandsaufnahme gemacht hat in Bezug auf zusätzliche Einnahmen durch einen Eroberungskrieg.

Es ist allerdings anzufügen, dass die "Sühne-Milliarde" als Folge der "Reichskristallnacht" nur ein kleiner Teil der Gewinne durch "Arisierung" waren.

Viel relevanter ist bereits im September 1939 die enormen Gewinne, die durch die Annektion von Österreiche (ca. 60 Mio Pfund) und vor allem der strategischen Positionsgewinne auf dem Balkan inklusive der "Erzvorkommen", so Overy (Pos. 113) . Ebenso fielen die "Gewinne" extrem hoch aus, die durch die Besetzung der Tschecheslowakei realisiert werden konnten, wie die "Braunkohle" (Veflüssigung etc.) und vor allem auch die Skoda-Werke inklusive der hohen Anzahl an "35t" und "38t". Diese bildeten für einen Teil der deutschen Panzerdivisionen noch nach 1941 das Rückgrat des Bestands.

Aly, Götz (2011): Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl.
Overy, R. J.; Wheatcroft, Andrew (2009): The road to war. London: Vintage.
 
Viel relevanter ist bereits im September 1939 die enormen Gewinne, die durch die Annektion von Österreiche (ca. 60 Mio Pfund) und vor allem der strategischen Positionsgewinne auf dem Balkan inklusive der "Erzvorkommen", so Overy (Pos. 113) . Ebenso fielen die "Gewinne" extrem hoch aus, die durch die Besetzung der Tschecheslowakei realisiert werden konnten, wie die "Braunkohle" (Veflüssigung etc.) und vor allem auch die Skoda-Werke inklusive der hohen Anzahl an "35t" und "38t". Diese bildeten für einen Teil der deutschen Panzerdivisionen noch nach 1941 das Rückgrat des Bestands.
So habe ich es auch immer verstanden. Die Tschechoslowakei lieferte eine Menge an Gold, Devisen und industrielle Produkte und Produktionsanlagen, Polen deutlich weniger. Natürlich wurde Polen auch ausgeplündert, aber die Rohstoffe (z.B. Zink) und Lebensmittel waren weniger spektakulär.
 
Ich denke, dass die Aneignung jüdischen Vermögens gerne als prägende Haupteinnahme-Quelle Nazi-Deutschlands angeführt wird. Auf den ersten Blick ist das natürlich logisch, weil Hitler auch dem Traum verhaftet war eine autonome nationale Volkswirtschaft zu realisieren. Diese Vision hatten m. E. noch andere europäische Nationalstaaten.

Was mir jedoch unklar ist : gab es hier möglicher auch Gönner aus dem Ausland : insbesondere aus den USA ?
Eine derartig rasante Hochrüstung und Staatsumbau ist ohne entsprechende ausländische Geldgeber sehr schwierig umzusetzen gewesen.
 
Ich denke, dass die Aneignung jüdischen Vermögens gerne als prägende Haupteinnahme-Quelle Nazi-Deutschlands angeführt wird.
Das würde mich wundern. Auch wenn die Nazis bzw. der nationalsozialistische Staat, dessen Funktionäre ja auch Nicht-Nazis waren, die Juden breits vor der Reichspogromnachz ziemlich schamlos ausgeplündert haben - Aneignung ist fast schon verharmlosend! - dürfte das bei den Staatseinnahmen - und das erlaube ich mir ohne Kenntnis von Kennzahlen zu sagen - insgesamt eher marginal gewesen sein.
 
Ich denke, dass die Aneignung jüdischen Vermögens gerne als prägende Haupteinnahme-Quelle Nazi-Deutschlands angeführt wird. Auf den ersten Blick ist das natürlich logisch, weil Hitler auch dem Traum verhaftet war eine autonome nationale Volkswirtschaft zu realisieren. Diese Vision hatten m. E. noch andere europäische Nationalstaaten.

Was mir jedoch unklar ist : gab es hier möglicher auch Gönner aus dem Ausland : insbesondere aus den USA ?
Eine derartig rasante Hochrüstung und Staatsumbau ist ohne entsprechende ausländische Geldgeber sehr schwierig umzusetzen gewesen.

1. Die Aneignung jüdischen Vermögens war beachtlich, die Behauptung als "Haupteinnahme-Quelle" des DR ist Unsinn.

2. Autarkie, nicht "Autonomie", war ein ökonomisches Ziel des Vorkriegs-Dritten Reiches, in Gestalt der 4-Jahres-Pläne.

3. Bei welchen sonstigen Nationalstaaten war das angeblich ebenfalls "visionär" vorhanden nach Muster Drittes Reich?

4. Die Hochrüstung und den "Staatsumbau", gemeint ist wohl die Diktatur, ohne ausländische Geldgeber als "sehr schwierig" (also schwer machbar) hinzustellen, ist nicht Unsinn, sondern an der Grenze zum Blödsinn. Solche Thesen sind geeignet, den deutschen Nationalsozialismus zu verharmlosen, indem sie diffusen ausländischen Kontext mutmaßen.

Für obskure oder kontrafaktische "Thesen" ist hier im Forum kein Platz. Wenn hier über das Dritte Reich diskutiert wird, passiert das auf Basis des Forschungsstandes.
 
Die Aufrüstung hat nur da das Ausland und damit Devisen betroffen wo Material eingekauft wurde (werden musste).
Ansonsten war die Aufrüstung eine Kraftanstrengung der Wirtschaft, deren Ausmaße verschleiert werden sollte.

Die Einnahmen durch Ausplünderung von Privatpersonen (vor allem Juden) dürfte in keinem Jahr über eine niedrige einstellige Prozentzahl der Gesamteinnahmen hinaus gegangen sein.
 
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