Erinnerungskultur nach 1990

thanepower

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Was ist es, wenn man sich mit der aktuellen Erinnerungskultur in Bezug auf die Deutsche Geschichte auseinandersetzt. Fakt ist, sofern man sie als eine "kritische" Sicht verstehen will, sie setzt historisches Wissen voraus. Und ist somit notwendigerweise historisch gebunden und unterliegt dem aktuellen Narrativ, der die aktuellen politischen Interessen und die entsprechenden ideologischen Fundierungen spiegelt, und die Erinnerungskultur anfällig macht für ein politisch motiviertes Framing.

Dieses "Ringen" um die Deutungshoheit wird erneut deutlich an der Rede von Friedländer im Bundestag und unterstreicht einmal mehr, dass der Widerspruch gegen eine "Umdeutung" von Geschichte - heute - mehr denn je wieder wichtig ist.

https://www.deutschlandfunk.de/ns-g...rkes-bollwerk.1939.de.html?drn:news_id=972029

Es gibt sicherlich viele Ursachen, die angeführt werden können, um den Zustand der Erinnerungskultur zu erklären. Zu nennen wären beispielsweise, die zeitliche Distanz zum 3. Reich und die Überlagerung älterer Ereignisse durch neuere, das politische Interesse des neuen deutschen nationalen Narrativs, der "unbequeme Erinnerungen" ausläßt oder umdeutet und nicht zuletzt eine neue "Oberflächlichkeit", die historische und politische Bildung - teilweise Bildung generell (und ich meine nicht Auswendiglernen) - negativ als "altmodisch" auflädt.

Gleichzeitig kontrastiert sich der "öffentliche moralische Zeigefinger", dass man sich fast zwangsweise an die NS-Zeit zu erinnern habe, nicht selten in "Sonntagsreden" vorgetragen. Er kontrastiert sich mit den Schilderungen von Überlebenden der Konzentrationslager, die bei Schülern durchaus "Betroffenheit" auslösen und sie verstehen, über welche menschliche Dimension geredet wird, wenn abstrakt der Holocaust thematisiert wird.

Und es stellt sich dringender denn je die Frage, auch weil die Zeitzeugen aussterben, wie man didaktisch angemessen in der Zukunft mit dem Thema "Erinnerungskultur" umgehen sollte.

Ein Geschichtsforum kann zur Erinnerungskultur sehr viel konstruktiv beitragen und die Arbeiten von Halbwachs und in der Folge der "Assmänner" bieten einen kompetenten Einstieg in das Thema. Und gerade dieses Forum hat in vielen Beiträgen, gerade auch von "ursi" beigesteuert, zu einer objektivierenden Sicht auf das Thema "NS-Verbrechen" beigetragen. In diesem Sinne sollte weiterhin kritisch auf die aktuellen Entwicklungen in der "Erinnerungskultur" geschaut werden und das "Framing" einzelner Akteure immer wieder kritisch hinterfragt werden.

Wir werden sicherlich nicht die didaktischen Lücken des Bildungssystems schließen können, aber kritisch auf eine apologetische Umdeutung von Geschichte hinweisen können. Und da hilft nur der Slogan "Fakten, Fakten und nochmal Fakten". Und keine Märchen!

Assmann, Aleida (2009): Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: C.H. Beck.
Assmann, Aleida (2011): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck.
Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C.H. Beck
Assmann, Aleida (2016): Formen des Vergessens. Göttingen: Wallstein Verlag
Echterhoff, Gerald; Saar, Martin; Assmann, Jan (2002): Kontexte und Kulturen des Erinnerns. Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft
François, Etienne: Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. München: Beck
Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Langebach, Martin; Sturm, Michael (2015): Erinnerungsorte der extremen Rechten. Wiesbaden: Springer VS
Welzer, Harald; Moller, Sabine; Tschuggnall, Karoline (2002): "Opa war kein Nazi". Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch
 
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Von Wohl merkt in dem Interview wohl zu Recht an, dass der Narrativ der Erinnerungskultur, die auch kritisch von der Generation der 68er geprägt wurde, nicht uneingeschränkt als Erfolgsmodell zu betrachten ist.

Dass große Teile der jungen Generation, es geistern Zahlen von ca. 40 Prozent durch den Raum, keine Kenntnisse mehr über die Verfolgung u.a. der Juden im 3. Reich haben, wirft die Frage auf, was falsch gelaufen ist.

Der filmischen Aufbereitung kommt dabei ein zentraler Stellenwert, neben familiären und didaktischen Anstrenungen, zu und es stellt sich die Frage, wieviel Realität Filme zu transportieren haben. Und wie weit sich diese von der historischen Vorlage entfernen können oder sollten. Und berührt damit im Kern die Frage, die auch in der Diskussion zu "Unsere Mütter, unsere Väter" angeklungen ist, ob Filme überhaupt korrekte historische Erzählungen sein müssen, oder der Narrativ nicht der künstlerischen Freiheit unterliegt.

Mit dem Aussterben der Zeitzeugen und der wachsenden Distanz wird es wohl eine zunehmende Varianz in den Darstellungsformen geben. Und diese sehr unterschiedlichen Narrative werden sich - gewollt oder ungewollt - konkurrierend um die Deutungshoheit von historischen Epochen "streiten" müssen.

In den nächsten 20 Jahren werden sehr viele bedeutsame 100 jährige Jahrestage zelebriert werden, die eng mit dem Aufstieg des NS-Deutschland zusammen hängen. Es wird spannend sein, die Auswirkungen auf die Erinnerungskultur zum 3. Reich zu betrachten.

http://www.spiegel.de/kultur/gesell...-das-das-ist-die-falsche-frage-a-1251000.html

Rhein, Johannes; Schumacher, Julia; Wohl von Haselberg, Lea (Hg.) (2019): Schlechtes Gedächtnis? Kontrafaktische Darstellungen des Nationalsozialismus in alten und neuen Medien. Berlin: Neofelis Verlag.
 
Ich habe das Interview gestern kursorisch gelesen, konnte mich mit den meisten aber nicht mit allen Positionen von Wohls anfreunden.
 
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