Der Stalinkult - was trieb die Menschen dazu?

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Die Kollektivierung und die (Schwer-)Industrialisierung kann man fast als zwei Seiten einer Medaille begreifen, läßt man ideologische Ansätze außen vor.

Voraussetzung für die Gigantomanie und die Schwerindustrialisierung waren Exporte, die nur über Landwirtschaft und Rohstoffe zu leisten waren. Um 1930 grassierte die Vorstellung vom Russendumping im übrigen Europa, die Einnahmen daraus stellten die Gegenfinanzierung für die industriellen Importe der SU dar, diese wiederum waren Voraussetzung für die Investitionen (Werkzeugmaschinen, Produktionsanlagen etc.)
so sahen es ja auch Teile der sowjetischen Führung.
Um die Industrialisierung durchzuführen -> Voraussetzung für den Sozialismus - mußte die Landwirtschaft in der Verfügungsgewalt der Staatsführung sein. Ohne Kollektivierung der Landwirtschaft hätten die Bauern ihre Erzeugnisse selbst verkaufen und höhere Gewinne erzielen können. So konnten diese von der Staatsführung abgeschöpft werden.

Zur Eingangsfrage.
Stalin wurde in Teilen des Volkes verehrt weil die sow. Propaganda Teile der sow. Geschichte und die Realität verzerrt darstellte. Wobei man diese "Verehrung" nicht zu hoch hängen sollte. Beim deutschen Angriff auf die SU gab es sehr große Anteile an Rotarmisten welche überliefen und sich freiwillig zum Kampf gegen Stalin und die SU bereit erklärten. Ebenso wurde die deutschen Verbände in vielen viele Dörfern und Städten herzlichst willkommen geheißen.

Da es auch, wie schon dargestellt, im Westen "Personenkulte" gab (aber nicht nur in autoritären sondern auch in demokratischen Staaten zb. "Kennedy") und gibt hat das nmA weniger mit "östlicher" Mentalität zu tun.
 
Lenin ist, so wurde es jedenfalls in den DDR-Schulbüchern berichtet, mit
H. G. Wells ? Wikipedia
persönlich zusammen getroffen.
Lenins Vision von der "Elektrifizierung des ganzen Landes" soll danach ausgerechet bei diesem SF-Klassiker als "unmöglich" angekommen sein.
 
In diesem Umfeld bildeten sich operative Ansätze, den Krieg unmittelbar auf das Territorium des Gegners zu tragen.

Richtig, das berührt im Kern die Diskussion zwischen Sveschin und Tukhaschewski, assistiert durch Schposchnikow, über die offensive bzw. defensive Kriegsführung.

Wobei die Kritik von T. an S. nicht lediglich auf der Koppelung von wirtschafspolitischen und militärischen Argumenten basierte, sondern auch sehr stark den ideologischen Überbau der offensiven Mission der Weltrevolution bemühte.

Unter dieser Voraussetzung galt die defensive Kriegsführung als defätistisch, weil sie die Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft bzw. Ideologie nicht angemessen berücksichtigt.

In der Folge wurde geradezu ein Bann über defensive Überlegungen gelegt. Diese Sichtweise galt absolut und uneingeschränkt für Stalin und den kompletten Generalstab - mindetsnes bis Herbst 1941) sowie die politische Verwaltung der Roten Armee.

Allerdings soll es ein Manuskript aus der Spätphase des Schaffens von T. geben, in dem er sich mit defensiven Überlegungen beschäftigt hat. Im Zuge der allgemeinen Säuberungen ist es wohl von den Putzfrauen mit entsorgt worden.
 
Im aktuellen Spiegel ist übrigens eine interessanter Artikel zu einem gewissen Neo-Stalinismus, der sich zurzeit in Russland entwickelt.
 
@mhorgran

"Um die Industrialisierung durchzuführen -> Voraussetzung für den Sozialismus - mußte die Landwirtschaft in der Verfügungsgewalt der Staatsführung sein. Ohne Kollektivierung der Landwirtschaft hätten die Bauern ihre Erzeugnisse selbst verkaufen und höhere Gewinne erzielen können. So konnten diese von der Staatsführung abgeschöpft werden."

M.W. gab es schon ein sog. "Abgabesoll", auch und insbesondere vor der Kollektivierung. Was Du beschreibst ist die sog. Theorie zur ursprünglichen Akkumulation des Sozialismus und insoweit vollkommen richtig, aus meiner Sicht.

@all

Totalitarismus und "Personenkult" gab es sowohl in der "östlichen" als auch in der "westlichen" Hemisphäre, das ist klar. Offensichtlich neigen totalitäre und autoritäre Staaten im Uz dazu, "Personenkult" auszubilden. Bleibt die Frage, welchen gemeinsamen Nenner haben Staaten im Uz für die Phänomene: Totalitarismus, Autokratismus => "Personenkult".

Meine These: "Paria-Staaten" (z.B. Deutschland nach dem I. WK), die frühe Sowjetunion (außenpolitische Isolation, innenpolitisch nicht gefestigt, wirtschaftlich in einer "Nachholeposition"), Italien (innenpolitisch in einer schwierigen Situation, wirtschaftlicher "Nachholebedarf", aber gleichzeitig außenpolitisch "Siegerstaat"), Spanien (schwierige innenpolitische Situation, wirtschaftlicher "Nachholebedarf), ähnliches gilt für Portugal, obwohl es dort nicht zur Ausprägung eines "Personenkultes" kam, dazu autoritäre resp. totalitäre Staatsstrukturen anzunehmen und diese dann in einer "Überspitzung" zum "Personenkult" hin zu entwickeln.

Was meint Ihr?


M.
 
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@thanepower

Uz = Untersuchungszeitraum, sorry, hätte ich als Abkürzung einführen müssen.

o.t.: Nicht der ist doof, der eine These nicht versteht, sondern der, der eine so formuliert, daß geneigte Mitdiskutanten diese nicht verstehen. :winke:


Vllt. besser formuliert. Wir haben im Uz, 1. Hälfte des 20. Jh., Staaten in denen sich totalitäre Strukturen herausbilden (Deutschland, Italien, Rußland) und einige Staaten bei denen es Unschärfen in der Definition zwischen totalitär und autoritär gibt (Spanien, Portugal event. auch die Türkei), als eine Erscheinungsform dieser Staatsstrukturen bildet sich ein "Personenkult" heraus, der allerdings nicht conditio sine qua non ist, sondern eine Folgeerscheinung. Alle diese Staaten haben im Uz einen "Paria-Status". Außer Deutschland haben diese Staaten einen "Modernisierungsstau" (vorher als "Nachholebedarf" bezeichnet). Deutschlands "Paria-Status" ist eine Folge des verlorenen I. WK, insoweit wäre Deutschland ein Sonderfall. Dieser "Modernisierungsstau" mischt sich mit einer Gemengelage von innen- und außenpolitischen Problemen.

Daher meine These zur Diskussion: Ist die Überwindung des "Paria-Status" und insbesondere die Überwindung bzw. Kompensation eines "Modernisierungsstaus" im Uz die Vorraussetzung der Herausbildung totalitärer resp. autoritärer Strukturen und damit auch, gleichsam als Folie für Erfolge resp. vermeintlicher Erfolge, des "Personenkults".

M.
 
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Ich gebe zu, ich kapituliere nahezu vor der Komplexität der Fragestellung.

Folgt man beispielsweise der Argumentation von Neumann, dann ist die Entwicklung zum totalitären System ein Anpassungsprozess an die Strukturkrise des Kapitalismus (leicht vereinfacht ;) formuliert).

Franz Neumann (Politologe) ? Wikipedia

Betrachtet man den kompletten Osten Europas und den Südosten, dann finden sich eine weitere Reihe von autoritären Militädiktaturen, die auch alle einen Modernisierungsstau hatten.

Vermutlich ein Merkmal, dass nahezu auf fast alle Länder Europas zutraf, vielleicht mit der Ausnahem von GB.

In dieser Übergangszeit konnten vermutlich nur zentralistisch geführte Staaten (Könige und quasie Militärdiktaturen) die starken separatistischen Tendenzen unter Kontrolle halten. Die zentrifugalen Kräfte hätten eine weitere Zersplitterung Europas bewirkt und zu weiteren unkontrollierten Konfliktherden geführt.

Unter dieser Prämisse gab es möglicherweise einen informellen Konsens zwischen den Staaten, dass die Anpassungsprozesse von Staaten, ihre Transformation von rückständigen Staatsgebilden zu modernen (kapitalistischen) Demokratien, im Sinne einer Reduzierung des Modernisierungsstaus, am ehesten durch eine zentralistische Führung zu leisten sind.

Dass der "Füherkult" dabei eine Rolle gespielt hat ergibt sich aus der häufig charismatischen Persönlichkeit aus dem Umfeld des Militärs.

Sie waren am ehesten geeignet, die Loyalität der Bevölkerung auf sich zu ziehen und damit dem Staatsgebilde die notwendige Legitimität zu verschaffen.

Es ist dabei schwer, Stalin, systematisch in diese Erklärung einzupassen.
Aber das Bemühen um seinen Personenkult ist sicherlich auch unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit von Loyalität zu betrachten.

Bis 41 dürfte er lediglich in Kreisen der KP über einen gewissen Unterstützerkreis verfügt haben. Nach 41 ist diese Unterstützung dann deutlich ausgeweitet worden (vgl auch den Link zum Spiegel-Artikel).
 
@Melchior
Nur um vielleicht mehr Klarheit zu haben.
In welcher Hinsicht meinst du "Nachholbedarf / Modernisierungsstau"?

"Neigen" Staaten dazu "Personenkult" auszubilden oder ist das Notwendig um die Machtverhältnisse zu stabilisieren.
Wer "neigt" in Staaten dazu und welche Rolle haben Medien in diesem "Spiel"? Wie werden sie kontrolliert.

Ich persönlich meine nicht das "Staaten" zu irgendetwas "neigen", stattdessen gibt es immer Interessengruppen welche eine bestimmte Politik durchsetzen wollen und vor allem - durchsetzen können. In diesem Fall ist "der Personenkult" ein Mittel um die Machtverhältnisse in die anvisierte Richtung lenken zu können.
 
@mhorgan

"In welcher Hinsicht meinst du "Nachholbedarf / Modernisierungsstau"?"

Ausschließlich in ökonomischer Hinsicht*, ob es drüber hinaus auch einen soziologischen "Modernisierungsstau" gab, darüber wage ich ohne intensivste Recherche nichts auszuführen.

""Neigen" Staaten dazu "Personenkult" auszubilden oder ist das Notwendig um die Machtverhältnisse zu stabilisieren."

Sorry, hier habe ich etwas unscharf formuliert.

Machtverhältnisse können auch jenseits eines "Personenkultes" stabilisiert werden, auch wenn diese Länder einen Modernisierungsstau aufweisen. Im Uz tritt das Phänomen des "Personenkultes" nur in Staaten auf, die totalitäre bzw. ausgeprägte autoritäre Strukturen haben bzw. sich in der Phase der Entstehung derartiger Strukturen befinden und die einen ökonomischen Modernisierungsstau* haben (weiter oben aufgeführt #50).

M.

* Zu Deutschlands Sonderrolle hierbei, vergl. weiter oben, da Deutschland im Uz selbstverständlich keinen ökonomischen Modernisierungsstau hatte.
 
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Mir fällt da jetzt politische Agitation ein. Wurde diese nicht in aggressiver Form in der Sowjetunion schon vor Stalin erfunden. Es gab ganze Eisenbahnzüge, die nur diesem Zweck dienten.
Es gab später sogar ein Riesenflugzeug (ANT 20, 1934, "Maxim Gorki", 44 Tonnen Abfluggewicht), das seinerzeit größte Landflugzeug der Welt, das mit Kinotechnik ausgestattet war, um auch in die entlegensten Gebiete der Sowjetunion zu gelangen, um dort Propagandafilme zu zeigte.
Hitler hatte Göbbels. Gab es da jemand in der Sowjetunion, der mit diesem Vergleichbar war (wenn auch eher im Hintergrund)? Persönlichkeiten sind mir da leider nicht bekannt.
 
Selbstverständlich ist die staatliche bzw. von einer "Einpartei" geführte Propaganda ein äußeres Merkmal totalitärer (ausgeprägt autoritärer) Staaten. Im Uz nutzte diese Propaganda die neuen Kommunikationsmittel Film und Rundfunk, um den Personenkult als Projektionsfläche zu etablieren. Kennzeichen einer solchen Propaganda im Uz waren durchaus Gigantonomie (technischer, architektonischer Art etc.), "Projektemacherei".

Diese gigantomanischen Projekten wurden in der Propaganda dem jeweiligen "Führer" als Inspirator und "Projekttreiber" zugeordnet und verschmolzen in der Rezeption mit der Person. Damit wurde wissentlich oder unwissentlich in der Propaganda der Erfolg oder vermeintliche Erfolg dieser gigantomanischen Projekten, die eine hohe nationale Ressourcenbindung bzw. Ressourcenbündelung bedeuteten, der Person des "Führers" zugeordnet. Diese Projektionsverschiebung läßt sich im Uz eventuell und ich stelle dieses ausdrücklich zur Diskussion, wie folgt in gebotener Kürze beschreiben:

Deutschland
Nation => deutsches Volk => (Partei) => Adolf Hitler

Russland
Nation* => Arbeiterklasse => Partei => J. Stalin

Italien
Nation => "Schwarzhemden" => (König, Staat) => B. Mussolini

* In Rußland die Besinnung auf die Nation erst mit dem deutschen Angriff auf die UdSSR => "Großer Vaterländische Krieg".

Als konstituierendes Element des "Personenkultes" sehe ich im Uz auch die Militarisierung und somit die Etablierung einer persönlichen "Gehorsamspflicht" gegenüber dem jeweiligen "Führer".


@Rurik

Einen "russischen" Goebbels gab es m.E. nicht, am nächsten wäre im Uz eventuell dieser gekommen ("Lokomotive der Revolution/Politbüros"):

Lasar Moissejewitsch Kaganowitsch ? Wikipedia


M.
 
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