Ich bin der Ansicht, dass 1945 auch das deutsche Volk befreit wurde. Befreit vom Nationalsozialismus mit dem es sich viel zu intim gemein gemacht hat und von dem es unfähig war, sich selbst zu befreien.
Nordhessen ist recht glimpflich davongekommen. Seine Metropolis Kassel war Oktober 1943 dem Erdboden gleichgemacht worden, und auch kleinere Orte haben etwas auf den Hut bekommen, aber die meisten Städte standen noch, und die Amerikaner zeigten sich als faire Sieger. Es kam nicht zu massenhaften Vergewaltigungen oder zu all den Grausamkeiten, die den Vormarsch der Roten Armee schon in Ungarn und Rumänien begleitet haben.
Frauen, Kinder und Fahrräder waren sicher vor den Amerikanern.
Es endeten endlich die Luftangriffe, es waren keine Sirenen mehr zu hören. Der Krieg ging endlich vorüber, es endete die Angst um Familienangehörige, um Ehemänner, Brüder und Väter.
Es musste nicht mehr verdunkelt werden, es mussten nicht mehr die Türen abgesperrt werden, wenn man sich eine Sendung der BBC oder von Radio Luxemburg anhörte. Es endete die Angst, zum Tode verurteilt zu werden, weil man eine Sau geschlachtet, einen Witz weitererzählt oder Zweifel am Endsieg geäußert hatte.
Vereinzelt kamen auch die ersten Männer aus dem Krieg zurück, viele hatten Abenteuer homerischen Ausmaßes erlebt und mancher hatte sich unter abenteuerlichen Bedingungen durchgeschlagen.
Es endete der Terror! Es wurden die Konzentrationslager und Gefangenenlager befreit. Es ging das Morden zu Ende, es ging die Zeit der Angst, der Paranoia zu Ende. Es endete die Sorge, von Nachbarn und Mitbürgern denunziert zu werden. Es endete die Zeit der verbotenen Bücher, der entarteten Kunst, des staatlich verordneten Kulturbanausentums. All die Grimmes, und Beumelburgs, und Flex verschwanden mit Mein Kampf und dem Mythus des 20. Jahrhunderts da wo sie hingehörten: in den Keller oder Speicher, wohin auch die Führerbilder und -Büsten verschwanden.
Es endete die Zeit der Angst: Angst vor Fliegerangriffen, Angst vor Blockwarten, Angst vor dem Briefträger, der schwarzumrandete Briefe zustellte, in denen den Hinterbliebenen mitgeteilt wurde, dass der Mann oder Bruder für Großdeutschland gefallen ist, oder auch Briefe, in denen mitgeteilt wurde, dass Israel Soundso oder Sarah Soundso an Herzversagen im Osten oder im Schwarzwald verstorben ist und der Hinterbliebene soundsoviel für dessen Entsorgung bezahlen muss.
Es endete die Zeit des Misstrauens, dass Klima der Angst und Denunziation.
Es waren viele der alten Nachbarn verschwunden, es waren vor allem die Juden verschwunden, es kamen aber neue Nachbarn. Aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern oder auch aus Siebenbürgen und der Bukowina.
Wie es weitergeht und wie es weitergehen soll, dass war häufig völlig unklar, dass es aber weitergeht und weitergehen muss- dass war doch allgemeine Überzeugung.