Die Psychohistorie und ihr Begründer Lloyd DeMause

@ Klaus
deMause sieht jede gesellschaftliche Veränderung "psychogen" [...]. Mir ist eine solche Interpretation zu eindimensional, ich bevorzuge die Sichtweise einer wechselseitigen Ursache-Wirkungs-Beziehung (weil die Kindererziehung sich ändert, ändert sich die Gesellschaft und umgekehrt) . Damit widerspreche ich auch jedem Determinismus in Psychologie oder Geschichte.
Seine Theorie nannte De Mause ja auch nicht von ungefähr "psychogenetisch"! Das ist ja das wirklich seltsame, daß er seine Theorie so sehr verabsolutierte anstatt gründlichere Studien über die Geschichte der Kindheit anzustrengen.
Ich möchte noch einmal hervorheben, dass es hier nicht darum geht, durch welchem Erziehungsstil welche Art von Persönlichkeit begünstigt wird (das wäre ja "nur" Psychologie), sondern darum, was passiert, wenn derselbe Erziehungsstil massenhaft in einem Land zu einer Zeit angewandt wird und somit die Befindlichkeit eines ganzen Volkes prägt. Aus dieser hohen Synchronität ergibt sich die neue Qualität der Psychohistorie gegenüber der Psychologie des Individuums.
Was Lloyd de Mause nach seinem Entwurf einer psychogenetischen Theorie der Kindheit machte, war die Entwicklung einer psychogenetischen Theorie der Geschichte, in der seine ersteren Befunde - nämlich die Annahme verbreiteter Kindheitserfahrungen in Beziehung setzte zu historischen Ereignisse und sich diese psychologisch zu erklären erlaubte über den Begriff der Gruppenphantasien. Das ist in der Tat ein mehr oder weniger neues Paradigma.
Daher noch kurz etwas zur Diskussion mit Lili:
@ Lili & KLaus
das ist nicht "nur" Psychologie, sondern auch Soziologie und Sozialpsychologie.
Freilich nicht nach De Mause; dieser hat sich von beiden Disziplinen vehement abgegrenzt, weil diese seine monokausale Geschichtserklärung schwerlich teilen können.

die Psychohistorie beschäftigt sich damit im wissenschaftlichen Sinne nicht.
Vorausgesetzt man aberkennt der psychoanalytischen Methode jegliche Wissenschaftlichkeit (wohlgemerkt ein wissenschaftstheoretischer Standpunkt, den ich nicht teilen würde).
Was bliebe dann noch als Unterschied zwischen Psychohistorie und Sozialpsychologie übrig ? Es geht doch wohl darum, dass geschichtliche Enwicklungen über die kollektive Psychologie der Indviduen einer Gesellschaft im geschichtlichen Verlauf interpretiert werden. Hat die Sozialpsychologie ebenfalls eine geschichtliche Perspektive ? Wenn ja, ist einer der beiden Begriffe überflüssig.
Bekanntlich gibt es die Tradition der sog. Frankfurter Schule/ Kritische Theorie, die sich auch in historischer Perspektive begonnen hatte, sich dem Thema anzunehmen: Stichwort "analytische Sozialpsychologie". Interessanterweise nahm einer ihrer Vertreter ein ähnliches Projekt in Angriff wie Lloyd de Mause: die Tiefenhermeneutik/tiefenhermeneutische Kulturanalyse Alfred Lorenzers. Die kritische Sozialpsychologie starb leider zum Teil mit einem ihrer wichtigsten Vertreter: Klaus Horn... Aber die kürzlich erst an anderer Stelle empfohlene Literatur sollte in diesem Zusammenhang auch nicht vergessen werden: http://www.geschichtsforum.de/f82/autorit-re-charaktere-im-nationalsozialismus-33426/#post500613 - freilich ist diese Sozialpsychologie dann aber doch meilenweit entfernt von der experimentellen Sozialpsychologie, wie sie Lili wohl im Auge hat!
Übrigens kann man aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive auch den amerikanischen Psychoanalytiker Erik Erikson als einen Pionier der Psychohistorie ansehen. Und um es komplett unübersichtlich zu machen: Es gibt auch eine Historische Psychologie ...
 
Freilich nicht nach De Mause; dieser hat sich von beiden Disziplinen vehement abgegrenzt, weil diese seine monokausale Geschichtserklärung schwerlich teilen können.
Natürlich nicht nach DeMause, würde er sich nämlich in eine Reihe mit diesen Disziplinen stellen, müsste er auch mit der Kritik aus diesen Lagern, die gegenüber seiner Forschung geäußert wird, anders umgehen, als sie immer nur als unwichtig abzutun. Bei seiner Arbeit grenzt er sich gegen die "Psycho"-Sparte seiner selbsterfundenen Disziplin ab, weil er deren Anforderungen an Qualität und Wissenschaftlichkeit nicht gerecht werden kann, wie grenzt er sich denn gegen Historiker ab, die seine Arbeiten ebenfalls sehr kritisch sehen?


Vorausgesetzt man aberkennt der psychoanalytischen Methode jegliche Wissenschaftlichkeit (wohlgemerkt ein wissenschaftstheoretischer Standpunkt, den ich nicht teilen würde).
Nein das möchte ich gar nicht. Als Psychologe, der er nun mal ist, arbeitet er mangels einschlägiger Forschungsarbeit unsauber. Als Historiker, der er wohl gerne wäre, arbeitet er unsauber, weil er sämtliche Quellen und Forschungsarbeiten tunlichst ignoriert, die seinen Thesen widersprechen. Das spricht nicht gegen die Methodik der Psychoanlyse, das spricht mE gegen jede Form des wissenschaftlichen Arbeitens.
 
Jetzt will ich noch auf den angesprochenen biologischen Aspekt eingehen, der hier mit dem ethologischen Begriff Instinkts und mit dem Hormon und Neuropeptid Oxytocin in Zusammenhang gebracht wurde:
Vielleicht hätte die Entdeckung des "Lieblingskind[es] der Peptidrevolution" (Candace B. Pert) Sigmund Freud wirklich sehr gefreut, denn hiermit hat man eine biochemische Substanz gefunden, die anscheinend sowohl ins Verhältnis zu Objektbeziehungen und Lustempfindungen gesetzt, als auch direkt in Beziehung zur Sexualität gesehen werden kann!
Ich habe mal ein wenig in meiner Literatur zur neurowissenschaftlichen Emotionstheorie studiert; stärker als im Wikipedia-Artikel dazu (Oxytocin ? Wikipedia) wird dort der Zusammenhang mit der soziale Bindung betont. Die meisten Effekte hat man natürlich durch Tierversuche identifziert, aber in den letzten Jahren auch mit Menschen experimentieren können; persönlich finde ich den anxiolytischen Effekt, also die angst- und streßvermindernde Wirkung interessant. Limbische Gehirnstrukturen, die in diesem Zusammenhang relevant sind, wären etwa die (zentrale) Amygdala und der Hippocampus, die Oxytocin-Rezeptoren aufweisen. Während bekanntlich erstere Struktur besonders mit Furchtreaktionen in Verbindung gebracht werden, sind es bei letzterer Gedächtnisfunktionen, und beide stehen bei Streßreaktionen etwa in einem komplexen Wechselverhältnis. Wie dem auch sei, natürlich ist vor allem auf zentralnervöser Ebene das Zusammenspiel mit andere biochemischen Substanzen relevant; aus der Literatur lediglich anführen möchte ich Panksepps Hinweis, daß Lust auf neuronaler Ebene bekanntlich auf die Wirkung von endogenen Opioiden zurückzuführen ist und daß Oxytocin dieses Lustsystem insofern zu modulieren vermag, daß die Sensitivität gesteigert wird: "Perhaps the secretion of oxytocin in nursing mothers blocks telerance to opoid reward, andf thus provides a dual way for the maternal experience to sustain social pleasures: not only by directly activating oxytocin-based social reward processes but also by sustaining high effective arousal in the brain's opiod experience." (Jaak Panksepp, Affective Neuroscience. The Foundations of Human and Animal Emotions. Oxford University Press, 1998, pg.256)

Ist nun Oxytocin tatsächlich ein Kandidat für die Auslösung eines Mutterinstinktes?
Da ich in der Antwort schwanke, einerseits neige ich zum Bejahen, will den Begriff "Instinkt" ambivalenter Weise aber trotzdem vornehmlich auf Tiere anwendbar verstehen, hole ich mir bezüglich des Begriffes also wenig überraschend Rat bei Wikipedia, genauer: Instinkt ? Wikipedia. Wende ich aber etwa Darwins Definition an oder die von William James, dann verneine ich die Frage aber lieber: Nein, auch "Bemuttern" will gelernt sein! Aus lauter Verlegenheit habe ich daher zu einem Buch gegriffen, in dem vor einiger Zeit einmal quer gelesen hatte: Zu meiner Überraschung erwähnendie Autoren auch "die Wirkung von Oxytocin auf das Fürsorgeverhalten", wenn sie festellen, daß "die Beiteiligung oder Bindung von bekannten biologischen Mechanismen beeinflußt wird"; aber "emotionale Kommunikation" sei ein so "komplexer sozialer Prozess, dass sie über die biologischen Substrtate hinausgehen muss. Welche Spezie auch immer diesen Prozess durchläuft, er muß von einer Generation an die nächste weitergegeben werden, und zwar durch die soziale Transmission erlernter Fürsorge- und Betreuungspraktiken" (Greenspan & Shanker, Der erste Gedanke. Frühkindliche Kommunikation und die Evolution des menschlichen Denkens. Winheim/ Basel: Beltz, 2007, S.112)
 
In der Betrachtung von Verhaltensweisen aufeinander folgender Generationen fällt doch auf, dass es Pendelefekte gibt: Auf eine als streng empfundenen Regeln folgende und ihre Befolgung fordernde Generation folgt eine, die sich aus diesen Regeln zu befreien sucht. Hierauf folgt womöglich wieder eine, die strengere Regeln fordert.

Dieses einfache Beispiel zeigt, dass die Art der Wirkung von Erziehung auf das spätere Verhalten der erwachsenen Kinder nicht notwendiger Weise das angstrebte Ziel der Erzieher begünstigt. Die Wirkung kann durchaus kontraproduktiv ausfallen.

Dass Kindheitserlebnisse, sowohl die durchgenden Erlebnisse (bestehend aus bewußten Erziehungstätigkeiten als auch aus nicht in Richtung Kindererziehung beabsichtigten aber gleichwohl anwesenden Gegebenheiten) als auch Einzelerlebnisse (Schlüsselerlebnise) eine prägende Wirkung haben, unterstelle ich als unbestritten.

Bei aller Unwissenschaftlichkeit der Beweisführung von de Mause, scheint mir aber die Idee recht brauchbar: Das Erleben in den Prägungsphasen hat einen massiven Einfluss auf die Persönlichkeit und die Normalvorstellungen des späteren Erwachsenen. Die Persönlichkeit und Normalvorstellungen des politisch und historisch Handelnden haben einen ebenfalls massiven Einfluss auf sein Handeln.

Natürlich sind Persönlichkeit und Normalvorstellungen des erziehenden Erwachsenen ebenfalls sehr entscheidend für die von dieser Person ausgehende Erziehungstätigkeit.

Was aber natürlich nicht gegeben ist, ist ein Masterplan.
 
Elisabeth Badinter & die Ammenpflege

ein Beispiel für massenhaft synchronen Erziehungsstil in der Geschichte [...] Oder [...] massenhaft synchron nur auf die Oberschicht bezogen?
Da hier Elisabeth Badinter zitiert und kritisch angesprochen wurde, habe ich meine französische Ausgabe rausgesucht: L'Amour en plus. L'Histoire de l'amour maternel.XVIIe-XXe siècle (Paris: Flammarion, 1980) - naja, da ich sowieso in der Bibliothek vorbei mußte, habe ich doch lieber gleich die Übersetzung mitgehen gehen: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. (München: Piper, 1981)
In dem Kapitel über das lästige Kind (L'enfant-gêne) finden sich die von De Mause zitierte Zahlen: http://www.geschichtsforum.de/499134-post20.html vgl. http://www.geschichtsforum.de/499142-post22.html
Da hier auch nach dem Vorgehen der Autorin gefragt wurde, will ich das Kapitel einmal ansatzweise untersuchen.

Nach eher allgemeinen Überlegungen kommt Badinter sehr schnell auf die Ammenpraxis zu sprechen; in Paris eröffnete das erste bureau de nourrices im 13. Jahrhundert, freilich für aristokratische Familien. Bis ins 16. Jh. hält Badinter die Ammenpraxis noch auf die Aristokratie beschränkt. Die Gewohnheit, die Kinder in Ammenpflege zu geben, generalisierte sich bis ins 18. Jh. so, "daß es zu einem Mangel an Ammen kam." (S.46) - Die Autorin gesteht aber ein, daß sich das Phänomen historisch hauptsächlich erst für dieses Jahrhundert untersuchen lasse, denn gemäß einer königlichen Deklaration vom 9. April 1763 hatten Pfarrer ein Exemplar ihrer Jahresregister der Gerichtsbarkeit vorzulegen; für die vorhergehenden Epochen stehen hingegen hauptsächliche Mémoiren und Familienchroniken (livre de raison) zur Verfügung.
So erwähnt Badinter etwa Vivès und Erasmus, die beklagten den Ammenbrauch bei (adligen) Frauen und Montaigne schrieb in seinen Essais (2. Buch, Kp. 8):

"Il est aisé de voir par expérience que cette affection naturelle (amour parental) à qui nous donnons tant d'autorité, a des racines faibles. Pour un léger profit, nous arrachons tous les jours leurs propres enfant d'entre les bras de mères et leur prendre les nôtres en charge" (pg.55)/ "Indessen ist unschwer aus der Erfahrung der Erfahrung zu sehen, daß diese natürliche Zuneigung der natürlichen Zuneigung (elterlichen Liebe), der wir ein so großes Gewicht beimessen, sehr schwache WUrzeln hat. Für einen geringen Lohn reißen wir täglich den Müttern ihre Kinder eigenen Kinder aus den Armen und geben ihnen dafür die unseren zum Stillen" (S.46)

Badinter bemerkt, daß Montaigne nichts desto weniger selbst seine Kinder, bis auf seine jüngste Tochter, diese Praxis zuteil werden ließ und die Ausnahme ließ er nur widerwillig zu. Als bedeutsam erscheint der Hinweis aus einer Familienchronik: Die Gattin eines Parlamentsrates von Dole (Anatole Froissard), geb. Madeleine Le Goux, stillte im 16. Jh. ihre fünf Kinder selbst; als Eltern nahmen diese Ammen in Anspruch; die Enkelinnen wiederum, mittlerweile im beginnenden 17. Jh. angelangt, brachten ihre Kinder bei Ammen direkt nach der Geburt unter: "Die Autoren, die über diese Quelle berichten, stellen fest, daß also innerhalb von dreißig Jahren [...] diese Familie unwiderruflich von der Mode ergriffen wurde, die Kinder in Pflege zu geben." (S.47)

Die Quellenangabe erscheint unvollsträndig: Ich habe die vollständige bibliographische Angabe aber im Internet gefunden: Jacques Gelis, Mireille Laget, Marie-France Morel, Entrer dans la vie. Naissances et enfances dans la France traditionelle. Paris: Gallimard, 1978 (wenn Madame Badinter nach derselben Ausgabe zitiert, siehe dort P.155); in dieser Arbeit sollen weitere ("zahlreiche") Quellen angeführt werden. Als weiterer Literatur wird genannt: Jean Ganiage, "Nourissons parisiens en Beauvaisis." Sur la population francaise au XVIIIe et au XIX Hommage à Marcel Reinhard. Paris 1973 - diese Studie wird etwa von Marcus Meumann zitiert (Findelkinder, Waisenhäuser ... - Google Bücher) in bezug auf die verbreitete Ammenpflege in Frankreich (überhaupt eine vielzitierte Studie, wenn man nach der bibliographischen Angabe googelt).

Bei Badinter heißt es weiter, daß sich die Ammenpflge erst im 18. Jh. in so ziemlich allen städtischen Schichten verbreitete; und nicht nur in Paris; aufgrund wohl der Größe der französischen Hauptstadt und damit auch einer hohen Bevölkerungsdichte, sowie ihrer kulturellen und politischen Bedeutung, klingt es bei Badinter durchaus plausibel:
"Wie gewöhnlich gibt Paris das Beispiel, indem es seine Kleinkinder weit fortschickt, manchmal bis zu 50 Meilen von der Hauptstadt entfernt, in die Normandie, nach Burgund oder in das Beauvaisis."

Nun folgt das Zitat, auf das sich L. de Mause wohl stützt (siehe oben verlinkten Beiträge von Klaus und rena8):
"Im Jahre 1780 werden von den 21 000 Kindern, die jährlich in der Hauptstadt geboren werden (bei einer Bevölkerung von 800 000 bis 900 000 Einwohnern), weniger als tausend von ihrer Mutter und tausend von einer im Haus lebenden Amme gestillt. Alle übrigen, also 19 000, werden in Pflege gegeben. Von diesen 19 000, die einer Amme außerhalb des Elternhauses anvertraut werden, wurden 2000 bis 3000, deren Eltern über beachtliche Einkünfte verfügten, in der näheren Umgebung von Paris [banlieu proche] untergebracht, die anderen, die weniger begütert waren, wurden in die Ferne [au loin] verbannt [rélégué]." (S.48) Die Bezugsquelle dieser Zahlenangaben ist ein zeitgenösissches Dokument: Détails sur quelques établissements de la ville de Paris demandés par sa Majesté Impériale, La Reine de Hongrie, à L. Lenoir, lieutenant général de police, Paris, 1780.
Vergleich bitte selbst, was Lloyd de Mause aus dem dieser Angabe macht. Nur nebenbei bemerkt: Badinter arbeitet soweit historisch, daß sie derartige Phantasien unterläßt. Nein, von Gleichgültigkeit als Erklärung für das von ihr beschriebene Phänomen der Weggabe, kann keine Rede sein, wenn das Wort freilich durchaus auch in den allgemeinen, eileitenden Überlegungen zur Überschrift des Kindes als Last im Kapitel auftaucht; aber das erspare ich mir, tut hier nichts zur Sache. Ferner thematisiert Badinter auch die Kindersterblichkeit, die insofern in den niederen Schichten höher war, weil die Ammen wiederum auch nur schlecht bezahlt werden konnte. Wie dem auch sei, es werden weitere Quellen und Untersuchungen genannt für andere Städte; auch nach Gesellschaftsschichten bzw. Berufsklassen aufgesplittet, wobei es auch zu regionalen Unterschieden kommt.

Also ursprünglich ein Phänomen der Oberschicht in Frankreich, wird die Ammenpflege durchaus ein breites Phänomen in allen Gesellschaftsschichten, allerdings aus unterschiedlichen Gründen (in den unteren Schichten etwa vornehmlich ökonomische Gründe), was an der "Mode" nichts ändert! Badinter erwähnt aber eine "erhebliche Ausnahme" : die Bauernschaft; aber dazu schreibt sie dann nicht allzu viel, sie hat ja eine andere Perspektive und Grundthese, die sie in diesem Buch entwirft, wobei die Ammenpraxis nur ein bestimmter Punkt ist, der dabei zu diskutieren ist.

Kurz zur Beurteilung: Bauchschmerzen bekommt man bei Elisabeth Badinter möglicherweise beim Thema, um das es geht, da unbequem; an ihrer Arbeitsweise aber ist nicht auszusetzen ! (Ganz im Gegentum eben zu De Mause)
 
Zuletzt bearbeitet:
Dass die massenweise Weggabe der Kinder der politisch bedeutsamen Schichten an Ammen und das spätere "Heimholen" dieser Kinder zu Eltern, zu denen ihnen jede persönliche Beziehung fehlt, zu einer kalten und zynischen Grundhaltung der politsch Handelnden führen KANN liegt doch wohl auf der Hand.

Wenn tatsächlich 19 von 21 in Paris geborenen Kindern an Ammen weggegeben wurden, setzt dies voraus, das 19 von 21 Elternpaaren ausreichende wirtschaftliche Ressourcen hatten, um sich die Dienste einer auswärtigen Amme zu erkaufen. Die Richtigkeit der kolportierten Zahlen vorausgesetzt, führen die drei Nullen hinter diesen Zahlen zu einer recht geringen Varianz in der Messgenauigkeit für dieses Phänomen.

Dem entgegenzuhalten wäre die Überlegung, ob ein Mensch, der zwar bei seinen Eltern aufwächst, von ihnen aber mit großer Distanz und somit im Gefühl der Zurückweisung aufwächst, nicht noch kälter und zynischer werden muss.

Erst wenn solche Phänomene sich vergleichen lassen, wird die "psychohistorische" Bedeutung herauszuarbeiten sein.
 
Also ursprünglich ein Phänomen der Oberschicht in Frankreich, wird die Ammenpflege durchaus ein breites Phänomen in allen Gesellschaftsschichten, allerdings aus unterschiedlichen Gründen (in den unteren Schichten etwa vornehmlich ökonomische Gründe), was an der "Mode" nichts ändert! Badinter erwähnt aber eine "erhebliche Ausnahme" : die Bauernschaft; aber dazu schreibt sie dann nicht allzu viel, sie hat ja eine andere Perspektive und Grundthese, die sie in diesem Buch entwirft, wobei die Ammenpraxis nur ein bestimmter Punkt ist, der dabei zu diskutieren ist.

Kurz zur Beurteilung: Bauchschmerzen bekommt man bei Elisabeth Badinter möglicherweise beim Thema, um das es geht, da unbequem; an ihrer Arbeitsweise aber ist nicht auszusetzen ! (Ganz im Gegentum eben zu De Mause)

Durch deine anschauliche Darstellung der Badinterergebnisse zur Ammenpraxis im späten 18.Jhdt ergeben sich für mich weitere Fragen:

Ammen kosteten Geld, dass in der Oberschicht und der städtischen Bürgerschicht vorhanden war, dort kann man wahrscheinlich die Haus- und Nachbarschaftsammen vermuten.
Die Ausbreitung der Mode auf die unteren Schichten, mit einem den begrenzten Mitteln entsprechenden Preisgefüge, muß doch zur Folge gehabt haben, dass die Ammenpflege im Ergebnis in manchen Fällen einer Entsorgung des Nachwuchses zur Folge hatte.
Die Eltern hatten bei berufsmäßigen Ammen auf dem Lande und die Vermittlerpraxis kaum Möglichkeiten, das Wohlergehen der Kinder zu überprüfen.
Könnte es daneben nicht auch die Praxis gegeben haben, die Kleinkinder zu Verwandten ins Heimatdorf zu geben. Gab es diese Vernetzung zwischen Stadt und Land im Europa des 18. Jhdt überhaupt noch?
Und wie muß ich mir Arbeits-, Wohnbedingungen und Lebensstandard vorstellen?
 
Fällt dir ein Beispiel für massenhaft synchronen Erziehungsstil in der Geschichte ein? Oder meinst du massenhaft synchron nur auf die Oberschicht bezogen?

Über den Erziehungsstil in früheren Jahrhunderten in breiten Schichten, habe ich noch nichts brauchbares gefunden, auch noch nicht intensiv gesucht.
Ich würde die Ausgangsfrage trotzdem gern weiter unter einem mehr praxisbezogenen Blickwinkel betrachten und dabei kam mir der Gedanke, dass man bei häuslicher Erziehung nur schwer einen synchronen Stil nachweisen kann, jedenfalls abseits von oberflächlichen Moden, Sitten und Bräuchen.
Bei einer professionellen Erziehung in Heimen, Horten und Krippen könnte man vielleicht eher Untersuchungen über Auswirkungen finden.
Nun wächst normalerweise in einer Population nur ein sehr geringer Anteil von Kleinkindern in Heimen auf, so dass es dadurch nicht zu einem massenhaft synchronen Erziehungsstil kommen konnte.
Nun ja, entschuldigung, so bin ich auf die DDR und andere sozialistische Länder gekommen.
Theoretisch sollten doch die Kinder der Geburtsjahrgänge z.B. von 1979 - 1989 in der DDR einem massenhaft synchronen Erziehungsstil ausgesetzt gewesen sein. Und wenn man nun die Ergebnisse mit den gleichen Jahrgängen in der BRD vergliche, sollte man nach deMause doch Unterschiede feststellen können.
Bevor ich von allen Ostgeborenen dieser Jahrgänge gelyncht werde, möchte ich prognostizieren, dass man diese Unterschiede nicht finden wird, folglich deMause irrt.:winke:
Aber vielleicht habe ich auch nicht verstanden, was er aussagen will, da ich sein Buch ja nicht gelesen habe.

Wissen wir, was die flächendeckend einheitliche Anwendung von medizinischen Behandlungsmethoden bei der Geburt im Krankenhaus bewirkt ? I. Eibl-Eibesfeldt berichtete z. B. über die standardmäßige Desinfektion der Augen von Neugeborenen mit Silbernitrat, die den Blickkontakt zwischen Mutter & Kind bei einer ganzen Generation von Kindern in den ersten Stunden nach der Geburt von Kindern behinderte. Ergibt sich hier die Grundlage für einen kulturellen Unterschied zum Nachbarland, in dem das nicht praktiziert wird ?

Diese Silbernitratbehandlung sollte doch einer Infektion mit Geschlechtskrankheiten vorbeugen.
Ich weiß nicht, ob man dafür eine relevante Auswirkung feststellen kann, ist der Einfluß überhaupt erheblich.
Auch Neugeborene von Kaiserschnittgeburten haben nicht sofort Blickkontakt. Ich habe bisher angenommen, Neugeborene können sowieso noch nicht so gut sehen, ich bin aber keine Säuglingskrankenschwester und lasse mich da gern belehren.
 
Ich meine gehört zu haben, daß Kaiserschnittgeburten psychologisch unterschiedlich zu natürlichen Geburten sind, weil die Babys nicht den schwierigen Weg durch den Geburtskanal nehmen, was sehr stressig ist. Das Erleben fängt ja weit vor der Geburt bereits im Mutterleib an.

Ein paralleler Effekt liegt allerdings darin, daß Kindern bei natürlichen Geburten der Schädel stark deformiert wird, was sicherlich auch aufs Gehirn drückt. Auch das entfällt natürlich bei einem Kaiserschnitt.

Neben der Silbernitratdesinfektion könnte es für die Zeit nach der Geburt ein weiteres mindestens so erhebliches Massenphänomen geben: Die Unsitte, Neugeborene sofort oder jedenfalls kurz nach der Geburt von der Mutter zu trennen und in ein Säuglingszimmer zu legen verglichen damit, das Kind auf die Mutter zu legen und dann, wenn es der MUtter zu viel wird, in ein Kinderbett gleich daneben. Soetwas wird von Geburtskliniken vorgegeben und die unterliegen dem was in einem Land zu einer Zeit üblich ist.
 
Andererseits gibt es den nicht zu unterschätzenden Nachteil, dass Babys bei Kaiserschnittgeburten oft Probleme mit dem Saugen haben, teilweise die Brust sogar ablehnen. Normalerweise trinkt das Baby kurz nach der Geburt bzw. du kannst es gleich anlegen. Es geht um die erste Milch, sorry der medizinische Begriff fällt mir gerade nicht ein, die besonders inhaltsreich und mit Hilfsstoffen versorgt ist.

Zu den Ammen von Paris nur kurz ein Auszug
Aufzeichnungen des Polizeipräfekten Lenoir, 1780 Paris:
- 21 000 Geburten, davon 1000 Kinder von den eigenen Müttern gestillt, 1000 von Hausammen, 19000 von Ammen, die auf dem Land zumeist als Bäuerinnen lebten –. Der Transport der Kinder aufs Land glich Viehtransporten, dicht an dicht in Körben wurden die Kinder auf offenen Karren oder in Sattelkörben auf dem Rücken von Eseln durch die Gegend geschüttelt. Die Säuglingssterblichkeit war hoch. Das führte zu einem Umdenken. Da es in den Städten kaum Frauen gab, die sich als Ammen anboten, entstand ein Markt für einen neuen Berufsstand: die Ammenverdingerin und der Ammenbesorger. Die Ammenverdingerin warb auf dem Land Frauen an und der Ammenbesorger, vermittelte diese in die Stadt, sobald die Ammenverbringerin einen Auftrag für das Stillen eines Säuglings erhalten hatte.

Ludwig der XIV. regelte das Geschäft der Ammen per Erlass. Amme durfte nur sein, wer vom Dorfpriester eine Identitäts- und Moralbescheinigung ausgestellt bekommen hatte. 1769 wurde in Paris ein Hauptamt für Ammenverdingung eingerichtet. Andere Städte in Europa folgten diesem Beispiel: Versailles, Lyon, Stockholm, Hamburg. Bevor eine Amme ihren Job beginnen konnte oder eben nicht, war es üblich, dass ein Arzt die Milch kostete und ein Attest ausstellte:

gekostet und angenommen oder gekostet und abgelehnt
Quelle:Baby, Säugling, Wickelkind – Eine Kulturgeschichte –
Von Beatrice Fontanel, Claire d’Harcoourt
Bildband, Verlag Gerstenberg

Zu Hamburg:
Hier sollen auf 90.000 Einwohner etwa 4.000 (oder mehr) "städtische" Ammen gekommen sein. http://books.google.de/books?id=X51...ed=0CB4Q6AEwBg#v=onepage&q=ammenwesen&f=false
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Sache mit dem Silbernitrat habe ich als Beispiel zitiert für eine harmlose (aber vielleicht doch Spuren hinterlassende) Gewohnheit, die aber an allen Babys gleichzeitig praktiziert wird. In den 60er Jahren war es modern, die Babys nach einem festen Zeitplan zu füttern und sie längere Zeit schreien zu lassen, "weil es die Lungen kräftigt". Im Moment fällt mir die Mode auf, bei allen Babys Fersenblut zu entnehmen. In Amerika wird männlichen Neugeborenen ohne medizinische oder religiöse Indikation standardmäßig die Vorhaut beschnitten (wenn das nicht "ideologisch" ist - was dann ?). Einer ganzen Generation von Kindern wurde der Spinat reingewürgt, weil sich ein Professor mal beim Eisengehalt mit dem Komma vertan hatte.

Ich wollte eigentlich darauf hinaus, dass man für eine kulturelle Entwicklung via Kindererziehung keine traumatisierenden Erziehungen "braucht", sondern dass der Charme der Argumentation in der Synchronität besteht.

Andererseits "braucht" jede Kultur ihr spezifisches Muster an kleinen Taumatisierungen von Kindern, weil sie sonst nicht mehr funktioniert. Das mögen bitte auch die Gutmenschen berücksichtigen, die durch Afrika touren, um den "bedauernswerten" (ehem. "wilden") Menschen Hosen anzuziehen, um ihnen zu "helfen" (ehem. "zivilisieren").
 
Nachtrag

Auffällig scheint mir, dass eben nicht nur wohlhabende Damen sich der Ammendienste bedienten, sondern gerade berufstätige Frauen, die es sich nicht leisten konnten des Stillens bzw. überhaupt der Kinder wegen ihre Arbeit einzuschränken. Die wohlhabenden Damen hielten sich eher eine Hausamme, als ihre Kinder wegzuschicken.

Das führte im übrigen dazu, das eine Land-Amme oft vier, fünf Säuglinge gleichzeitig zu betreuen hatte, um auf ihren "Schnitt" zukommen. Klar auch, dass ihre Milch nicht für alle reichte. Es wurde auch bemängelt, dass ihre eigenen Kinder oft verhungerten.
 
Zuletzt bearbeitet:
Über diesen Artikel bin ich gestolpert : Politikwissenschaften: Unfreie Meinungsäußerung - spektrumdirekt.
Inhalt : Schreckhafte Personen neigen eher zu einer "konservativen" (sicherheitsorientierten) politischen Grundhaltung, weniger schreckhafte zu einer "liberalen" (gemäß US-Schema).

Wenn wir mal die modische Erklärung mit "den Genen" gnädig übersehen - haben wir hier ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Grundhaltungen von der Eltern-Kind-Beziehung (hier : Sicherheitsbedürfnis) abhängen können.
 
Andererseits gibt es den nicht zu unterschätzenden Nachteil, dass Babys bei Kaiserschnittgeburten oft Probleme mit dem Saugen haben, teilweise die Brust sogar ablehnen. Normalerweise trinkt das Baby kurz nach der Geburt bzw. du kannst es gleich anlegen. Es geht um die erste Milch, sorry der medizinische Begriff fällt mir gerade nicht ein, die besonders inhaltsreich und mit Hilfsstoffen versorgt ist.
Hängt das nicht irgendwie mit Botenstoffen, die die Wehen und das Einschießen der Milch steuern, zusammen. Bin mir nicht sicher und zu faul zum googeln.

Zu den Ammen von Paris nur kurz ein Auszug

Quelle:Baby, Säugling, Wickelkind – Eine Kulturgeschichte –
Von Beatrice Fontanel, Claire d’Harcoourt
Bildband, Verlag Gerstenberg
Wird in dieser Quelle etwas über die Zufütterung ausgesagt. Ich finde dieses Massenammenwesen immer noch nicht richtig schlüssig. Neugeborene in den ersten 3 Monaten benötigen noch nicht so viel Milch, stillt eine Amme nur ein oder 2 Kinder paßt sich das Milchangebot der Nachfrage an. Versorgte eine Amme mehr als zwei vor allem größere Babys, konnte sie doch zufüttern, anders hätte sie die Versorgung von vielen Säuglingen zeitlich gar nicht bewältigen können.

Ich wollte eigentlich darauf hinaus, dass man für eine kulturelle Entwicklung via Kindererziehung keine traumatisierenden Erziehungen "braucht", sondern dass der Charme der Argumentation in der Synchronität besteht.

So richtig verstehe ich dich noch nicht. Wenn die synchrone Behandlung nicht traumatisierte, welchen feststellbaren Effekt soll sie dann auf die Entwicklung der Gesellschaft gehabt haben?
Selbst der heute so verpönten frühen Sauberkeitserziehung, von der man annehmen kann, dass sie nahezu synchron in allen Schichten bis ungefähr zur Erfindung der Wegwerfwindel durchgeführt wurde, kann man einen allgemeinen Einfluß auf die Gesellschaft nicht nachweisen. Oder gibt es dazu Untersuchungen?
Solche allgemeinen Erziehungsmoden, zu denen ich auch deinen Spinat, das Füttern zu festen Zeiten und das Schreienlassen zählen würde, unterliegen im wirklichen Leben genauso vielen Modifikationen in der Durchführung, wie es Eltern und Kinder gibt.
Wenn zu einer rigiden Sauberkeitserziehung ein ansonsten liebevolles Elternhaus gehört, wird das Ergebnis ganz anders sein als in einer Familie, in der das Kind sich vielleicht bis 5 Jahre die Hose naß machen konnte, wobei es den Eltern ansonsten eher gleichgültig war.
Über diesen Artikel bin ich gestolpert : Politikwissenschaften: Unfreie Meinungsäußerung - spektrumdirekt.
Inhalt : Schreckhafte Personen neigen eher zu einer "konservativen" (sicherheitsorientierten) politischen Grundhaltung, weniger schreckhafte zu einer "liberalen" (gemäß US-Schema).

Wenn wir mal die modische Erklärung mit "den Genen" gnädig übersehen - haben wir hier ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Grundhaltungen von der Eltern-Kind-Beziehung (hier : Sicherheitsbedürfnis) abhängen können.

In dem Artikel konnte ich nichts darüber finden, wie es zu den schreckhaften / liberalen Grundhaltungen gekommen ist, es muß ja nicht zwangsläufig ein bestimmter Erziehungsstil sein.
Ich werde es auf Anhieb nicht finden, ich meine mich aber zu erinnern, dass der Platz in der Geschwisterfolge einen erheblichen Einfluß auf die Grundhaltung eines Menschen hat. Und da kann man ja annehmen, dass die Eltern von Geschwistern ungefähr den gleichen Erziehungsstil anwandten. Er kommt aber beim 1. Kind u.U. anders an als beim 2. oder 3.
 
Wird in dieser Quelle etwas über die Zufütterung ausgesagt. Ich finde dieses Massenammenwesen immer noch nicht richtig schlüssig. Neugeborene in den ersten 3 Monaten benötigen noch nicht so viel Milch, stillt eine Amme nur ein oder 2 Kinder paßt sich das Milchangebot der Nachfrage an. Versorgte eine Amme mehr als zwei vor allem größere Babys, konnte sie doch zufüttern, anders hätte sie die Versorgung von vielen Säuglingen zeitlich gar nicht bewältigen können.

Hier der "fehlende" Zusatz zur Zufütterung, aus oben genannter Quelle.

Zufüttern
Im Mittelalter wie im 18. Jahrhundert war frühes Zufüttern bei den „Ammen-Kindern“ üblich. Ärzte empfahlen zwischen der 2. Lebenswoche (!) und des. 2. Lebensmonats mit der Beikost zu beginnen. Kriterium für ein gut gedeihendes Kind war sein Gewicht - je fetter, desto gesünder. Ludwig der XIII. bekam beispielsweise seinen ersten Brei im Alter von 4 Wochen: Wasser oder Milch mit gekochtem Brot, manchmal zugesetzt mit Bier oder Wein. Auch Brotsuppe war sehr beliebt. Sie enthielt neben Brot, Butter und Fleischbrühe, manchmal auch Eier. Der Brei wurde vorgekaut, das Kind lutschte ihn vom Finger der Mutter, des Vaters oder der Amme.

Leopold Hugo, geboren 1823, Bruder von Victor, konnte von seiner schwer kranken Mutter nicht gestillt werden. Versuche mit Ammen blieben erfolglos. So besorgte sich die Familie schließlich eine Ziege. Leopold wurde direkt an ihr Euter angelegt und von ihr ernährt.

Eigentlich war Eselsmilch die Ersatzmilch erster Wahl. Nur Esel hatten einen großen Nachteil, sie waren für Städter zu „unhandlich“. Eselsmilch wurde von Ärzten empfohlen, da sie in ihrer Zusammensetzung der Muttermilch am ähnlichsten ist. Neben dem Kinderkrankenhaus der Pariser Fürsorge befand sich im Jahre 1881 ein Eselsstall. Eine Eselin ernährte pro Tag zwei Kinder. Für Waisenkinder, Frühgeburten, ausgesetzte oder syphiliskranke Kinder war die Tiermilch oft die einzige Überlebenschance. Die Kinder lagen im Schoß der Schwestern und saugten vom Euter der Esellinnen.

Ende des 17. Jahrhunderts wurde am englischen Hof statt Muttermilch, Tiermilch favorisiert als beste Säuglingsnahrung überhaupt. Ein Grund dafür war vermutlich der inzwischen schlechte Ruf der Ammen, denen unterstellt wurde, dass sie die ihnen anvertrauten Kinder aus Habgier töteten, z. B. durch absichtliches Erdrücken während der Nacht.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich werde es auf Anhieb nicht finden, ich meine mich aber zu erinnern, dass der Platz in der Geschwisterfolge einen erheblichen Einfluß auf die Grundhaltung eines Menschen hat. Und da kann man ja annehmen, dass die Eltern von Geschwistern ungefähr den gleichen Erziehungsstil anwandten. Er kommt aber beim 1. Kind u.U. anders an als beim 2. oder 3.
Hm, dem kann ich nicht ganz zustimmen. Man hat auf das Erstgeborene, auch wenn es ein Mädchen war immer besonderes Gewicht gelegt, wobei in den verschiedenen Gesellschaftsschichten entsprechende Werte eine Rolle spielten, nichtsdestotrotz war der Erstgeborene auch bei Handwerkern, Metzgern etc. als Erbe des Geschäftes vorgesehen. Die Zielsetzung war also vorbestimmt.

Von der ältesten Tochter widerum erwartete man mehr noch als von den anderen, der Mutter beizustehen, notfalls auch ihre Rolle zu übernehmen. Ich erinnere mich dunkel an eine Geschichte, da übernimmt eine 9-Jährige nach dem Tod der Mutter (!) den Haushalt, entlastet auch die Stiefmutter, und muss doch von zuhause fort.

Bekannt auch, dass Nesthäkchen und kränkliche Kinder eine Art Narrenfreiheit besassen. Auch dafür gibt es etliche Beispiele in der Literatur, aber auch in familiären Quellen.

Worüber noch nicht gesprochen wurde, und auch das gehört zum Thema, ist das Wickeln, vielmehr noch das Pucken von Säuglingen, manchmal sogar Kleinkindern. Manchen Kindern (Z:B. Schreikindern) scheint es tatsächlich zuträglich zu sein, vielleicht gibt es ihnen das fehlende Sicherheitsbedürfnis. Eine Einschränkung kann ja nun auch Schutz bedeuten. Für die meisten Kinder wird es aber verheerend gewesen sein, weil es natürliche, erste Bewegungen einschränkte oder gar unmöglich machte. Gut scheint es nur für die Ammen Kinderfrauen und Mütter gewesen zu sein, die ihre Ruhe suchten und den Vorteil hatten, einer wirklichen Aufsicht enthoben zu sein.

Dann war das allgemeine Schlagwort der Erziehung, "man dürfe Kinder sehen aber nicht hören", ihre Meinung und Ansichten interessierten also nicht und sie durften ohenhin nur sprechen, wenn man ihnen die Erlaubnis dazu gegeben hatte.
Hm, wie kann man dann aber z.B. ein politisches Amt bekleiden, wenn man ja nie "sprechen" gelernt hat? Oder sollte/konnte ein Studium die Versäumnisse der Kindheit und Jugend bezüglich Rhetorik u.ä. aufholen?
 
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Nachtrag zum "Pucken"
Die deutschen Säuglinge wurden angeblich länger und fester gewickelt als die in Frankreich und in England, wo diese Methode auch früher aufgegeben wurde. Die Position der Aufklärung wird zum Beispiel von Johann Georg Krünitz in der Oeconomischen Encyklopädie vertreten. Er ist zwar der Ansicht, dass Kinder nach der Geburt zunächst gewickelt werden müssen, um dem Körper Halt zu geben, jedoch nicht in der damals üblichen Art des „Einschnürens“. So heißt es bei ihm: „Es ist die großte Grausamkeit, ein Kind etliche Stunden lang in die engesten Bande einzuschlagen, um ihm die freye Bewegung der Glieder zu nehmen. (...) Das bleiche Gesicht, der magere Körper, und das sieche Leben der in Banden eingekerkert gewesenen Kinder, beweisen genug, wie vielen Schaden die Eingeweide dadurch leiden (...) Es ist nicht zu verwundern, wenn die Kinder in diesen Fesseln den ganzen Tag traurig sind, und ausser dem Schlafe ihre Zeit mit Weinen zubringen.“<SUP class=reference id=cite_ref-0>[1]</SUP> Krünitz empfiehlt, das Baby schon nach 14 Tagen nur noch locker zu wickeln, damit es sich bewegen könne.
Dennoch wurde diese Wickelmethode in Deutschland einigen Quellen zufolge noch im 19. Jahrhundert relativ strikt angewandt. Im Jahr 1877 erschien in einem englischen Magazin ein Artikel, in dem ein deutsches Baby als „klägliches Objekt“ bezeichnet wird, das wie eine Mumie eingewickelt werde und nur kurz zum Wechseln der Windeln von seinen Bandagen befreit werde. Diese Methode wurde bis zum sechsten Monat angewandt.<SUP class=reference id=cite_ref-nest_1-0>[2]</SUP> Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurden deutsche Säuglinge in den ersten acht Wochen nur zum Windelwechsel herausgenommen, weil man den Körper für extrem schwach und zerbrechlich hielt.<SUP class=reference id=cite_ref-nest_1-1>[2]</SUP>

Umgekehrt wird ein Schuh draus. Wie soll ein Kind "starke Glieder" entwickeln, wenn jede Muskeltätigkeit von vornherein unterbunden wird?
 
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Hm, dem kann ich nicht ganz zustimmen. Man hat auf das Erstgeborene, auch wenn es ein Mädchen war immer besonderes Gewicht gelegt, wobei in den verschiedenen Gesellschaftsschichten entsprechende Werte eine Rolle spielten, nichtsdestotrotz war der Erstgeborene auch bei Handwerkern, Metzgern etc. als Erbe des Geschäftes vorgesehen. Die Zielsetzung war also vorbestimmt.

Von der ältesten Tochter widerum erwartete man mehr noch als von den anderen, der Mutter beizustehen, notfalls auch ihre Rolle zu übernehmen. Ich erinnere mich dunkel an eine Geschichte, da übernimmt eine 9-Jährige nach dem Tod der Mutter (!) den Haushalt, entlastet auch die Stiefmutter, und muss doch von zuhause fort.

Bekannt auch, dass Nesthäkchen und kränkliche Kinder eine Art Narrenfreiheit besassen. Auch dafür gibt es etliche Beispiele in der Literatur, aber auch in familiären Quellen.

Erstmal danke, Caro1, dass du so viel zu den geschichtlichen Kinderbehandlungsmoden beigetragen hast. Ich fand es nicht einfach, im Netz konkretes über frühere Jahrhunderte zu finden.
Deine Antwort zu den Geschwisterfolgen zeigt mir, dass ich nicht deutlich erklärt habe, was ich meine, denn deine Aussagen decken sich ungefähr mit dem, was ich von dem Buch in Erinnerung habe.
Ich möchte den von mir genannten Erziehungsstil mit Behandlungsmode umschreiben, dazu gehören für mich solche allgemein in einer Gesellschaft angewandten Methoden, wie Wickeln, Füttern, Topfen, Tragen, Strafen usw. Bei diesen Methoden soll es einen gesellschaftlichen Konsens gegeben haben, der die Grundhaltungen der Menschen gleichförmig prägte, jedenfalls wenn ich deMause richtig verstanden habe.
Nun werden Eltern alle ihre Kinder gleich gewickelt, gefüttert und gestillt haben, sie wandten eben die zur jeweiligen Zeit gebräuchliche Methode an.
Das 1. Kind hatte aber als Nachfolger oder einfach als das Erstgeborene einen besonderen Platz und entwickelte sich wegen seiner individuellen Wertschätzung vielleicht anders als das 2. oder 3. oder Jüngste, obwohl die Erziehungsmoden für alle Geschwister annähernd gleich waren.
Meine Argumentation sollte verdeutlichen, dass die Art, wie eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit ihre Kleinkinder behandelt, kulturabhängig ist und "Moden" unterworfen. Für das Kind und die Grundhaltung des Menschen, können aber andere Einflüsse, wie der Platz in der Geschwisterfolge, entscheidender sein.
 
In dem Artikel konnte ich nichts darüber finden, wie es zu den schreckhaften / liberalen Grundhaltungen gekommen ist, es muß ja nicht zwangsläufig ein bestimmter Erziehungsstil sein.
Es geht um die Wirkungskette
1. allgemeine Kindererziehung => 2. psychische Disposition von vielen Individuen gleichzeitig => 3. gesellschaftliches Verhalten => 4. Geschichte
zu finden. In dem verlinkten Artikel ging es nur um den Schritt 2. => 3., die Einbeziehung von 1. kam von mir.

Bei dem Protagonisten dieses Threads sieht das wie folgt aus. Ich habe aus der sieben Psychoklassen, die ich in meinem Beitrag #13 zitiert habe, eine herausgegriffen, nämlich "Die depressive Psychoklasse der Renaissance und Reformation"
deMause schrieb:
Der neue Kindererziehungsmodus, der um das 16. Jahrhundert entstand - der aufdringliche Modus -, war ein Sprung nach vorne, als Mütter damit aufhörten, ihre Kinder Ammen zu überlassen, sie nicht mehr hungrig in ihren Wiegen ließen, man sich den Aufgaben der Fürsorge mutig, wenn auch unsicher, stellte. Man beendete die Wickelungen, schlug die Kinder weniger und hörte auf, sie als Diener wegzugeben. Wie zuvor beschrieben, verlagerten die Eltern ihre Absicht vom Versuch, das Wachsen der Kinder zu stoppen, hin zu dem Versuch, sie bloß zu kontrollieren und 'folgsam' zu machen. Bei den Eltern des aufdringlichen Modus fing nun ware Empathie an, erzeugte eine generelle Verbesserung auf der Ebene der Fürsorge und reduzierte die Sterblichkeit, was zu mehr Zuwendung für jedes Kind führte. <!--[if !supportEmptyParas]--> <!--[endif]--><o:p></o:p>

...Traurigkeit als bedeutenster Emotion. Der Grund dafür ist, dass diese etwas tun, was Borderliner noch nicht können, nämlich sich ihrer Versoßungsdepression zustellen.
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...Humanisten glorifizierten Melancholie als erhöhtes Selbstbewusstsein des Intellektuellen, als Preis für Individualität, und sie hatten Recht.
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... Für die neue depressive Psychoklasse wurde man von Mami/Gott nicht sexuell gefordert, deshalb war Ehelosigkeit nicht notwendig. Die Mutter konnte vergeben, weshalb man ihr trauen und einen Blick auf ihre Güte werfen konnte. Sie zeigte Aufmerksamkeit für das Verlangen nach Nahrung, weshalb man nicht das ganze Leben lang fasten musste. Sie hörte wirklich zu, weshalb man sein Selbst über das Klammern an religiöse oder politische Autoritäten hinaus individualisieren konnte.
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... Im 16. und 17 Jahrhundert hatte der neue Modus der aufdringlichen Kindeserziehung Westeuropa weit über frühere Psychoklassen der restlichen Welt hinaus katapultiert und gab seiner Minderheit von Depressiven ein neues Gefühl von Selbstwert und das Ideal von kumulativem, notwendigem Fortschritt, der in die moderne Welt, wie wir sie heute kennen, führte.
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...Leider waren die Depressiven immer noch eine Minderheit, als diese in jenem Jahrhundert damit anfingen, ihre neuen Freiheiten auszuleben. Die früheren Psychoklassen erlebten die neuen Freiheiten dieses Zeitalters als schrecklich gefährlich und waren sicher, den Zorn Mamis/Gottes auf sich zu ziehen. Diese Jahrhunderte des Fortschritts waren daher auch Jahrhunderte apokalyptischerÄngste und Kriege, da die Menschen sicher waren, dass diese Veränderungen Satan und dessen Schwarm von dämonischen Alter Egos entfesseln würde und die Welt mit Sicherheit bald untergehen würde.
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...Historiker waren lange verwundert darüber, dass in den fortschrittlichsten Jahrhunderten eine Epidemie der Hexerei ausbrach; wenn man aber die Manie als Reaktion auf Wachstumspanik betrachtet, wird dies nachvollziehbar.
So richtig verstehe ich dich noch nicht. Wenn die synchrone Behandlung nicht traumatisierte, welchen feststellbaren Effekt soll sie dann auf die Entwicklung der Gesellschaft gehabt haben?
Nun habe ich die Frage aufgeworfen, ob die Schaffung von internalisierten Müttern und damit von gesellschaftlichen Motivationen nur über die massenhafte Implantierung von Traumata z. B. durch Misshandlung funktioniert, oder ob nicht auch eine kleinere Münze ausreicht, wie z. B.:
ich meine mich aber zu erinnern, dass der Platz in der Geschwisterfolge einen erheblichen Einfluß auf die Grundhaltung eines Menschen hat.
(Ich will doch nur weg von der pathologisierenden Interpretation, nämlich dass jede Kultur eine Form von psychischer Massenerkrankung sei :D)
 
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Ammen kosteten Geld, dass in der Oberschicht und der städtischen Bürgerschicht vorhanden war, dort kann man wahrscheinlich die Haus- und Nachbarschaftsammen vermuten.
Die Ausbreitung der Mode auf die unteren Schichten, mit einem den begrenzten Mitteln entsprechenden Preisgefüge, muß doch zur Folge gehabt haben, dass die Ammenpflege im Ergebnis in manchen Fällen einer Entsorgung des Nachwuchses zur Folge hatte.
Die Eltern hatten bei berufsmäßigen Ammen auf dem Lande und die Vermittlerpraxis kaum Möglichkeiten, das Wohlergehen der Kinder zu überprüfen.
Könnte es daneben nicht auch die Praxis gegeben haben, die Kleinkinder zu Verwandten ins Heimatdorf zu geben. Gab es diese Vernetzung zwischen Stadt und Land im Europa des 18. Jhdt überhaupt noch?
Und wie muß ich mir Arbeits-, Wohnbedingungen und Lebensstandard vorstellen?

Das mit den Vewadten auf dem Lande kann natürlich auch vorgekommen sein - aus der Biographie von Plattner (alerdings ein deutsches Beispiel) ist so etwas ja bekannt. Je weniger Geld, desto weiter weg gab man wohl die Kinder weg. Badinters Quellen unterscheiden in Paris verschiedene Regionen. Wen ich wieder ordentlichen Internet-Zugang habe, referiere ich gerne noch einmal genauer.
Über deine Frage nach den massenhaft synchronen Erziehungsstilen oder ähnl. denke ich noch nach und mu noch etwas recherchieren.
 
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