Belgische Neutralität

Die Auswahl des Königs war eine hochpolitische Angelegenheit, an der neben den Belgiern auch die Großmächte beteiligt waren und die fast zum Krieg geführt hätte.
Interessante Geschichte, Gandolf. Kann man dazu noch etwas Detaiiertes im Netz nachlesen?

Außerdem verfuhr doch nicht nur Belgien so, ich erinnere da auch Griechenland, Rumänien und Bulgarien. Wie kommt es eigentlich, daß da - ich glaub in allen Fällen - immer wieder deutsche Fürstensöhne ins Spiel kamen?

Sry für das Offtopic, interessiert mich nun aber. :)
 
Interessante Geschichte, Gandolf. Kann man dazu noch etwas Detaiiertes im Netz nachlesen?

Außerdem verfuhr doch nicht nur Belgien so, ich erinnere da auch Griechenland, Rumänien und Bulgarien. Wie kommt es eigentlich, daß da - ich glaub in allen Fällen - immer wieder deutsche Fürstensöhne ins Spiel kamen?

Sry für das Offtopic, interessiert mich nun aber. :)
Mein Lesetip zu Belgien:
Wolfgang Heuser beschreibt in seinem Buch "Kein Krieg in Europa" die preußische Friedenserhaltungs-Politik (!) während der Belgien-Krise 1830-39. In diesem Buch findest Du auch ein Kapitel über die Probleme, die es bei der Auswahl des belgischen Monarchen gab.

Leopold von Sachsen-Coburg-Saalfeldt wäre es fast gelungen, Prinzgemahl der britischen Königin Charlotte zu werden, die aber als Kronprinzessin bei ihrer Totgeburt verstarb. Dann wurde ihm sogar die griechische Krone angeboten, die er aber - völlig überraschend - "im letzten Moment" ausgeschlagen hat, sehr zum Zorn des mit ihm (bis dato) befreundeten Zaren. 1x fast britischer Prinzgemahl und 2 angebotene Königskronen - das war schon eine ganz außerordentliche Quote.

Bei allen europäischen Thronfragen musste auf das europäische Gleichgewicht geachtet werden. Damit schieden schon einmal die Kinder aus den großen europäischen Dynastien aus. In Krisensituationen wurde dies zwischen den Großmächten häufig ausdrücklich vereinbart (z.B. im Fall Griechenland und später auch in Belgien) und 1870 sollte es ja, über eine solche Frage sogar zu einem Krieg zwischen zwei Großmächten kommen.

Der Vorteil vieler deutschen Fürstenkinder lag in dem Umstand "klein, aber fein". Im Laufe der Zeit entwickelte sich auch eine gewisse Versiertheit in diesen Angelegenheiten. Häufig sollten Hochzeiten in große (mächtige) Dynastien auch helfen, das Überleben der Kleinen zu sichern.
 
Belgische Favoriten für den Königsthron

In meinem # 120 schrieb ich, dass die Belgier sich anfänglich für einen entfernten Verwandten von Napoleon Bonaparte entschieden hätten. Da habe ich wohl etwas durcheinander gebracht.

Die Belgier entschieden sich anfänglich für den Herzog von Nemours, den Sohn des französischen Königs Louis Philippes. Aussichtsreichster zweiter Kandidat war Leuchtenberg, ein Sohn Eugène Beauharnais'.

Beide Kandidaten waren für die Londoner Konferenzmächte untragbar. Bei einem Sohn von Louis Philippe auf dem belgischen Thron wäre die Unabhängigkeit Belgiens nur auf dem Papier gestanden. Mit Leuchtenberg wären bonapartistischen Tendenzen vor der Haustür von Paris Vorschub geleistet worden.

Frankreichs König vollzog nun ein waghalsiges Manöver. Er ermutigte die Belgier den Herzog von Nemours zu wählen. Dies löste die erwartete große Empörungswelle aus. Lange Zeit schien Frankreich die Wahl der Belgier zu verteidigen. Doch schließlich gab es in London - angesichts immer heftiger werdender Drohungen - klein bei und erreichte im Gegenzug, dass sich die Londoner Konferenz auch gegen Leuchtenberg aussprach. Nun wurde in Paris ein pompöser Akt inszeniert, in dem Louis Philippe unter Tränen den ablehnenden Bescheid der Londoner Konferenz hinsichtlich der Thronkandidatur seines Sohnes verkündete. So erreichte er, dass die Belgier weiterhin auf die feste französche Freundschaft vertrauten.

Ein wenig trockener kommentierten die Berliner diese Szene: "Ein Eckensteher hat keine Mütze; ein anderer ruft ihm zu: >Halt, setz' die Mütze uf, sonst fällt dir 'ne Krone uf'n Kopf<".

Quelle: Wolfgang Heusser, Kein Krieg in Europa, 1992, S. 236 ff.
 
Wie kommt es eigentlich, daß da - ich glaub in allen Fällen - immer wieder deutsche Fürstensöhne ins Spiel kamen?

Das ist einfach zu erklären: je mehr von einer Sorte zur Auswahl stehen, desto größer die Chance von dieser Sorte genommen zu werden.
Allerdings in Griechenland wurde der König von den Signatarmächten ernannt.
In Rumänien wurde durch Volksabstimmung der erste Fürst aller Rumänen gewählt und paar Jahre später zum König proklamiert. Auch ne Möglichkeit.
In Bulgarien gab es nach dem Fürsten aller Bulgaren den Zar von Bulgarien. Dieser einzige neuzeitliche Zar von Bulgarien lebte im Exil 30 Jahre bis zu seinem Tod 1948 in Coburg.
 
Stammt von hier:
http://www.geschichtsforum.de/f72/k...sche-entwicklung-20446/index5.html#post315986

Und ich dachte schon er untersuchte "gründlich" ein konkretes Vorkommnis im Jahr 1914.:D

Das tut er:

1.3.1814 Quadruppelallianz zwischen Preußen, Österreich, Rußland und Großbritannien, im Sepraratartikel war die Wiederherstellung Hollands unter dem Haus Oranien mit angemessener Grenze und Gebietszuwachs als Bollwerk gegen Frankreich bestimmt.

30.5.1814: Wiederholung unter Artikel VI des Pariser Friedens.
http://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Pariser_Frieden

21.6.1814 Protokoll der Vier Mächte mit Festlegung der Vereinigungsgrundsätze für Holland, Zustimmung der Oranier in der Erklärung der Acht Artikel vom 21.7.1814.

9.6.1815 In Artikel LXXIII werden die Grundsätze in die wiener Kongreßakte aufgenommen.
http://www.histoire-empire.org/articles/congres_de_vienne/acte_du_congres_de_vienne_06.htm

1815-1818 werden aus den Mitteln der französischen Kriegskostenentschädigung und aus niederländischen Finanzmitteln nach Plänen Wellingtons ein Gürtel von Festungen und Forts errichtet, für die die Niederlande die Ganisonen stellen

1818 Aachener Kongreß: während der Aufnahme Frankreichs in den Bund der Vier Mächte werden von diesen zur Erneuerung des Viererbundes und Vollziehung eines geheimen Militärprotokolls Absprachen gegen Frankreich für den Kriegsfall getroffen. Im Kriegsfall mit Frankreich sollen bestimmte Festungen durch britische und preußische Truppen besetzt werden; die Niederlande gestehen Räumung für diesen Fall zu (Geheimer Festungsvertrag)
http://de.wikipedia.org/wiki/Aachener_Kongress

25.8.1830 Beginn der Revolution in Brüssel gegen die niederländische Herrschaft, Ausrufung der provisorischen Regierung am 4.10.1830.

4.11.1830 Tagung auf der Londoner Konferenz, parallel beginnen der polnische Aufstand und die italienische Revolution. Nikolaus I. und Metternich zeigen wenig Interesse an der belgischen Frage. In der Folge wird dem Antrag Lord Palmerston´s zugestimmt, die belgische Unabhängigkeit anzuerkennen.

20.1.1831 Londoner Protokoll Artikel 5 und 6, dem Frankreich am 17.4.1831 beitritt: Belgien soll einen immerwährend neutralen Staat bilden, die fünf Mächte sollen die Neutralität, Integrität und Unverletzbarkeit des Gebiets garantieren. Belgien wird Neutralität gegenüber allen anderen Staaten auferlegt.
http://de.wikipedia.org/wiki/Belgische_Revolution

26.6.1831 Entwurf des Präliminarfriedensvertrages in 18 Artikeln, in Artikel 9 und 10 wird die Neutralität Belgiens, die Integrität und Unverletzbarkeit des belgischen Territoriums wiederholt. Holland lehnt den Entwurf ab und lässt Truppen in Belgien einmarschieren. Der Einmarsch französischer Truppen rettet Belgien, dessen Truppen bereits geschlagen sind.

14.10.1831 Im neuen Vertragsentwurf, dem folgend am 15.11.1831 im endgültigen Vertrag (24 Artikel) werden die Klauseln abgeändert. Artikel 7 bestimmt nun nur noch, dass Belgien einen immerwährenden neutralen Staat bilden werde, in der schwächeren Formulierung fehlt der Hinweis auf die Integrität und Unverletzbarkeit seines Staatsgebietes. Die schwächere Formulierung wird auf englische Intervention zurückgeführt, da England nach der belgischen Niederlage und dem Einrücken französischer Truppen nur geringes Vertrauen in die Durchführung der Neutralität setzte. Die Schlussformulierung bestimmt die Garantiemächte Russland, Österreich, Frankreich, Großbritannien und Preußen.

14.12.1831 Mit dem endgültigen Vertrag über Belgien wird der Geheime Festungsvertrag von 1818 erneuert. Die Vier Mächte (ohne Frankreich) erklären, dass sich der belgische König in derselben Position wie der König der Niederlage in Rechtsfolge befinde. Im Falle einer Bedrohung der Festungen soll sich Belgien mit den Viere Mächten für Schutzmaßnahmen verständigen, die für den Erhalt der Festungen erforderlich sind. Belgiens antraf (durch den Delegierten Graf Goblet d’Alviella) auf Unvereinbarkeit des Besatzungsrechts mit der unabhängigen und neutralen Stellung Belgiens wird abgelehnt. Stattdessen wird der nur der Vorbehalt der Neutralität Belgiens aufgenommen. Palmerston erklärt zur Bedeutung der Neutralität 1855 im Parlament (Donaufürstentümer): „Gewiss gibt es in Europa Beispiele, für solche Bestimmungen; Belgien und die Schweiz sind durch vertragliche Übereinkunft für neutral erklärt worden. Ich bin aber nicht geneigt, derartigen Abmachungen sehr viel Bedeutung beizumessen, denn die Geschichte der Welt zeigt, dass, wenn ein Streit entsteht und ein Land in den Krieg geht, es die Neutralitätserklärungen gewöhnlich nicht sehr peinlich achtet, wenn es ihm vorteilhaft erscheint, mit seinem Heere durch solches neutrales Gebiet zu ziehen.“

19.4.1939 der König von Holland schließt sich den Neutralitätsbestimmungen vom 14.10.1831 an, die 5 Mächte erklären die 24 Artikel vom 15.11.1831 als Bestandteil ihres Vertrages mit den Niederlanden.

Vertragsentwurf Frankreichs vom August 1866 in Zusammenhang mit den preußisch-österreichischen Friedensverhandlungen, veröffentlicht in der Times vom 25.7.1870: Artikel 4: SM der König von Preußen wird für den Fall, dass SM der Kaiser der Franzosen durch die Umstände bewogen werden sollte, seine Truppen in Belgien einrücken zu lassen oder dieses Land zu erobern, die Unterstützung seiner Waffen bewilligen, und es mit seiner gesamten Land- und Seemacht gegen jede der Mächte, die ihm in dieser Eventualität den Krieg erklären würden, unterstützen. Dieser Vertragsentwurf, sowie die beiden folgenden Separatverträge 9.8./11.8.1870 zwischen Frankreich-Großbritannien und Preußen-Großbritannien werden als Indiz dafür gesehen, dass die 1839er Verträge hinfällig geworden sind:

Londoner Standard vom 4.2.1887 (Hauptorgan der Konservativen): England sei nicht vertraglich zur Intervention zugunsten Belgiens verpflichtet, der Durchmarsch einer fremden Macht durch Belgien sei zu dulden, wenn die Neutralität Belgiens nicht angetastet werde und die spätere Räumung gewährleistet sei.
Fortnighty Review: gleiche Stellungnahme. „Diplomaticus“ und „Standard“ haben angeregt, zuzugeben, dass in Belgien ein zeitweises Wegerecht ausgeübt werden könne, wenn die Integrität danach wiederhergestellt werde. National Review: schließt sich dem an. „Verträge laufen ohne Zweifel mit der Zeit ab. Der Vertrag von 1839 ist schließlich viel älter als der Vertrag von 1855 über Schweden. Frankreich und England würden es heute für einen Wahnsinn halten, die Integrität Schwedens gegen Russland zu wahren, und ähnlich denkt England ganz offenbar jetzt bezüglich Belgiens.“ General Brialmont erklärt in Belgien, dass Belgien im Falle seiner temporären Verletzung der Neutralität die Streitkräfte am besten auf Antwerpen zurücknimmt. „Wir sollten weder auf der Seite der Sieger noch auf der der Besiegten stehen. Unser Interesse und unsere Pflicht gebieten uns, dem Kampfe fern zu bleiben und den Zeitpunkt zu erwarten, wo einer der Kriegsführenden sich gegen uns wendet, um dann all unsere Hilfsmittel einzusetzen.“

Die Fragen bleiben, wie die Einschränkung hinsichtlich der territorialen Integrität Belgiens gegenüber den Entwürfen 1831, die geheimen Festungsverträge, der Vertragsentwurf 1866 und die Zusatzverträge 1870 zu deuten sind. 1877 wurde das in England vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Spannungen offenbar nicht mehr sehr eng gesehen.
 
Übersehen habe ich noch, auf die Haager Verträge hinzuweisen.
Diese verboten 1907 die militärische Nutzung und das Ziehen von Truppen durch neutrale Staaten.
 
Pohls Rede vor der DVP-Ortsgruppe enthält die üblichen apologetischen Versuche, den Einfall in Belgien (1914) als völkerrechtmäßig darzustellen. Sie ist voll von Unwahrheiten, Halbwahrheiten, Verzerrungen, Verdrehungen, etc. und zeigt, wie stark der 1. WK die „nationalen Emotionen“ auflud und selbst gebildete Menschen wie Prof. Pohl Unfug erzählen ließ, solange dieser im „nationalen Interesse“ zu liegen schien und wie dieser Unfug von der „national gesinnten“ Zuhörerschaft begierig aufgesaugt wurde. Pohl mag sogar an seine Konstruktionen geglaubt haben. Jedoch sind sie, völkerrechtlich betrachtet, leicht als unhaltbar zu durchschauen:

14.10.1831 Im neuen Vertragsentwurf, dem folgend am 15.11.1831 im endgültigen Vertrag (24 Artikel) werden die Klauseln abgeändert. Artikel 7 bestimmt nun nur noch, dass Belgien einen immerwährenden neutralen Staat bilden werde, in der schwächeren Formulierung fehlt der Hinweis auf die Integrität und Unverletzbarkeit seines Staatsgebietes. (…)

14.12.1831 (…) Belgiens Antrag (durch den Delegierten Graf Goblet d’Alviella) auf Unvereinbarkeit des Besatzungsrechts mit der unabhängigen und neutralen Stellung Belgiens wird abgelehnt. Stattdessen wird der nur der Vorbehalt der Neutralität Belgiens aufgenommen. (…)

19.4.1939 der König von Holland schließt sich den Neutralitätsbestimmungen vom 14.10.1831 an, die 5 Mächte erklären die 24 Artikel vom 15.11.1831 als Bestandteil ihres Vertrages mit den Niederlanden.​

Tatsächlich war es so, dass der Garantievertrag der 5 Großmächte (GB, Pr., ÖU, F und R) vom 19.4.1939 Bezug nahm auf den belgisch-niederländischen Vertrag „über die Unabhängigkeit und Neutralität Belgiens“ vom gleichen Tag. Dessen Art. 7 lautete: „Belgien, in den durch die Artikel 1, 2 und 4 angezeigten Grenzen, wird einen unabhängigen und für immer neutralen Staat bilden. Es wird gehalten sein, diese selbe Neutralität gegen alle anderen Staaten zu beobachten.“ Neutrales Gebiet galt als unverletzlich. Kriegführende durften durch dieses Gebiet keine Truppen marschieren lassen (vgl. Art. 1 und 2 der Haager Konvention betreffend Rechte und Pflichten der neutralen Mächte und Personen im Falle eines Landkriegs). Fazit: die These, der Garantievertrag habe einem „temporären Durchmarsch“ deutscher Truppen durch Belgien nicht entgegengestanden, da der Garantievertrag hinsichtlich der Integrität und Unverletzlichkeit Belgiens angeblich Einschränkungen enthielt, war reines Blendwerk.​

Vertragsentwurf Frankreichs vom August 1866 in Zusammenhang mit den preußisch-österreichischen Friedensverhandlungen, veröffentlicht in der Times vom 25.7.1870: Artikel 4: SM der König von Preußen wird für den Fall, dass SM der Kaiser der Franzosen durch die Umstände bewogen werden sollte, seine Truppen in Belgien einrücken zu lassen oder dieses Land zu erobern, die Unterstützung seiner Waffen bewilligen, und es mit seiner gesamten Land- und Seemacht gegen jede der Mächte, die ihm in dieser Eventualität den Krieg erklären würden, unterstützen. Dieser Vertragsentwurf, sowie die beiden folgenden Separatverträge 9.8./11.8.1870 zwischen Frankreich-Großbritannien und Preußen-Großbritannien werden als Indiz dafür gesehen, dass die 1839er Verträge hinfällig geworden sind:
Völkerrechtliche Verträge können grundsätzlich nur durch Vertragsaufhebung oder aufhebendes Völkergewohnheitsrecht hinfällig werden. Grotesk ist, wie Pohl argumentiert, um diese Hürde in Richtung „Hinfälligwerden“ der Verträge von 1839 zu nehmen: da soll der Vertragsentwurf eines Staates, Presseveröffentlichungen über den zwischen zwei Garantiemächten nicht zustande gekommenen Vertrag sowie die 1870/71 zwischen drei Staaten zur Sicherung von Belgiens Unabhängigkeit und Neutralität abgeschlossenen Defensivverträge einen tatsächlich abgeschlossenen Vertrag zwischen fünf Staaten über die Garantie von Belgiens Unabhängigkeit und Neutralität hinfällig werden lassen. Mit völkerrechtliche Erwägungen hat dieser Unsinn nichts mehr zu tun. So und so ähnlich zieht sich das dann im weiteren durch Pohls Rede. Halboffizielle Presseartikel, Gespräche zwischen Militärs, politische Diskussionen in England, wie weit die Garantie reicht, etc. sollen völkerrechtliche Verträge entfallen lassen. Das ist natürlich kompletter Unfug.

Im Übrigen belegen zahlreiche diplomatische Erklärungen, auch die des Deutschen Reiches, aus der Zeit von 1900-1914, dass der Garantievertrag von 1839 zu Beginn des Kriegsausbruchs 1914 keinesfalls hinfällig war. Anlässlich der Vlissingen-Affäre 1911 ließ Bethmann-Hollweg der belgischen Regierung sagen, daß Deutschland nicht die Absicht habe, die belgische Neutralität zu verletzen. Jagow wiederholte dies am 29.4.1913 in der Budgetkommission des Reichstages. Am 31.7.1914 liess Grey in Berlin und Paris anfragen lassen, wie sich die Regierungen zur belgischen Neutralität stellen. Frankreich antwortete, man werde die belgische Neutralität respektieren, Berlin antwortete ausweichend. Reichskanzler Bethmann-Hollweg selbst bezeichnete in seiner Reichstagsrede vom 4.8.1914 den Einmarsch in Belgien als völkerrechtliches Unrecht und versprach Belgien hierfür Entschädigung; ebenso Außenminister Brockdorff-Rantzau in Versailles in seiner Rede vom 7.5.1919 („Wir wiederholen die Erklärung, die bei Beginn des Krieges im Deutschen Reichstag abgegeben wurde. Belgien ist Unrecht geschehen, und wir wollen es wieder gutmachen“), und in der Denkschrift der deutschen Friedensdelegation vom 27.5.1919. Doch vielen Deutschen, selbst einem so gebildeten Mann wie Pohl, viel es schwer, dieses Unrecht anzuerkennen. Und so entstand schon im September 1914 der Mythos vom rechtmäßigen Einmarsch in Belgien, der von Apologeten wie Pohl auch nach dem Krieg noch verteidigt wurde.​

Wenn es noch genauer interessiert: im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Band 1, 1924, findet man unter „Belgien“ eine sehr interessante Auseinandersetzung mit diesen apologetischen Theorien.​


 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn es noch genauer interessiert: im Wörterbuch des Völkerrechts und der Diplomatie, Band 1, 1924, findet man unter „Belgien“ eine sehr interessante Auseinandersetzung mit diesen apologetischen Theorien.

Vielen Dank für den Beitrag und den speziellen Hinweis. Das werde ich mir mal anschauen.


Eine Anschlußfrage:

Wohl unbestritten weichen Entwurfsfassung und Verträge 1831/1839 bezüglich der "Länge" der Klauseln ab: die ursprüngliche Erwähnung der Unverletzbarkeit des Gebietes wurde nicht aufgenommen. Das ist bei einer Vertragsentstehung ein interessanter Aspekt, der u. U. Relevanz für die Auslegung haben kann.

Ich habe ja selbst den Nachtrag zu den Haager Verträgen gepostet. Nun stellt sich mir die Frage - und da habe ich im Moment keine Vorstellung dazu - wie die Neutralität eines Staates 1831/39 in der Reichweite/materiell gesehen wurde, zu dem Zeitpunkt, als sie vereinbart wurde. Dazu kommt die frage, welche Bedeutung die Geheimen Festungsverträge (1818/1832) gegen Frankreich für die Auslegung haben.

Sollte dieses enger verstanden werden: Erst im nächsten Schritt sollte dann die Frage untersucht werden, ob die Haager Verträge mit expliziter Umschreibung der Neutralität etwas Neues oder Weitergehendes gebracht haben, oder nur den jahrhundertalten Meinungsstand festschreiben.
 
Dazu kommt die frage, welche Bedeutung die Geheimen Festungsverträge (1818/1832) gegen Frankreich für die Auslegung haben.
Eigentlich keine.

Der Geheimvertrag von 1818 wurde mit Holland geschlossen, nicht mit Belgien.

Der Geheimvertrag von 1831 wurde zwar von den Großmächten (Ausnahme: Frankreich) mit Belgien geschlossen und sah die Besetzung von belgischen Festungen vor. Aber der Vertrag war gegen Frankreich gerichtet und galt nur für den Bündnisfall mit Belgien (also bei einem französischen Angriff), die Besetzung der belgischen Festungen setzte zudem das Einvernehmen des belgischen Königs voraus und schließlich enthielt der Vertrag auf belgisches Verlangen auch noch eine auf die Neutralität Belgiens Rücksicht nehmende Klausel: „toujours sous réserve de la neutralité de la Belgique“.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Eigentlich keine.
Der Geheimvertrag von 1818 wurde mit Holland geschlossen, nicht mit Belgien.
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Kennst du die Texte der Verträge, insbesondere den nachträglichen Vertrag mit Belgien? Für die Anerkennung der Selbständigkeit Belgiens war doch beachtlich, dass Belgien bezüglich der Festungen in "die Fussstapfen" der Niederlande tritt; da keine Staatsnachfolge (etwa NL -> BEL) bestand, mußten Verträge ausdrücklich bestätigt werden. Insoweit erscheint mir das alles auch politisch plausibel in den Abläufen.

Der ursprüngliche Vertrag war allerdings "kontra Frankreich" und war für die Auslegung der "Neutralität" erstmal wichtig: danach waren die Gebiete nicht unantastbar, wie etwa die Vertragsentwürfe ansonsten suggerieren, was dann auch in die endfassung nicht übernommen wurde. Warum?

Wie läßt sich weiter begründen, dass dieses Argument nun weggefallen sei und ein - mir relativ sinnlos erscheinendes, weil redundantes "pro Belgien" als Bündnisvertrag herauskommt. Aus der Neutralitätsklausel am Schluss kommt das mE jedenfalls nicht zum Ausdruck, da wird nur die Hauptvereinbarung wiederholt. Außerdem wollte Belgien zunächst viel mehr, nämlich eine Entwertung des Festungsvertrages durch die zugesicherte Unverletzbarkeit des Gebietes, was völlig gescheitert ist.


Mich würde sehr die Entstehungsgeschichte 1818 und die Überleitung 1831 interessieren. Gibt es dazu wirklich nichts Ausführliches in der Literatur?
 
Ausgangspunkt der Auslegung eines Vertrages ist das Vereinbarte und nicht das Nichtvereinbarte. Insofern ist Pohls Argumentation, bei den Londonern Verträgen (1839) sei eine bestimmte Formel nicht verwendet worden und hieraus ergebe sich in Zusammenhang mit den Festungsverträgen (1818/1831) sogar eine Einschränkung der belgischen Gebietshoheit, von vorneherein Blendwerk.

1839 wurde vereinbart, dass die 5 Großmächte Europas die Unabhängigkeit und Neutralität Belgiens garantieren. Von einer Einschränkung der belgischen Gebietshoheit steht da nichts. Zudem muss berücksichtigt werden, dass sich Belgien seinerseits zur "immerwährenden Neutralität" verpflichtete. Belgien war also nicht frei darin, sich in einem Krieg auf die Seite eines Kriegführenden zu schlagen oder sich neutral zu verhalten. Es musste sich neutral verhalten. Die belgische Neutralität stellte wie die schweizerische Neutralität eine Sonderform der Neutralität dar, die sog. "institutionelle Neutralität". Wenn aber die Staatengemeinschaft (1815 die Teilnehmerstaaten des Wiener Kongresses; 1839 die 5 Großmächte) einen Staat vertraglich zur "immerwährenden Neutralität" verpflichten, dann hat dieser Umstand, auch Folgepflichten für die Mitglieder dieser Gemeinschaft. Diese müssen ihrerseits Rücksicht nehmen auf die "immerwährende Neutralität" des betreffenden Staates. Bei institutioneller Neutralität fällt somit Neutralität und Unverletzbarkeit des Gebiets, woraus das Durchmarschverbot folgt, sowie Gleichbehandlungsgebot und die Pflicht zur Abwehr unbefugter Zutritte (bewaffnete Neutralität) zusammen.

Die Festungsverträge (1818/1831) ihrerseits wurden zwischen vier Großmächten (E, R, Pr. und ÖU) und Belgien abgeschlossen. Frankreich war nicht an diesen beteiligt. Mithin können diese auch keine Einschränkung des ohnehin später abgeschlossenen Londoner Vertrages (1839), an dem Frankreich beteiligt war, darstellen.

Die einzige Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, ob die Festungsverträge mit den Londonern Verträgen noch vereinbar waren. Das kann bejaht werden. Die Verträge galten nur für den Fall, dass Belgien das Opfer eines (französischen) Angriffs wurde. In diesem Falle wäre Belgien ohne eigene Verletzung des Völkerrechts zur Kriegspartei geworden. Als solche durfte es auch Bündnisverpflichtungen eingehen. Durch die Voraussetzung, dass die Besetzung der belgischen Festungen das Einvernehmens des Landesherren bedurfte, war sichergestellt, dass Belgien selbst darüber entschied, ob ein solcher Angriff auf Belgien vorlag. Lag dieser nicht vor, war Belgien aufgrund seiner Neutralitätspflicht völkerrechtlich verpflichtet, sein Einvernehmen zur Besetzung seiner Festungen zu verweigern. Die Vertragspartner mussten diese Entscheidung akzeptieren, da der Festungsvertrag 1831 ohnehin unter dem Vorbehalt der belgischen Neutralität stand.
 
Hallo Gandolf,

die Auslegung von Verträgen ist mir durchaus bekannt, Entstehungsgeschichte (inkl. darin vorkommender wesentlicher Textänderungen und Kontext der Verträge sind kein Blendwerk, sondern möglicherweise zu berücksichtigen. Gerade das möchte ich kennen, da es mir bis auf die oben dargestellten Vorgänge unbekannt ist (siehe daher die Fragen)

Das ist hier völlig ungeklärt, weil a) die Festungsverträge vorher da waren, b) bestätigt wurden, c) ausdrücklich auf Belgien ausgedehnt wurden, was d) den fortgesetzten Willen der Vier Mächte (gegen den vermutlichen Gegner Frankreich gerichtet) zum Ausdruck bringt. Danach von einer Überlagerung auszugehen, erscheint mir schon sehr gewagt.

Ob die Festungsverträge mit "1839" noch vereinbart waren, stellt sich nicht, weil sie nicht aufgehoben wurden - mir ist jedenfalls kein weiterer diesbezüglicher Geheimvertrag bekannt.

Selbst wenn ich mich Deiner Beurteilung anschließe, er wäre tatsächlich obsolet geworden, ist darin zunächst einmal impliziert, der Neutralitätsvertrag liefe notwendig konträr (nämlich damit die Überlagerung denkbar wäre). Das kann ich aber nicht beurteilen, weil mir die Umstände zu dem Festungsvertrag nicht abschließend bekannt sind. Bis jetzt vermute ich: 1839er Vertrag (in inhaltlicher Konstanz zum 1831er Vertrag) wäre neben den Festungsvertrag 1818/1831 zu stellen.

Letzterer sieht eine Gebietsverletzung vor, woraus sich unverändert die Frage erhebt, wie staatliche Neutralität 1831 verstanden wurde (anders als 1907)? Sollte die "Neutralität" jede Gebietsverletzung bereits 1831 ausgeschlossen haben, wäre die Frage zu klären, wie dann die Vier der Fünf Mächte ihre "Geheimabsprache" im Verhältnis zur Neutralität zu verstehen wäre: als kalkulierten Bruch des Neutralitätsvertrages (wobei die Klausel sogar wiederholt worden ist...?

Wenn der behauptete Text des Festungsvertrages stimmt, wäre doch wohl nicht ernsthaft an den Parteiwillen bei Abschluß der Verträge zu glauben, dass im Krieg der Vier gegen Frankreich vor dem Hintergrund der Festungsverträge Belgien "gefragt" werden sollte? der Vertrag wäre dann wohl eher als vorherige Zustimmung zur Besetzung zu verstehen, "im übrigen" unter Beibehaltung der Neutralität. Wie das praktisch aussehen sollte, hat die belgische Generalität oben dargestellt beschrieben: das belgische Heer zieht sich unter Neutralität zB in den Festungsbereich Antwerpen, verteidigt sich bei Angriffen, hilft keiner Partei und wartet ab, bis alles vorüber ist.

(So jedenfalls wird man sich das wohl nach 1818/1839 für den befürchteten neuen Kriegsfall der Vier gegen den europäischen Schrecken Frankreich gedacht haben):grübel:
 
die Auslegung von Verträgen ist mir durchaus bekannt, Entstehungsgeschichte (inkl. darin vorkommender wesentlicher Textänderungen und Kontext der Verträge sind kein Blendwerk, sondern möglicherweise zu berücksichtigen. Gerade das möchte ich kennen, da es mir bis auf die oben dargestellten Vorgänge unbekannt ist (siehe daher die Fragen)
Und dennoch wäre es so, dass eine Einschränkung der belgischen Unversehrtheit und Integrität, wenn diese von den Vertragsparteien gewollt gewesen wäre, im Vertragstext ihren Niederschlag hätte finden müssen. Also: wo stand im Londoner Vertrag, dass Belgiens Gebiet verletzt werden durfte?:fs:

Eine im Text nicht enthaltene Einschränkung dadurch hineinlesen zu wollen, dass dort Unversehrtheit und Integrität nicht ausdrücklich garantiert wurden (Lückentheorie), ist absurd; selbst wenn man dabei auf die "Entstehungsgeschichte" zurückgreift, um die angebliche "Lücke" aufzuzeigen.
Gandolf schrieb:
Das ist hier völlig ungeklärt, weil a) die Festungsverträge vorher da waren, b) bestätigt wurden, c) ausdrücklich auf Belgien ausgedehnt wurden, was d) den fortgesetzten Willen der Vier Mächte (gegen den vermutlichen Gegner Frankreich gerichtet) zum Ausdruck bringt. Danach von einer Überlagerung auszugehen, erscheint mir schon sehr gewagt.

Ob die Festungsverträge mit "1839" noch vereinbart waren, stellt sich nicht, weil sie nicht aufgehoben wurden - mir ist jedenfalls kein weiterer diesbezüglicher Geheimvertrag bekannt.

Selbst wenn ich mich Deiner Beurteilung anschließe, er wäre tatsächlich obsolet geworden, ist darin zunächst einmal impliziert, der Neutralitätsvertrag liefe notwendig konträr (nämlich damit die Überlagerung denkbar wäre). Das kann ich aber nicht beurteilen, weil mir die Umstände zu dem Festungsvertrag nicht abschließend bekannt sind. Bis jetzt vermute ich: 1839er Vertrag (in inhaltlicher Konstanz zum 1831er Vertrag) wäre neben den Festungsvertrag 1818/1831 zu stellen.
Hier bringst Du einiges durcheinander: Ich bin der Auffassung, dass der Festungsvertrag (1831) neben dem Londoner Vertrag (1839) steht. Deshalb bin ich ja auch der Frage nachgegangen, ob der 1831er Vertrag mit den Regeln des 1839er Vertrag noch vereinbar war. Nebeneinanderstehen kann ja auch bedeuten, dass der eine mit dem anderen nicht vereinbar ist. Diese Frage ist zu verneinen, da der Festungsvertrag von vorneherein unter dem Vorbehalt der Neutralität Belgiens stand, nur für den Fall galt, dass Belgien Opfer eines (frz.) Angriffs wurde, und die Besetzung der belgischen Festungen an das vorherige Einverständnis des belgischen Königs geknüpft war...

silesia schrieb:
Letzterer sieht eine Gebietsverletzung vor, woraus sich unverändert die Frage erhebt, wie staatliche Neutralität 1831 verstanden wurde (anders als 1907)?
Der Festungsvertrag (1831) war nicht auf eine Gebietsverletzung Belgiens gerichtet. Der Vertrag sah als Voraussetzung für die Besetzung der belgischen Festungen die Zustimmung des belgischen Landesherren voraus. Nur wenn der zustimmte, durften die Festungen besetzt werden.
silesia schrieb:
Sollte die "Neutralität" jede Gebietsverletzung bereits 1831 ausgeschlossen haben, wäre die Frage zu klären, wie dann die Vier der Fünf Mächte ihre "Geheimabsprache" im Verhältnis zur Neutralität zu verstehen wäre: als kalkulierten Bruch des Neutralitätsvertrages (wobei die Klausel sogar wiederholt worden ist...?
Nein; aufgrund des Erfordernisses des Einvernehmens lag es am belgischen König, die belgischen Verpflichtungen ohne Bruch des Völkerrechts zu erfüllen.

Grundsätzlich hatte er durch Hinweis auf die belgische Neutralitätsverpflichtung alle Anfragen der vier Großmächte nach Erlaubnis der Besetzung der belgischen Festungen abzulehnen, da neutralitätswidrig. Dieser Verweis auf die belgische Neutralität wäre kein Bruch des Festungsvertrages gewesen, da der 1831er Vertrag von vorneherein unter dem Vorbehalt der Neutralität Belgiens stand.

Im Fall eines französischen Angriffs auf Belgien durfte der belgische König aber den anderen Großmächten seine Zustimmung zur Besetzung der belgischen Festungen erteilen, ohne hierdurch Belgiens Neutralitätspflichten zu verletzen. Durch einen französischen Angriff wäre Belgien Kriegspartei geworden und kein neutraler Staat mehr gewesen.
Silesia schrieb:
Wenn der behauptete Text des Festungsvertrages stimmt, wäre doch wohl nicht ernsthaft an den Parteiwillen bei Abschluß der Verträge zu glauben, dass im Krieg der Vier gegen Frankreich vor dem Hintergrund der Festungsverträge Belgien "gefragt" werden sollte?
Der Vertrag sah als Voraussetzung für die Besetzung der Festungen das Einvernehmen des belgischen Königs vor. Allein das zählt. Er ist deshalb in jene Gruppe von Bündnisverträgen einzureihen, die keinen Bündnisautomatismus enthielten. Belgien behielt sich selbst im Bündnisfall das Recht vor, selbst darüber zu entscheiden, ob seine Festungen besetzt werden sollen. Gegen Deine Spekulation, der Vertrages sei als vorherige Zustimmung zu werten, streitet bereits der Vertragstext.
 
Zuletzt bearbeitet:
Darüber muss ich nachdenken,
das sind alles sehr gute Gründe, die Du nennst. Da mir der ganze Text nicht vorliegt:


Wo kann man den geheimen Festungsvertrag nachlesen? Und gibt es zu dem Vertrag Analysen in der Literatur?
 
Hallo Gandolf,

Dein Einwand ist richtig. Ich habe folgendes gefunden, was diese Interpretation ebenfalls bestätigt:

Zusammenfassung:
"Der Geheimvertrag aber hat nach der Neutralisation seine Gültigkeit verloren, da er eine mit der andauernden Neutralität unvereinbare Beschränkung der Souveränität, einen Eingriff in die inneren Verhältnisse des neutralisierten Staates darstellt ..."
Richter, Die Neutralisation von Staaten, S. 73 (Belgien), Dissertation 1913.

Ebenso im Ergebnis einer eingehenden Untersuchung (mit den Vertragstexten):
Lademacher, Die belgische Neutralität als Problem des europäischen Rechts 1830-1914
 
Hallo Gandolf,

Dein Einwand ist richtig. Ich habe folgendes gefunden, was diese Interpretation ebenfalls bestätigt:

Zusammenfassung:
"Der Geheimvertrag aber hat nach der Neutralisation seine Gültigkeit verloren, da er eine mit der andauernden Neutralität unvereinbare Beschränkung der Souveränität, einen Eingriff in die inneren Verhältnisse des neutralisierten Staates darstellt ..."
Richter, Die Neutralisation von Staaten, S. 73 (Belgien), Dissertation 1913.

Ebenso im Ergebnis einer eingehenden Untersuchung (mit den Vertragstexten):
Lademacher, Die belgische Neutralität als Problem des europäischen Rechts 1830-1914
Ich kann - anders als das von wiedergegebene Zitat von Richter nahelegt - keinen Eingriff in die belgische Souveränität erkennen, der vom geheimen Festungsvertrag ausgegangen sein soll. Der Festungsvertrag sah die Besetzung der belgischen Festungen an der französischen Grenze nur dann vor, wenn der belgische König zuvor sein Einvernehmen erteilte. Bei erteiltem Einverständnis stellte die Besetzung gerade keinen Eingriff in die belgische Souveränität dar. Mit der belgischen Neutralität wäre die Einvernehmenserteilung jedoch nur dann vereinbar gewesen, wenn Belgien zuvor das Opfer eines französischen Angriffs geworden wäre oder ein solcher Angriff unmittelbar gedroht hätte. Dann wäre Belgien Kriegspartei gewesen und durfte sich Verbündete in sein Land holen. Ausserhalb eines solchen Falls musste der belgische König aber, um Belgiens Neutralitätspflichten gerecht zu werden, sein Einvernehmen verweigern.
 
Das ist auch die hartnäckig (s.u.) vorgetragene belgische Interpretation, ...

die im Festungsstreit 1835-1837 und in den damit verbundenen ersten zaghaften Ausdeutungen der Neutralität allerdings nicht selbstverständlich bzw. in Bezug auf Großbritannien, Preußen und Österreich umstritten war. Hier interpretierte man das zunächst anders.

Im Ergebnis hast du recht, auch wegen der schlußendlichen Anerkennung des weiteren Festungsbaus als "innerbelgische" Angelegenheit. Das war zuvor Gegenstand heftiger diplomatischer Kontroversen, die Berlin als unentschieden wertete.
 
Das ist auch die hartnäckig (s.u.) vorgetragene belgische Interpretation, ...
Kann ein Eingriff vorliegen, wenn der Betroffene hierzu sein Einverständnis erteilt hat? Wohl kaum. Mir scheint das eine Frage der Logik zu sein.

Der Festungsvertrag ist auch in Zusammenhang mit den späteren Gesprächen belgischer und englischer Militärs über eine eventuelle Zusammenarbeit bei einem deutschen Angriff auf Belgien interessant. Hier behaupten deutsche Apologeten, dass allein schon diese Gespräche einen Bruch der belgischen Neutralität dargestellt hätten, da die Belgier nicht auch mit den Deutschen solche Gespräche geführt hätten. Hierzu könnte man einiges schreiben. Aber wie irrwitzig das Argument letztlich ist, zeigt sich auch darin, dass das Deutsche Reich für den Fall eines französischen Angriffs auf Belgien diesen Festungsvertrag in der Tasche hatte.:rolleyes:
Im Ergebnis hast du recht, auch wegen der schlußendlichen Anerkennung des weiteren Festungsbaus als "innerbelgische" Angelegenheit. Das war zuvor Gegenstand heftiger diplomatischer Kontroversen, die Berlin als unentschieden wertete.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Vlissingen-Affäre (1911). In dieser Affäre ging es um den Ausbau von Festungen an der Schelde, insb. der Scheldemündung (Vlissingen). Auch hier kochte in gewissen deutschen Kreisen die Stimmung wegen des angeblichen belgischen Neutralitätsverstosses hoch. Solange die belgischen Festungsbauten der Abwehr der Franzosen dienten, wurden diese Bauten begrüßt. Aber wehe, wenn diese Bauten den strategischen Planungen deutscher Militärs, insb. in Zusammenhang mit dem Schlieffenplan, im Weg standen, dann wurde lauthals beklagt, dass die Belgier mit diesen Bauten ihre Neutralitätspflichten verletzen würden. Dabei waren die Belgier aufgrund ihrer Neutralität verpflichtet, sich sowohl bei einem französischen Angriff als auch einem deutschen Angriff zu verteidigen (bewaffnete Neutralität).
 
Kann ein Eingriff vorliegen, wenn der Betroffene hierzu sein Einverständnis erteilt hat? Wohl kaum. Mir scheint das eine Frage der Logik zu sein.

Das ist die Logik von heute, eine ex post-Sicht. Der Wortlaut ist natürlich klar, unklar waren die Interpretationen, und da hatten sich wohl alle Unterschiedliches gedacht, oder wieso sollte hierüber rumdiskutiert worden sein? (von den Festungen, den möglichen Fällen, bis hin zur Verfügbarkeit der belgischen Häfen für England, was sich auch nicht auf den ersten Blick mit Souveränität und Neutralität verträgt).

Vesetzt Dich 160 Jahre zurück, denk Dir die Einstellung der europäischen Monarchen, die Anfangsphase, in der überhaupt darüber nachgedacht wurde, was "Neutralisation" von Staaten inhaltlich bedeutet. Dazu das Blockadesystem von 1815/1818, die Denkweise der Monarchen etc., die hier den Vertrag abgeschlossen haben und für die - wieder logischerweise - der Neutralitätsvertrag in diese bestehenden Rahmenbedingungen eingebunden sein sollte.

Klar war da gar nichts, außer belgisches Pochen auf Souveränität. Das sich dem Engländer und Preußen widersetzt haben, die ihre (angenommenen) Rechte beeinträchtigt sahen (1835-1837), erscheint mir recht plausibel. Die schlußendliche Beilegung und Akzeptanz dieser Interpretationsfragen ist dann auch ein Ergebnis der politischen Entwicklungen.

Beim Lesen ist mir jetzt jedenfalls klargeworden, wie verwickelt die Frage tatsächlich war.


Ebenso richtig ist, dass die Neutralität später (jedenfalls nach 1871, und vor 1914) nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt worden ist.
 
Das ist die Logik von heute, eine ex post-Sicht.
Von wegen! Schon im römischen Recht lag bei Zustimmung des Betroffenen keine Rechtsverletzung vor. Das ist ganz alte Logik.
sielsia schrieb:
Klar war da gar nichts, außer belgisches Pochen auf Souveränität. Das sich dem Engländer und Preußen widersetzt haben, die ihre (angenommenen) Rechte beeinträchtigt sahen (1835-1837), erscheint mir recht plausibel. Die schlußendliche Beilegung und Akzeptanz dieser Interpretationsfragen ist dann auch ein Ergebnis der politischen Entwicklungen.
Mit dem Garantievertrag (1839) wurde das aber sehr wohl klar. Belgien wurde als Staat anerkannt. Staaten sind souverän und waren dies auch nach damaliger Vorstellung. Einzige Einschränkung für Belgien: "immerwährende Neutralität".
silesia schrieb:
Beim Lesen ist mir jetzt jedenfalls klargeworden, wie verwickelt die Frage tatsächlich war.
Das belgische Problem war bis 1839 ein Pulverfaß, das jederzeit explodieren konnte. Aber mit der Garantieerklärung wurde das Problem entschärft. Man muss bei der Beschreibung der Probleme deutlich unterschieden zwischen vor und nach 1839. Nach 1839 gab es in Bezug auf Belgien klare rechtliche Grundlagen.
 
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