Bevor es zu spät ist. Begegnungen mit der Kriegsgeneration

ursi

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An Darstellungen großer Katastrophen und Verbrechen des NS-Regimes und des 2. Weltkrieges fehlt es nicht, wohl aber an intensiverer Kenntnis davon, wie Menschen ohne exponierte Funktion die Hitlerzeit erlebt haben.
Spätere Generationen lebten und leben oft in dem Irrtum, die Älteren hätten damals wissen müssen (oder können), was die Nachgeborenen (schon) von Anfang an wussten. Wer aber keine Chance bekommt oder nicht bereit ist, sich in die Situation eines anderen Menschen hinein zu versetzen, wird ihn schwerlich begreifen.
Diese Chance bietet Bruni Adler in zwanzig Begegnungen mit Zeitzeugen. Sie macht durch diese Zwiesprache mit der Kriegsgeneration eine zum Glück fremd gewordene Welt begreifbarer und verständlicher – und nur aus Begriffenem kann man etwas lernen.
"Wer allein Schuldige sucht, riskiert, nichts zu verstehen".
Manfred Rommel

Bruni Adler • Bevor es zu spät ist. Begegnungen mit der Kriegsgeneration • Klöpfer und Meyer • 2004 • 519 Seiten

Artikel von shoa.de schrieb:
Eine Woche nach diesem schockierenden Erlebnis kam mein Gerätewart, Obergefeiter Franz Schiesser, ein Bayer, aufgeregt in meine Schreibstube, fluchte und schimpfte: So eine Sauerei! – Was für eine Sauerei, wollte ich wissen. – Do derschiessens do oben in der Nähe vom Bahnhof fast jeden Tag haufeweis Juden. Dös musst Dir aschaun! Grauenhaft!

Ich wollte ihm nicht glauben. Also holte er mich zwei Tage später ab. Ich erinnere mich noch genau an den freien Platz – der Bahndamm auf einer Seite. Dort befanden sich viele Menschen – Zivilisten, SS-Männer, ukrainische Milizsoldaten in grauen Uniformen und oben auf dem Damm österreichische Eisenbahner. An einem Kleiderhaufen stritten sich ukrainische Frauen um die Klamotten der Juden. Bei vielen Ukrainern waren die Juden verhasst.

In der Mitte des Platzes war eine ca. zwei Meter breite und fünf Meter lange Grube. Die jüdischen Männer mussten sich bis auf die Hose ausziehen. Eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Mann wurde vor meinen Augen an den Grubenrand geführt. An der Grube mussten sie niederknien, erhielten von den SS-lern einen Genickschuss und fielen hinein. Zeigte ein Erschossener noch ein Lebenszeichen, schoss ein SS-ler noch mal auf ihn.

Keiner der Opfer wehrte sich. Sie schimpften nicht und fluchten nicht. Sie gingen wortlos zur Grube, knieten nieder und empfingen ihren Todesschuss. …Mir graute, als ich in dieser Grube die vielen erschossenen Juden übereinander liegen sah. Es war mir unbegreiflich. Ich verfluchte in meinem Innern Hitler und den Krieg … und erzählte meinem Schreiber, Franz Lütterst …von den grausamen Judenerschießungen.

Das gibt es nicht! Ein deutscher Soldat erschießt doch keinen Juden, empörte er sich. Er habe im 1. Weltkrieg mit Juden gekämpft, die für ihre Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet wurden. Er konnte sich nicht beruhigen. Das kann nicht wahr sein! rief er immer und immer wieder. – Franz, es ist leider wahr, entgegnete ich. Schau es Dir an, damit du es glaubst.

Ein paar Tage später ging er mit Schiesser hin. Als er nach ein paar Stunden wiederkam, war er ein anderer Mensch. Er spaßte nicht mehr, lächelte nicht mehr, war nur noch ernst und verschlossen, stierte, unverständliche Worte murmelnd, vor sich hin und machte bei seiner Arbeit Fehler über Fehler. Als er sich nach drei oder vier Wochen wieder etwas gefangen zu haben schien, erzählte er mir, dass alles genau so war, wie ich es ihm beschrieben hatte. ..Mir blieb mir nichts anderes übrig als zu gehen. Solch furchtbare Gräuel, sagte er erschüttert, rächen sich.“

„Handelte es sich bei den Mördern um Mitglieder des SD, um Polizeieinheiten oder um Waffen-SS?“, bitte ich Max zu erläutern.

„Waffen-SS.“ Max ist sich sicher.



„Wenn man Ihnen befohlen hätte, Juden zu erschießen, was hätten Sie getan?“

Max überlegt keine Sekunde. Diese Frage scheint er sich selbst oft gestellt zu haben. “Ich hätt’ keinen erschossen.“

„Wären Sie bei Befehlsverweigerung nicht selber erschossen worden?“



„Wer sich geweigert hat, Juden zu erschießen wurde schlimmstenfalls degradiert! Ich hätte keinen erschossen“, sagt er mit einer Festigkeit, die mich an seinen Worten nicht zweifeln lässt. Nach einer seltenen Erzählpause fährt er philosophierend fort: „Die Menschheit ist ein erbarmungswürdiger Sauhaufen. Immer wieder, in den letzten 2000 Jahren und davor, wurden Menschen zu Bestien. Das ist heute nicht anders und wird auch in Zukunft nicht anders sein. Auch heute würden sich Menschen unter den entsprechenden Umständen gegenseitig abschlachten. Und immer werden vor allem die armen Schweine erwischt.“

Autorin: Bruni Adler
 

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