Das Markusevangelium

Gerade, dass sie in der rabbinischen Literatur nicht vorkommt, ist doch ein deutliches Indiz gegen die Existenz des privilegium paschalis

Inwiefern?
Falls dieser Brauch existiert hat, handelte es sich um einen Brauch, der von den römischen Machthabern Jerusalems ausgeübt wurde - was nicht heißen muss, dass er von den Römern eingeführt wurde, er könnte auch von den herodianischen Machthabern übernommen worden sein.

Nach der Zerstörung des Tempels muss dieser Brauch dann jedenfalls obsolet geworden sein.
Er könnte trotzdem Spuren im rabbinischen Schrifttum hinterlassen haben:

"Auch die Mischna setzt an einer Stelle voraus, daß es das Versprechen der Freilassung von Gefangenen zum Passahfest gegeben hat; sie ordnet nämlich an, daß man für einen solchen Gefangenen das Passahlamm mitschlachten dürfe, nicht aber für ihn allein, weil er möglicherweise doch nicht freikommt und dann niemand das Lamm verzehren kann."
http://www.iguw.de/uploads/media/Otte_-_Neues_zum_Prozeß_gegen_Jesus.pdf
 
Pilatus' Amtssitz war in Caesaraea, nicht in Jerusalem. Aber du hast Recht, die Behauptung der Synoptiker Markus und Matthäus sowie Johannes ist, dass es Brauch gewesen sei, dass der Statthalter/Pontus Pilatus zum Fest einen Gefangenen frei ließ, nicht dass dies ein alter Pessach-Brauch sei. Lukas als dritter Synoptiker entscheidet sich hier für einen anderen Narrativ bzw. hier sind die Textzeugen uneins. In manchen Fassungen schreien die Leute durch kein klar erkennbares Motiv motiviert, er solle Barabbas freilassen, einzelne Textzeugen setzen zwischen Vers 17 und 18 die Variante, dass Pilatus einen Gefangenen freilassen musste. Bei beiden Varianten des Lukas bleibt eine logische Lücke.
 
Pilatus' Amtssitz war in Caesaraea, nicht in Jerusalem.

Schon klar, aber offensichtlich pflegten die Statthalter - samt Truppenverstärkung - zu den Pessach-Feierlichkeiten in Jerusalem Präsenz zu zeigen. Das wurde wohl von allen Statthaltern so gehandhabt. Das erwähnt Flavius Josephus beiläufig, wo er den blutigen Tumult unter Cumanus schilderte - ausgelöst durch den "verhängnisvollsten Furz der Weltgeschichte" (Ernst Jünger).
 
Wäre aber schon schön, wenn diese Sitte im AT, bei Josephus oder in der rabbinischen Literatur vorkäme. Gerade, dass sie in der rabbinischen Literatur nicht vorkommt, ist doch ein deutliches Indiz gegen die Existenz des privilegium paschalis und dafür, dass das Evangelium hier eine Darstellungsform sucht, wonach die Römer von der Schuld, Jesus gekreuzigt zu haben, entlastet werden. Ich will nicht behaupten, dass die Art Pessach zu feiern sich in den letzten 2000 Jahren nicht verändert hätte, aber es ist ja nun nicht so, als wäre das Judentum mit seinen Festen eine Religion, der wir nur aus antiken Quellen habhaft würden.

Das ist doch ganz klar bei Graham Chapman et al. (1979) bezeugt. Offenbar machten sich die Einwohner Jerusalems sogar einen Spaß daraus, bei der Durchführung dieser Sitte willkürlich Namen von Personen zu rufen, die entweder nicht existierten oder zumindest nicht gefangen gehalten wurden. :winke:
 
Chapman et. alii habe ich natürlich vor Jahren bereits zur Kenntnis genommen, sie haben allerdings auch einiges zur Bergpredigt geäußert, was mir ... nicht ganz kosher vorkam.
 
Chapman et. alii habe ich natürlich vor Jahren bereits zur Kenntnis genommen, sie haben allerdings auch einiges zur Bergpredigt geäußert, was mir ... nicht ganz kosher vorkam.

:yes:

Ja, sie dürften wohl eher eine späte Quelle darstellen, die sich auf die Evangelien und möglicherweise andere, inzwischen verloren gegangene literarische Zeugnisse stützt.
 
Schon klar, aber offensichtlich pflegten die Statthalter - samt Truppenverstärkung - zu den Pessach-Feierlichkeiten in Jerusalem Präsenz zu zeigen. Das wurde wohl von allen Statthaltern so gehandhabt. Das erwähnt Flavius Josephus beiläufig, wo er den blutigen Tumult unter Cumanus schilderte - ausgelöst durch den "verhängnisvollsten Furz der Weltgeschichte" (Ernst Jünger).

Hab dazu noch die Übersetzung der Version im "Jüdischen Krieg" von Heinrich Clementz gefunden:

"Als nämlich das Volk zum Fest der ungesäuerten Brote nach Jerusalem zusammenströmte, war über der Säulenhalle des Tempels eine römische Kohorte aufgestellt, wie denn die Römer an Festtagen stets eine Heeresabteilung auf Wache stehen hatten, um etwaige aufrührerische Bewegungen der versammelten Menge zu unterdrücken. Da zog auf einmal einer der Soldaten seinen Mantel in die Höhe, kehrte mit einer unanständigen Verbeugung den Juden das Gesäss zu und gab einen seiner Stellung entsprechenden Laut von sich. Voll Entrüstung darüber forderte die gesamte Menge von Cumanus mit lautem Geschrei die Bestrafung des Soldaten; ja, eine Anzahl jugendlicher Brauseköpfe und der stets zur Empörung geneigte Teil des Volkes schritten sogar ohne weiteres zum Angriff, rafften Steine zusammen und bewarfen die Soldaten damit. Cumanus, der einen Angriff von seiten des ganzen Volkes befürchtete, liess sogleich eine grössere Abteilung Schwerbewaffneter heranrücken. Als diese nun in die Hallen eindrangen, befiel die Juden ein gewaltiger Schrecken, sodass sie eilends aus dem Tempel rannten und in die Stadt flohen. Dadurch entstand aber an den Ausgangen ein so fürchterliches Gedränge, dass mehr als zehntausend Menschen zertreten und erdrückt wurden. So wandelte sich die Festfreude in eine allgemeine Trauer des ganzen Volkes, und jedes Haus hallte wieder von Jammer und Wehklagen."

Flavius Josephus - Bellum judaicum (Deutsch: Heinrich
 
Wenn nicht irgendwann mal neue Quellen erschlossen werden, wird sich wohl nicht klären lassen, ob es den Brauch der Freilassung zum Passahfest wirklich gegeben hat.

Flavius Josephus Philo oder andere jüdische Autoren schreiben nichts davon, wohl aber, dass es immer wieder zu Reibereien kam, und dass die Anwesenheit von römischen Amtsträgern und Militär in Jerusalem durchaus aus als Provokation interpretiert werden konnte und auch als solche gedeutet wurde.
Amtssitz der römischen Statthalter war jedenfalls Caesarea maritima.
Judäa war ohnehin keine leicht so regierende Provinz, Aufstände lagen häufig in der Luft, zumal in Jerusalem zu Pessach.

In Jerusalem lag das zentrale Heiligtum, und das Passahfest war/ist der höchste Feiertag der Juden. Es wird dabei an die Befreiung der Juden in Ägypten erinnert. Ob die römischen Statthalter wirklich über alle theologischen Feinheiten und Riten informiert waren, kann bezweifelt werden, was ihnen aber nicht entgangen sein konnte, war dass sich während der Feier ein Vielfaches der normalen Bevölkerungszahl in Jerusalem aufhielt. Aus allen Ecken und Enden des Imperiums pilgerten Juden während der Feiertage nach Jerusalem. Man kann getrost davon ausgehen, dass sich während der Feiertage mehr als 100.000 Juden, eher noch mehrere 100.000 Menschen in Jerusalem aufhielten. Die Erfahrungen der Geschichte haben gezeigt, dass es äußerst unangenehm war, Jerusalem belagern zu müssen, und wenn es während der Feiertage zu einem Volksaufstand kam, konnte sich das, wenn erst einmal Jerusalem unter Kontrolle von romfeindlichen Kräften geriet, zu einem Flächenbrand entwickeln.

So etwas galt es aus Sicht der Römer unbedingt zu vermeiden, und es blieb den meisten Statthaltern gar nichts anderes übrig, als in Jerusalem Präsenz zu zeigen, um vor Ort so etwas schon im Keim ersticken zu können. Sehr wohl werden sich die römischen Amtsträger in Jerusalem sicher nicht gefühlt haben. Immer wieder gab es Ärger. Da wurden an der Feste Antonia mal Adler aufgehängt, und schon gab es Reibereien. Eine Legion hatte einen Keiler als Feldzeichen, und das musste manchen als Affront erscheinen. Dann gab es den "verhängnisvollsten Furz der Weltgeschichte"- und die Volksseele war am kochen.

Prinzipiell wäre es schon möglich, dass es so etwas wie eine gewohnheitsrechtliche Freilassung eines Gefangenen gegeben hat, dass die römischen Statthalter so etwas als eine Geste des guten Willens und des Respekts vor dem Judentum praktizierten, um die Gemüter etwas zu beruhigen. Mag sein, dass die Römer das einführten, mag sein, dass sie damit auf Brauchtum der Heroden zurückgriffen.

Es gab ähnliche Bräuche im antiken Rom. Tempel und Tempelbezirke waren so etwas wie eine Freistatt, ein Asyl, ganz ähnlich wie später im Mittelalter Kirchen. In der Caligula-Biographie des Sueton berichtet dieser, dass Caligula den "Waldkönig" (Rex Nemorensis) eines Diana-Heiligtums bei Aricia erschlagen ließ.
Sueton, Caligula 34.

Dieser Waldkönig war ein Freigelassener, ursprünglich wohl ein entlaufener Sklave, der einmal jährlich um seine Würde als Vorsteher des Heiligtums kämpfen musste. Zu Caligulas Zeiten war dieser Kampf aber anscheinend nur noch symbolisch. Ein Gefangener oder Delinquent, der das Glück hatte, auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte einer Vestalin zu begegnen, musste unverzüglich freigelassen werden. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Freilassungsbrauch zu Ehren des Passahfestes existierte. Immerhin wäre ein solcher Brauch doch ungewöhnlich und sicher auch erwähnenswert als Zeichen der Milde, als Kuriosum, als ethnologisch bemerkenswert. Man könnte daher schon erwarten, dass ein Autor wie Flavius Josephus einen solchen Brauch zumindest erwähnt, dass er erklärt oder zu erklären versucht, auf welchen Traditionen ein solcher Brauch basiert. Das umso mehr, wenn er sonst Marginalien und (fast) jeden Furz überliefert. Auch Philo und die rabbinische Literatur berichten nichts darüber. Es spricht schon sehr viel dafür, dass es eine gewohnheitsrechtliche regelmäßige Begnadigung von/eines Gefangenen auf Bitten des Volkes nicht gab.

Haben sich also die Evangelisten das alles aus den Fingern gesogen? War der angebliche Freilassungsbrauch ein Stilmittel, ein Kunstgriff, um eine Botschaft zu transportieren? Wir wissen es nicht!


In diesem und anderen Threads hat ein Diskussionsteilnehmer wiederholt die Unglaubwürdigkeit des Prozesses Jesu betont. Es stellt sich die Frage, wie lief eigentlich ein Prozess, eine Verhandlung ab?
Glücklicherweise gibt es da zumindest eine Quelle, die Auskunft gibt, auch wenn es sich dabei um eine Parodie handelt. Gemeint ist Apuleius Metamorphosis. (Appuleius met 3, 2-11). Diese Handlung spielt in Thessalien. Es geht um eine städtische Gerichtsverhandlung. Amtsdienerschleppen den Angeklagten vor ein Tribunal, das auf dem Forum tagt. Herolde sorgen für Ruhe und der Ankläger muss in einer begrenzten Redezeit die Klage vorbringen. Der Angeklagte kann dazu Stellung nehmen. Ergaben sich dann noch Unklarheiten, konnten die städtischen Magistrate einen Delinquenten sofern er nicht das Bürgerrecht besaß foltern lassen.
Die Prozessführung wurde immer mehr formalisiert, die Rechtspflege hatte aber, wie viele Satiren beweisen durchaus Mängel. In der ApG werden Paulus und Silas verklagt, weil sie einer jungen Frau die Fähigkeit nahmen, wahrsagen zu können und ihrem Besitzer dadurch finanziellen Schaden zufügen. Der Geschädigte verklagt Paulus und Silas bei Strategen und beschuldigt sie des Aufruhrs. Der lässt sie unter Einfluss einer wütenden Menschenmenge ins Gefängnis werfen und auspeitschen, ohne Rücksicht zu nehmen, dass beide römische Bürger sind. Das war modern gesprochen eine glatte Rechtsbeugung und Verstoß gegen Rechtsnormen und vorgeschriebene Formalien. Ist das unglaubwürdig, ist das ein Indiz, dass der Vorfall nicht historisch ist? Verstöße gegen Rechtsnormen und fast parodistisch anmutende Formlosigkeiten kamen zweifellos vor. Sueton berichtet, dass Galba gegen Rechtsnormen einen römischen Bürger kreuzigen ließ. Deswegen zur Rede gestellt, lässt Galba diesen Delinquenten an ein geweißtes Kreuz nageln, als würde er ihm damit eine Ehre erweisen.

Sueton Galba 9
 
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