Beweisbarkeit vergangener Ereignisse

probieren wir es doch umgekehrt:
irgendwer wird von der Missidee geritten, dass alles nur Täuschung sei (ja, klingt nach Descartes, aber unser irgendwer ist nicht so schlau wie Descartes, sondern wählt einen anderen Weg) und begibt sich, da ja nichts wirklich da ist sondern alles Täuschung ist, mit einer Axt ins Rathaus und enthauptet da den Bürgermeister. Prompt kommt die Polizei, das Gericht, und schwupps sitzt unser irgendjemend lebenslänglich in Sicherheitsverwahrung. Das ficht ihn, den Denker, nicht an, im Gegenteil, ihn amüsieren die vielen Täuschungen und Vorgaukelungen. Nach ein paar Tagen beschließt er, mal wieder in seine Lieblingspizzeria zu gehen -
... wenn alles Täuschung ist, kann es auch keine reale Lieblingspizzeria geben ...
:grübel:
 
Bewiesen ist etwas erst, wenn aus logischen Gründen nur noch ein Schluss möglich, d.h. bei allen anderen Alternativen würde man sich in Widersprüche verstricken.

Diese Definition greift aber nicht. Denn es kann durchaus vorkommen, dass neue Quellen gefunden werden. Dies geschah zum Beispiel nach 1990 als die DDR Archive aufgingen und man die Verhörprotokolle der Geschwister Scholl fand. Diese galten bis dahin als verschollen. Es gibt da noch viele andere Beispiele.

Ich finde die Definition von Akrasia gar nicht so schlecht, wenn man die Prämisse definiert, was ein Beweis ist. Jede Deutung der Geschichte ist zeitgebunden und veränderlich, ich will nicht sagen, vorläufig, weil sich damit die Vorstellung verbindet, daß jede neue Erkenntnis automatisch richtiger ist als die vorhergehende. Es ging ja in der Frage aber um das Ereignis. Nimmt das Beispiel der Geschwister Scholl, so stand ja das Ereignis ihrer Verhaftung nicht in Frage, wurde also durch das Auffinden der Protokolle nicht generell verändert.

Ich denke aber vor allem, daß es bei dieser Frage um ein strukturelles Problem geht, welches man nicht nur durch die gut belegte deutsche Geschichte des 20. Jhs. klären kann. Nehmen wir doch (was fällt mir da ganz spontan ein?) die Antike. Was tun, wenn wir zwar Quellen über Athen und Rom haben, aber viele Städte daneben, über die kein Wort verloren wurde. Hier würde man genau so vorgehen, daß man aus dem, was man aus historischen, epigraphischen, numismatischen und archäologischen Quellen hat, Hypothesen erstellt und diese dann mit dem abgleicht, was man sonst so weiß aus Zeit und Raum, nach Widersprüchen sucht und so Wahrscheinlichen aufbaut. Das gewonnene Bild muß dann als These solange halten, bis eine neue Quelle die Modifikation der These erfordert. Allerdings ist es zumeist so, daß ein Ereignis, für dessen Annahme es gute Gründe gibt, nicht einfach so negiert wird.


zwar ist (1) etwas schwerer fassbar, aber das Puzzle (2) enthält eben neben vielen nur schriftlichen (die könnten ja erfunden sein) nun mal auch einige ganz irdisch reale unzweifelhafte Mosaiksteinchen (@Scorpio hat das wunderschöne Beispiel Pompeij / Herculaneum erwähnt) - sokann man sich, wenn man ein ganz skeptischer Hardliner ist, von Realitätsinsel zu Realitätsinsel im Meer der Überlieferungen hangeln und bekommt dabei ein recht übersichtliches Bild der realen vergangenen Geschehnisse. Und da nichts einfach so isoliert herumliegt (im Bild gesprochen: die Inseln schwimmen nicht) fügt sich noch viel mehr an Details hinzu.

Nicht immer. In der griechischen und römischen Geschichte gibt es einiges, das nur einmal überliefert ist, und da sind noch sehr gut informiert. Prinzipiell gilt, daß ein überliefertes Ereignis solange als geschehen betrachtet wird, solange nichts dagegen spricht. Und im Falle widersprüchlicher Quellen greift die von Ursi dargelegte Quellenkritik.
 
Definitionsversuch:

Bewiesen ist etwas erst, wenn aus logischen Gründen nur noch ein Schluss möglich, d.h. bei allen anderen Alternativen würde man sich in Widersprüche verstricken.


Das ist aber gerade das Problem bei Geschichtsrevisionisten oder auch Forentrollen, die sich in eine wilde Spekulation verrannt haben, dass jede Logik ausgeschaltet ist und dass nur "Beweise" akzeptiert werden, die der eigenen "Weltanschauung" entspricht.
 
Jede Deutung der Geschichte ist zeitgebunden und veränderlich, ich will nicht sagen, vorläufig, weil sich damit die Vorstellung verbindet, daß jede neue Erkenntnis automatisch richtiger ist als die vorhergehende.

Sie ist zeit- und schichtgebunden, zumindest ist das eine der zentralen Thesen von Mannheim und sie kann als eine der Fundierungen der modernen Wissenssoziologie angesehen werden. Siet man mal von de Klassiker ab, dass das Sein das Bewußtsein beeinflussen würde.

Im Gegensatz zu den Naturwissesnchaften ist der Prozess der Reinterpretation von Wissen über die Abfolge von unterschiedlichen Generationen auch zwingend notwendig, um den veränderten Bedingungen der sozialen Realität angemessen zu sein.

Der Satz 2+2 = 4 verändert sich über die Zeiten nicht, während die Interpretation des Begriffs der "Freiheit", ein Beispiel von Mannheim, einer massiven veränderten Deutung durch unterschiedliche Gruppen unterliegt.

Ideologie und Utopie - Karl Mannheim - Google Books

und zur historischen Einordnung und Einschätzung der Wissenssolziologie von Mannheim:

Karl Mannheim und die Krise des Historismus: Historismus als ... - Reinhard Laube - Google Books

Die Positionen wurden u.a. von Gurevitch deutschlich differenziert ausformuliert. Er unterscheidet dabei unterschiedliche gesellschaftliche Bereiche, in denen interaktiv eine Wissenproduktion vorgenommen wird, im Mannheimschen Sinne.

The social frameworks of knowledge - Georges Gurvitch - Google Books
 
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