Hallo miteinander,
ich habe jetzt einige Zeit hier mitgelesen und kann mich weder auf die eine noch auf die andere Seite schlagen... :grübel:
Warum? Meiner Meinung nach habt Ihr in allen Euren Aussagen zugleich Recht und Unrecht :fs:
Im einzelnen: das Osmanische Reich hat durchaus sehr viele kulturelle und strukturelle Dinge des Byzantinischen Reiches übernommen, u.a. waren viele Großwesire slawischer oder griechischer Abstammung - sprich: sie übten ein Amt analog zu dem aus, welches sie auch im Byzantinischen Reich ausgeübt hätten. Unbegabt in Handel und Gewerbe überließen die Türken derartige Berufe (Händler, Seeleute, Verwaltungsgehilfen, Dolmetscher) Armeniern und Griechen, die also dort auch wie zuvor im Kaiserreich tätig waren.
Bis in die 2. Hälfte des 19. Jh. zeichnete sich das Osmanische Reich dementsprechend natürlich durch eine religiöse und ethnische Toleranz aus, die aber seitdem rapide abnahm und im Jahre 1915 einen ersten traurigen Höhepunkt erreichte (Stichwort: Armenier - Anm.: Bitte jetzt aber keine Diskussion darüber!!!).
Sichtbares Zeichen in kultureller Hinsicht ist natürlich die größte Moschee in Istanbul - eben die frühere griech.-orthodoxe Kathedrale Hagia Sophia von Konstantinopel.
Zum Rechtsanspruch der Sultane noch folgendes: natürlich führten sie den imperialen Titel weiter - ebenso wie übrigens auch den islamischen Khalifentitel samt damit verbundener Ämter und Privilegien. Suleiman II. nennt sich eben u.a. auch "Kaiser des Ostens und des Westens" (Quelle
E. Bradford "Der Schild Europas. Kampf der Malteserritter gegen die Türken 1565"). Aber ebenso wie die arabischen Muslime de facto nie den osmanischen Sultan als Khalifen anerkannten, so hat das christliche Europa auch nie selbigen als Kaiser anerkannt!
Das russische Zarenreich übernahm - wie in vorhergehenden Beiträgen richtig herausgearbeitet - das imperiale Erbe von Byzanz ("Drittes Rom"): autokrater Staatsaufbau, Dopeladler, Hofzeremoniell seien nochmals als Stichworte genannt. Als rechtlicher Erbanspruch konnte Ivan III. natürlich die Ehe mit der byzantinischen Prinzessin Zoe beste Dienste leisten - ebenso wie das Umfeld der Christianisierung der Slawen in Rußland, Weißrußland und der Ukraine (eben nach griech.-orthodoxer Tradition). Hier aber gibt es eine entscheidende historische Zäsur: im Jahre 1653 reformierte Patriarch
Nikon die orthodoxe Kirche des Zarenreiches, wodurch sich die russische von der griechischen Orthodoxie löste(mit Verfolgung der sog. "Altgläubigen")!
Es gibt hier für die Erbschaft auch noch ein viel elementareres Beispiel: die kyrillische Schrift wäre ohne die griechische undenkbar!
Religiös-kulturell erhebt Griechenland (in gewisser Weise verbunden mit und unterstützt durch Zypern) nicht ganz zu Unrecht "seine" Ansprüche: hier ist quasi das "Refugium" im Ethnischen (Volk des byzantinischen "Kernlandes"), Sprachlichen (byzantinische "Amtssprache") und Religiösen (die traditionelle und "unverfälschte" griechische Orthodoxie). Kleine persönliche Anmerkung: Griechen und greichische Zyprioten reagieren bis heute mitunter ziemlich sauer darauf, daß eine bestimmte große Stadt
Istanbul statt
Konstantinopel genannt wird
Zu den byzantinischen Erben im westlichen Europa wurde auch schon genügend geschrieben; für das HRR bzw. das spätere Deutschland sollte man nicht vergessen, daß die Höfische Kultur des Hochmittelalters ohne die Gemahlin Kaiser Ottos II.,
Theophanu, in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Die zweite wichtige historische Zäsur für das westliche Europa hinsichtlich byzantinischer Erbschaften ist weniger angenehm und mit dem Jahr 1204 verbunden: im Verlauf des 4. Kreuzzuges wird nämlich Byzanz nicht nur finanziell, sondern auch kulturell ausgeplündert, so daß ohne dieses eher traurige Ereignis auch viel weniger nach Eurpa gekommen wäre.
Vergessen wurde - und darüber bin ich fast etwas enttäuscht - allerdings das, was bezüglich der Heilkunde und Medizin von Byzanz nach Europa kam bzw. auf welchem Weg dies geschah. Das erste Johanniterhospital, auf welches später alle folgenden Hospitäler des Ordens aufbauten, war nach dem Vorbild des
Pankratorhospitals von Konstantinopel errichtet worden. Letztlich ist damit die heutige Medizin der westlichen Welt ebenso Erbe von Byzanz!
Noch eine kurze Anmerkung zum ebenso erwähnten Balkanraum: auch die Kultur dieser Staaten wäre - ähnlich wie im Falle Rußland - ohne "griechischen" Einfluß (i.S.v. Byzanz) - in dieser Form nicht existent. Und einige slawische Balkanstaaten haben ja ebenso wie das Russische eine kyrillische Schrift, deren bezug ich bereits oben angesprochen habe.
Im Zuge des Vordringens der Türken löst sich aber auch hier die lokale Orthodoxie vom griechischen Patriarchat (1219 Serbien, 1235 Bulgarien), was unbedingt mit zu beachten ist!
So - ehe der Beitrag noch länger wird, belasse ich es an der Stelle, wenngleich ich vieles hätte weiter ausführen müssen...
Fazit: Leute, eine Streitdiskussion bringt uns hier nicht weiter, denn wenn Ihr mal alle Fakten "auf den Tisch packt", werdet Ihr sehen, daß man es folgendermaßen beantworten muß (wie Arcimboldo es bereits getan hat):
Welche Länder sind "Erben von Byzanz"? - ALLE!!!
In diesem Sinne
Timo