Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen

Schini

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Um die Mitte des 5. Jahrhunderts stellt ein aristokratischer Gutsbesitzer am Hof des Burgunderkönigs einen christlichen frommen Mann zur Rede. Er habe doch ständig den Untergang des römischen Imperiums vorausgesagt: Könne er ihm jetzt auch erklären, weshalb seine Prophezeiung nicht eingetroffen sei? – Der Historiker Patrick Geary hat ein brillantes Buch über die sogenannten dunklen Jahrhunderte zwischen der Völkerwanderungszeit und den Karolingern geschrieben. Es entführt den Leser in eine Periode, in der ein Weltreich sich auflöst, ohne dass die Bewohner grosser Landstriche (des späteren Frankreich, der Schweiz und Westdeutschlands) es im eigentlichen Sinn bemerken müssen wie jener skeptische Adelige.

Diese Welt, regiert von heiligen Männern und langhaarigen Königen, ist geprägt von Mangel und Gewalt: Internationaler Handel und Geschenk- und Raubökonomie existieren in ihr nebeneinander; und verlorene Eisengegenstände sind so kostbar, dass man Heilige um Hilfe bei der Suche anruft. Gearys Buch liefert ohne romantischen Exotismus einen konzisen Überblick zur Sozial- und Kulturgeschichte der ersten christlichen Jahrhunderte Westeuropas: Es handelt von Religion, Ökonomie, vom Charakter politischer Transformation und, nicht zuletzt, von politischen Begriffen.

Der wichtigste davon ist der – schillernde – Begriff der «Barbaren». Tacitus' subtile Ideologeme von den Germanen als Barbaren haben in der Geschichtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts einen langen Schatten geworfen. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Römern und Barbaren ist freilich zur Erklärung frühmittelalterlicher Verhältnisse unbrauchbar. Die mächtige senatorische Aristokratie Galliens paktiert bereitwillig mit den germanischen Kriegern, soweit die ihre Bedingungen akzeptieren; diese fränkischen Kriegerkönige selbst halten ihre militärischen römischen Traditionen mit Stolz hoch und bedienen sich der Einrichtungen der spätantiken Verwaltung – im 4. Jahrhundert eingeführte Steuern werden noch im 8. Jahrhundert in kaum veränderter Form erhoben.

Gearys Buch ist auch eines über die ideologische Stilisierung des Mittelalters selbst. Die nationalstaatlichen Traditionen des 19. und 20. Jahrhunderts haben mit diesen vermeintlich «dunklen Jahrhunderten» vor den Karolingern ihre Mühe gehabt, mit den ebenso brutalen wie hochgebildeten Kriegerkönigen (der fränkische König Theudebert lässt im 6. Jahrhundert in Arles das antike Amphitheater wieder bespielen, sein Nachfolger Chilperich baut in Paris und Soissons Pferderennbahnen), mit den wunderwirkenden Wanderheiligen und handfesten Bischöfen. Dem französischen Mythos starker Zentralistitutionen war die Gesellschaft des 5. und 6. Jahrhunderts mit ihren lokalen Heiligen und pragmatischen Koalitionen zwischen Gallorömern und «Barbaren» zu polyglott und polyzentrisch – die Karolinger lagen ihnen mehr.


Patrick J. Geary • Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen • Beck • 2003 • 251 Seiten
 

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