@zaphodB:
(ich gehe hier nur auf deinen älteren Artikel ein)
Nun Mystizismus hat mit der realen christlichen Mystik des Mittelalters genauso wenig gemein wie mit den realen altorientalischen Mysterienkulten.
Als Mystizismus bezeichne ich eine Gegenströmung zum aufgeklärten Rationalismus voltairscher und kantscher Prägung, die sich im 18/19.Jahrhundert etablierte .
Kennzeichen dieser Strömung war die Schaffung von künstlichen Mysterien und Traditionslinien im Wege historischer Fiktion.,die sich einerseits an die christliche Mystik des Mittelalters und andererseits an die (vermeintliche) Mystik alter vorderorientalischer Kulte und Kulturen anlehnte und dies durch entsprechende Rituale auch manifestierte um eine Art Ersatzreligionen zu schaffen.
+ "Mystik" erscheint bei dir in zwei speziellen Kontexten: einerseits als "reale christliche Mystik", andererseits als "(vermeintliche) Mystik alter vorderorientalischer Kulte". Damit weiß ich weder, was du unter "Mystik" verstehst (die ein globales Phänomen quer durch die Jahrtausende bis zum heutigen Tag ist), noch, wieso die christliche Mystik eine "reale" ist, noch, wieso die Mystik der orientalischen Kulte nur eine "vermeintliche" ist.
+ "Mystizismus" erscheint bei dir als "Schaffung von künstlichen Mysterien und Traditionslinien im Wege historischer Fiktion". Ich frage mich, ob der Begriff "Mystizismus" hier sinnvoll ist und nicht besser durch "Mythizismus" ersetzt werden sollte. "Mythizismus" könnte bedeuten, dass sich etwas zwecks der eigenen Aufwertung mit Legenden und exotischen Ritualen schmückt. Dass, wie du behauptest, bei den Freimaurern des 18./19. Jh. eine Tendenz zum "Mystizismus" vorliegt, müsstest du belegen, indem du (deinen eigenen Verständnis des Mystizismus-Begriffs entsprechend) nachweist, dass ihr Konzept mit echter Mystik nichts zu tun hat. Unklar bleibt auch deine Behauptung, die von jenen Freimaurern kopierten historischen Originale (die "vorderorientalischen Kulte") seien nur "vermeintlich" mystisch, womit du vermutlich meinst, dass diese Kulte von den Freimaurern als "mystisch" missverstanden wurden. Da sehe ich ein logisches Problem: Wenn die Freimaurer das Mystische in die alten Kulte hineinprojizierten, dann müssen sie doch einen Begriff und ein Verständnis vom echten Mystischen gehabt haben. Warum also verfehlen sie - deiner Ansicht nach - das Mystische in ihrem eigenen Konzept? Ich meine: Wer das Mystische erkannt hat und versteht, der kann es gar nicht verfehlen, jedenfalls nicht in einem Maße, dass es vollständig zum "Mystizistischen" (was immer das auch sein mag) degeneriert.
Eine perfekte Definition von "Mystik" ist leider nicht möglich, da jeder Definitionsversuch neue Fragen aufwirft. Es gibt z.B. die Definition, Mystik sei "das Verschmelzen des Ich mit dem Wesen Gottes". Das versteht nur, wer das Mystische wirklich kennt. Problematisch hierbei sind nämlich die Begriffe "Wesen" und (vor allem) "Gott". Wer das Mystische nicht kennt, projiziert eine Menge in diese Definition hinein, was gar nicht hineingehört. Die Mystik kennt den personalen Gottesbegriff nicht, da das mystische "Göttliche" nichts ist, was einem Ich als Person mit eigenem Willen gegenübersteht, wie es für die Götter des Polytheismus und des Monotheismus so typisch ist. Mystisch gesehen gibt es keine Grenze zwischen Subjekt und einem anderen Subjekt bzw. Objekt, womit jede Basis für einen personalen Gott wegfällt.
Eine einfache Definiton bietet der Pan(-en)-theismus. Der Pan-theismus sagt: "Gott" ist in Allem. Der Pan-en-theismus sagt: "Gott" transzendiert die Welt und ist ihr zugleich vollständig immanent (er ist in Allem). Nimmt man "Gott" hier als das "Göttliche", also als eine apersonale schöpferische und vitalisierende Kraft, die in allem Seienden enthalten ist, dann hat man in etwa den mystischen Standpunkt.
Gibt es diese Auffassung, in welcher Begrifflichkeit auch immer, in den ägyptischen Mysterienkulten? Es sieht so aus. Ab Mitte des 2. Jt. entwickelte sich in Ägypten die Auffassung vom "Unsichtbaren Gott", der die Welt und die Götter sowohl transzendiert als ihnen als einzig wirkende Macht auch immanent ist. Das entspricht nicht unbedingt dem pan-en-theistischen, aber doch dem pan-theistischen Standpunkt (das Göttliche ist in Allem). In der ägyptischen Tempelinschrift "Der große geheime Hymnus auf Amun-Re, gesprochen von den acht Urgöttern", entstanden in der Perserzeit, heißt es:
Sei gegrüßt, du Einer, der sich zu Millionen machte,
der sich in Raum und Zeit ausdehnt ohne Grenzen,
gerüstete Macht, die von selbst entstand,
Uräusschlange mit gewaltiger Flamme,
der Zauberreiche mit geheimer Gestalt,
der geheime Ba, dem Ehrfurcht erwiesen wird.
In einem anderen Hymnus im gleichen Tempel heißt es:
Kein Gott kennt seine wahre Gestalt,
sein Bild wird nicht entfaltet in den Schriftrollen,
man lehrt nicht über ihn.
Er ist zu geheimnisvoll, um seine Hoheit zu enthüllen,
zu stark, um ihn zu erkennen.
Die oberen Verse deuten auf eine Gottheit im apersonalen und pantheistischen Sinn der Mystik, die unteren auf einen esoterischen Gottesbegriff (im Unterschied zur exoterischen polytheistischen Volks- und Staatsreligion). Jan Assmann spricht von der "religio duplex" und meint damit das Splitting des religiösen Denkens in eine volksnahe mythologisierende "exoterische" Religion und in mystisch orientierte "esoterische" Kulte für die Eingeweihten. Erstere fand in Ägypten an der Oberfläche statt (also oberhalb des Erdbodens), letztere in unterirdischen Anlagen, vor allem in den Pyramiden. Im doppelten Sinne sind die jeweiligen Praktiken und Denkformen also "oberflächlich" und "tiefgründig".
Eine überlieferte Inschrift in Sais gibt eine Aretalogie (Selbstaussage) der Göttin Isis wieder:
Ich bin alles, was war, was ist und was sein wird.
Das ist Pantheismus pur und, wenn man Isis als Symbol und nicht als reale Göttin nimmt, auch mystisch. Die freimaurerischen und pantheistischen Kreise des späten 18. Jhs., z.B. Schiller und Goethe (Freimaurer und angeblich auch Illuminat), waren von dieser Inschrift begeistert, bei Beethoven stand sie sogar in allerdings vereinfachter Form eingerahmt auf dem Schreibtisch.
Folgende Beschreibung der Initiation eines ägyptischen Adepten wird Plutarch zugeschrieben:
Hier ist die Seele ohne Erkenntnis außer wenn sie dem Tode nah ist. Dann aber macht sie eine Erfahrung, wie sie jene durchmachen, die sich der Einweihung in die Großen Mysterien unterziehen. Daher sind auch das Wort „sterben" ebenso wie der Vorgang, den es ausdrückt, und das Wort „eingeweiht werden" ebenso wie damit bezeichnete Handlung einander gleich. Die erste Stufe ist nur mühevolles Umherirren, Verwirrung, angstvolles Laufen durch die Finsternis ohne Ziel. Dann, vor dem Ende, ist man von jeder Art von Schrecken erfaßt, und alles ist Schaudern, Zittern, Schweiß und Angst. Zuletzt aber grüßt ein wunderbares göttliches Licht und man wird in reine Gefilde und blühende Wiesen aufgenommen, wo Stimmen erklingen und man Tänze erblickt, wo man feierlich-heilige Gesänge hört und göttliche Erscheinungen erblickt. Unter solchen Klängen und Erscheinungen wird man dann, endlich vollkommen und vollständig eingeweiht, frei und wandelt ohne Fesseln mit Blumen bekränzt, um die heiligen Riten zu feiern im Kreise der heiliger und reiner Menschen.
Der äußerliche Kontext dieser Erfahrung konnte z.B. so aussehen, dass der Adept - nach jahrelangen Vorbereitungen - von Priestern in eine unterirdische Krypta geführt wurde, wo er sich in einen Sarg legen musste, um darin für einige Stunden in völliger Finsternis zu verbleiben. Dabei verfiel der Adept in einen visionären Zustand, von dessen Erfahrung (siehe oben) er nachher den Priestern zu berichten hatte. Das erinnert an die "Samadhi-Tanks" von John Lilly in den 70ern, in welchen die Probanden, abgeschottet von allen sinnlichen Wahrnehmungen incl. Schwerkraft und Körpergefühl, zu halluzinieren begannen (ich kenne eine Journalistin, die das für den "Cosmopolitan" mit Erfolg getestet hat).
Es ist aber unwahrscheinlich, dass sich die Priester allein auf die stundenlange Dunkelheit verließen, um den gewünschten Effekt zu erreichen, daher werden sie, ähnlich wie das in den späteren, durch die Ägypter inspirierten Mysterien von Eleusis geschah, den Probanden erkenntnisfördernde Drogen verabreicht haben, deren Wirkung in der außerordentlichen Situation des Eingesperrtseins in einen finsteren Sarg gewiss gewaltig war. Plutarchs Schilderung ist allerdings nicht dahingehend zu verstehen, als seien die geschauten "Tänze" und gehörten "Gesänge" usw. wesentlich für das mystische Erlebnis. Entscheidend ist vielmehr der Übergang vom Sterben zum neuen und höheren Leben im "wunderbaren göttlichen Licht".
Soviel für den Moment zur Frage, ob und inwieweit die alten Mysterien nur "vermeintlich" mystisch waren. Ich denke, sie waren es wirklich und nicht nur vermeintlich. Dass das mystische Denken sich auch in jenen geistig hochentwickelten Kreisen - zeitbedingt - mit magischem Denken vermischte (wie später auch in der Freimaurerei), ist natürlich unstrittig. Dennoch lassen sich diese Sphären bei genauem Hinsehen problemlos trennen.
Ob die Freimaurer mit dem mystischen Idealen (inwieweit sie das Mystische praktisch realisierten, sei dahingestellt) dem Ideal der Aufklärung widersprachen, ist eine Frage der Definition der Aufklärung. Nimmt man sie als Protest- und Gegenbewegung gegen die Dogmatik und Mythologie des Christentums, dann sehe ich keinen Grund, den mystischen Aspekt als anti-aufklärerisch zu bezeichnen, da Mystik mit dem dogmatischen Christentum und seiner personalen Gottesvorstellung unvereinbar ist. Das späte 18. und frühe 19. Jh. stand im Zeichen einer Sehnsucht nach dem Mystischen, das zeigt auch die Einstellung von christentumkritischen, aber pantheistisch orientierten Geistern wie Goethe, Schiller, Beethoven, Schelling usw. mehr als deutlich. Mit flachen materialistischen Konzepten à la Holbach und Comte war es für sie nicht getan.
Das, was du "reale christliche Mystik" nennst, halte ich für ein Zwitterwesen ohne Lebenskraft. Das genuin Christliche ist un-mystisch, seine Gottesidee ist der mystischen Idee um 180 Grad entgegengesetzt. Im NT gibt es keine Mystik, nicht mal für einen Cent. Dass einige Mystiker des 2. Jt. uZ als "christliche Mystiker" bezeichnet werden, hat seinen Grund allein darin, dass sie nicht anders konnten als ihre Einsichten christlich zu formulieren. Andernfalls hätte ihn der Scheiterhaufen o.ä. gedroht. Meister Eckhard z.B. verstarb auf ungeklärte Weise kurz vor dem Ketzerprozess, den die Kirche gegen ihn angestrengt hatte.