Deutsche Kolonialgeschichte

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Hallo zusammen,

bei meiner Frage geht es um die "Vorgeschichte" des deutschen Kolonialreiches.
Sebastian Conrad betont weniger Pläne und Projekte einer deutschen Kolonialexpansion, sondern den weltpolitischen Kontext, den man beachten muss. Er nennt unter anderem die Reichseinigung von 1871, die Revolution der Infrastruktur, die weltwirtschaftliche Konkurrenz etc. Und außerdem "die im Zuge der Industrialisierung dramatisch gesteigerte Projektionsfähigkeit europäischer Macht".

Könnt ihr mir sagen, was unter dem zitierten Punkt zu verstehen ist?

Vielen Dank!

Tamara
 
Ich habe das Buch nicht gelesen, möchte aber anhand dieser Rezension von Silke Hensel mal mutmaßen...

Dort heißt es: "Nach einem Überblick über die bisherige Forschung und einer Reflektion über die zentrale Begrifflichkeit des Kolonialismus behandelt Conrad die Entwicklung des deutschen Kolonialreiches, wobei er sich erfreulicherweise nicht mit der Frage nach den Bismarckschen Motiven für einen Umschwung seiner Haltung zur kolonialen Expansion aufhält, sondern stattdessen auf Kontinuitäten verweist.(...) Ein Hauptinteresse deutscher Kolonialpolitiker und Kolonisten bestand in der wirtschaftlichen Ausbeutung der Kolonien. Conrad unterscheidet drei Modelle der kolonialen Ökonomien: In Kamerun entstand eine Plantagenökonomie, die auf Monokulturen für den Export setzte. Dafür waren tiefe Eingriffe in die vormaligen Besitzverhältnisse notwendig und es kam zur massenhaften Zwangsrekrutierung von Arbeitskräften. Eine andere Form der landwirtschaftlichen Großbetriebe stellten die Farmen der deutschen Siedler in Südwest-Afrika dar. Ein drittes Modell der wirtschaftlichen Ausbeutung setzte auf den Handel. Zwar konnten Einzelne Gewinne aus diesen Unternehmungen erzielen, insgesamt erfüllten sich die Hoffnungen auf große wirtschaftliche Vorteile für Deutschland jedoch nicht. "

Ich vermute, daß sich der Autor also stark mit den wirtschaftlichen Aspekten beschäftigt und diese in den Vordergrund seiner Arbeit stellt. Kurz gefasst: Die Kolonien als potentielles Absatzmarktventil und Rohstoffquellen. Im Zusammenhang mit deiner obigen Fragestellung geht es wohl darum, daß der Kampf um Kolonialraum eine Folge des wirtschaftlichen Kampfes um Einfluß und Marktmacht gewesen sein soll. Eine These, die zu diskutieren wäre. Seine Behauptung, daß zwar einzelne Personen/Firmen gut verdienten, der Staat aber viel Geld verlor, teile ich.

Im übrigen scheint der Autor sich an einige heiße Eisen heranzuwagen:

"Im letzten Drittel des Buches befasst Conrad sich mit den Rückwirkungen der kolonialen Expansion auf die deutsche Gesellschaft. (...)Weiterhin beleuchtet er jüngere Kontroversen im Hinblick auf die Bedeutung der Kolonialzeit für die weitere deutsche Geschichte. Es geht dabei einerseits um die Frage, inwieweit die deutsche Expansion gen Osten als Fortführung der kolonialen Überseeexpansion gesehen werden kann. Andererseits greift er die These vom Völkermord an den Herero als Vorgeschichte des Holocaust auf."
Ich wäre neugierig, was er dazu schreibt. Schließlich ist es schwer die Ostexpansion und Siedlung im Osten z.B. unter Heinrich dem Löwen (1129 - 1195) als Folge der deutschen Kolonialpolitik seit 1884 zu erklären. Das ist noch schwieriger, als den Völkermord an den Juden als Folge eines Kolonialkrieges 1904/05 zu erklären, was aber einige Historiker neuerdings tun...:fs:

PS: Der Autor scheint sich ganz allgemein stark damit zu beschäftigen, inweit schon die Industrialisierung Elemente der heute umstrittenen Globalisierung bewirkte. Siehe auch sein anderes Buch und den Klappentext:

Sebastian Conrad: Globalisierung und Nation im Deutschen Kaiserreich
 
Zuletzt bearbeitet:
Conrad nennt zwar auch wirtschaftspolitische Motive, stellt sie aber nicht besonders heraus. Und dass Firmen teilweise sehr erfolgreich in den Kolonien gewirtschaftet haben, ist ja nicht umstritten.

Mittlerweile denke ich, dass Projektionsfähigkeit europäischer Macht meint seine technische, wirtschaftliche und politische Größe/Macht/Überlegenheit nach außen tragen zu können...in dem Fall nach Übersee bzw. in fremde Länder.

Übrigens werden im Buch zahlreiche aktuelle Diskussionen aufgegriffen und kritisch beleuchtet, was das ganze auch so spannend macht. Bzgl. Ostexpansion und koloniale Herrschaft betont der Autor aber vor allem die Unterschiede..und nicht etwaige Parallelen.

Jedenfalls vielen Dank für deinen Beitrag! Die Rezensionen werd ich mir noch genauer ansehen!
 
Rezension von Silke Hensel ...

Im übrigen scheint der Autor sich an einige heiße Eisen heranzuwagen:

"Im letzten Drittel des Buches befasst Conrad sich mit den Rückwirkungen der kolonialen Expansion auf die deutsche Gesellschaft. (...)Weiterhin beleuchtet er jüngere Kontroversen im Hinblick auf die Bedeutung der Kolonialzeit für die weitere deutsche Geschichte. Es geht dabei einerseits um die Frage, inwieweit die deutsche Expansion gen Osten als Fortführung der kolonialen Überseeexpansion gesehen werden kann. Andererseits greift er die These vom Völkermord an den Herero als Vorgeschichte des Holocaust auf."
Ich wäre neugierig, was er dazu schreibt. Schließlich ist es schwer die Ostexpansion und Siedlung im Osten z.B. unter Heinrich dem Löwen (1129 - 1195) als Folge der deutschen Kolonialpolitik seit 1884 zu erklären.

Ich glaube, du hast das etwas missgedeutet: Nicht die Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts folgt nach Conrad aus der mittelalterlichen Ostsiedlung, sondern der nationalsozialistische Vernichtungskrieg folgt nach Conrad aus der Kolonialpolitik.
 
Ich glaube, du hast das etwas missgedeutet: Nicht die Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts folgt nach Conrad aus der mittelalterlichen Ostsiedlung, sondern der nationalsozialistische Vernichtungskrieg folgt nach Conrad aus der Kolonialpolitik.

Ah ja, verstehe. Stimmt wohl. Allerdings passt das in meinen Augen trotzdem nicht, da sich Himmler und Kollegen bei der Ostexpansion und Siedlungspolitik ausdrücklich auf die mittelalterliche Ostkolonisierung berufen haben (Heroisierung Heinrichs etc.) und nicht auf die Kolonialepoche der Kaiserzeit in Übersee.
 
Ich kenne das Buch zwar nicht, aber nach dem Hinweis geht es um die Kontinuität des Expansionsgedankens, nicht um einen möglichen gedanklichen Bruch durch "Wechsel der Richtung".

Ganz abgesehen von den Begründungen von Himmler&Co beim Raumplan Ost ist bereits bei Hitler in verschiedenen Reden und Schriften in den 1920ern immer wieder die explizite Abgrenzung zum Kaiserreich zu finden, soweit es die "falsche Richtung" der "Raumfrage" angeht. In diesem Gegensatz wird zugleich die Kontinuität der Expansionsfrage deutlich (wobei bei Hitler die Bevölkerungsfrage, Nahrungsmittel und die Rohstoffe im Vordergrund stehen - wie bei vielen zeitgenössischen Schriften 1890-1930, dagegen die Exportfrage aus dem Gesamtkonzept nachrangig behandelt werden).

Der andere Aspekt der Kontinuität sind die Ostziele der Heeresleitung und des Auswärtigen Amtes 1917/18, nur mit anderen Mitteln. Das hatten wir hier schon einmal unter dem Beispiel Ukraine diskutiert:
Borowsky, Peter: Deutsche Ukrainepolitik 1918 unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschaftsfragen, Historische Studien 1918
Liulevicius, Vejas Gabriel: Kriegsland im Osten - Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg
 
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