Die Rote Armee aus der Sicht des OKH

salvus

Aktives Mitglied
Wenn man den Feldzug bzw. Angriffskrieg gegen die Sowjetunion einmal genauer betrachtet, dann kommt man wohl zwangsläufig zum Ergebnis, daß dieser Angriffsplan schon offensichtlich im Winter 1941 fehlgeschlagen ist. Einen Plan B zu "Barbarossa" gab es nicht. Ein allzu offensichtliches Argument hinsichtlich des Scheiterns ist offenbar immer wieder die Unterschätzung der Roten Armee von deutscher Seite aus. Dies klingt immer wieder sehr einfach und auch logisch. Aber war das wirklich so?

Zur These des Präventivschlages:
Dies war wohl ein Hauptargument gegenüber den Soldaten der Wehrmacht. Viele Soldaten glaubten an den Sinn dieses Krieges gegen die SU aufgrund dieses Arguments. Aber war dieses Argument frei erfunden?
Wohl nicht. Denn schon Ludwig Beck hat in mehren Denkschriften noch als Chef des Generalstabs auf diese Gefahr hingewiesen. Bleibt die spannende Frage, ob diese These wirklich glaubhaft war.

Interessant in diesem Zusammenhang sind auch die Berichte des Militärattaches in Moskau, General Kösting. Er glaubte nicht an eine agressive Expansionspolitik der Sowjetunion aufgrund diverser "Umbrüche" in der SU. Diese Meinung stiess aber wohl bei Halder auf wenig Gegenliebe. Insgesamt war man sich aber wohl 1940 im OKH einig, daß ein Angriff der Sowjetunion eher unwahrscheinlich war.

Natürlich hat sich die Rote Armee im Winterkrieg gegen Finnland nicht "mit Ruhm bekleckert.". Aber im OKH war man sich offensichtlich sicher, daß man in der SU hierauss entsprechende Schlüsse ziehen würde.

Nun gab es natürlich Schätzungen bezügl. Fremde Heere Ost hinsichtlich der personellen und materiellen Stärke der roten Armee. Wie realistisch diese waren, entzieht sich meiner Kenntnis. Vieleicht können andere in diesem Forum dies beurteilen.

Interessant finde ich, daß das OKH durchaus darüber informiert war, das diverse Rüstungsbetriebe bis hinter den Ural verlegt worden sind. Auch die Bewaffnung wurde als durchaus modern eingeschätzt. Köstring hob auch die Entwicklung des "normalen" Sowjetsoldaten hervor. Den "braven Muschik" aus dem 1. Weltkrieg gab es nicht mehr. Vielmehr war dem OKH wohl klar, daß durch die Organisation der roten Armee, der Soldat durchaus bereit war "an seinem Standort zu sterben, anstatt zurückzuweichen."
Diverse Erkentnisse über die rote Armee kamen dann auch in einer Dienstschrift zutage:
"Die Kriegswehrmacht der UdSSR ".

Zusammenfassend wurde die Rote Armee zwar nicht als hochmodern, dennoch aber modern eingestuft. Die wesentlichen negativen Merkmale bezogen sich wohl auf das Fehlen einer mittleren bzw. hohen Führungsriege (Stichwort Säuberungsstrategie), sowie die Unfähigkeit zum modernen Bewegungskrieg. Allerdings ging man wohl davon aus, das die Rote Armee insbesondere im Verteidigungskrieg besondere Leistungen erbringen könnte.
"Die Fähigkeit, auch bei Niederlagen und unter starkem Druck passiv auszuharren, entspricht besonders dem russischem Charakter." Vieleicht setzte man im Deutschen Reich auch auf eine Art Auseinanderbrechen der Sowjetunion. Das dies nicht geschehen würde, meinte allerdings schon Botschaftsrat Herwarth.

Bleibt die Frage, ob man hier von einer grundsätzlichen Unterschätzung der Roten Armee überhaupt sprechen kann.
Oder wollte das OKH die Gefahren eines solchen Krieges garnicht sehen, bzw. ignorieren. Vieleicht auch aus ideologischer Sicht, bzw. aus Rücksicht auf Hitlers Pläne? Hat man die möglichen Schwächen der Roten Armee überinterpretiert und die Stärken heruntergespielt?
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein allzu offensichtliches Argument hinsichtlich des Scheiterns ist offenbar immer wieder die Unterschätzung der Roten Armee von deutscher Seite aus.

Halder stellt fest (4.4.1941, Bd. 2, S. 344), dass FHO seine Schätzungen hinsichtlich der Stärke der Roten Armee (RKKA) nach oben korrigieren muss. Man hatte ein durchaus verläßliches Gerüst, was die WM zu erwarten hatte. Insofern ist die Vorstellung, man sei "blauäugig" ind die Sowjetunion "hineingestolpert" sicherlich nicht korrekt.

Es ist jedoch auch deutlich zu sagen, dass die Zahlen teilweise irreführend sind, da man die Rote Armee via grenznaher Kesselschlachten durch den Zusammebruch von Führung und Logistik schlagen wollte, so die Theorie des "Blitzkrieges". Was ja auch bis Smolensk bzw. Kiew sehr erfolgreich als Konzept umgesetzt worden ist. Es war der Kampf der "verbundenen Waffen", angereichert durch extreme Schwerpunktbildung und ergänzt durch schnelle und tiefe Vorstöße.

Da war die Menge bzw. die Masse an gegnerischen Truppen eher ein nachrangiges Problem der Logistik, diese als Gefangene zu versorgen, wie im Forum ja auch schon diskutiert.

http://www.geschichtsforum.de/f68/spionage-aufkl-rung-und-feindeinsch-tzung-35618/

Hinsichtlich der "Tiefenrüstung" der sowjetischen Schwerindustrie lagen vermutlich weder ausreichende Informationen vor, noch war man bereit Hinweise auf eine leistungsfähige Rüstungsindustrie ernst zu nehmen.

Diese war, unter Berücksichtigung von auch amerikanischen Ingenieure, teilweise als Fließbandfertigung in den 30er jahren aufgebaut worden.

Operativ wurde man zu Begin des Krieges trotz Luftauklärung überrascht, dass mehr Infantrieverbände und weniger Panzerverbände im grenznahen Gebiet verortet worden sind. Zudem ist die Reoganisation der Mech-Korps nicht erkannt worden (vgl. Glantz: Borderbattles)

Die Aktionen der RKKA in Finnland wurden als Beleg für ihre mangelhafte Fähigkeit interpretiert, einen modernen Krieg zu führen.

Dabei hat man jedoch auch übersehen, dass Schukow in Fernost - zwar mit einem hohen Marterial- und Mitteleinsatz - aber dennoch erfolgreich gegen japanische "Elite-Einheiten" agiert hat.

Zur These des Präventivschlages:
Dies war wohl ein Hauptargument gegenüber den Soldaten der Wehrmacht. Viele Soldaten glaubten an den Sinn dieses Krieges gegen die SU aufgrund dieses Arguments. Aber war dieses Argument frei erfunden?
Wohl nicht. Denn schon Ludwig Beck hat in mehren Denkschriften noch als Chef des Generalstabs auf diese Gefahr hingewiesen. Bleibt die spannende Frage, ob diese These wirklich glaubhaft war.

Glaubhaft, vielleicht. Und es gab sicherlich genügend, die es noch 1945 geglaubt haben. Von Liddel Hart (Deutsche Generale des Zweiten Weltkriegs, S. 146) wird Rundstedt angeführt, der Hitler als den "Treiber" für den Vernichtungs-Feldzug gegen die Sowjetunion ansah und die entpsrechenden Informationen für die Generalität bereitstellt. Und Rundstedt sagte: "ich für meine Person hegte erheblichen Zweifel udn ich fand kaum eine Bestätigung, als wir die Grenze überschritten." (ebd. S. 146).

Zu der Frage, ob und in welchem Umfang Stalin für 1941 einen Krieg geplant haben könnte ist unter folgendem Link ausreichend Info vorhanden.

http://www.geschichtsforum.de/f68/der-shukow-wassilewski-plan-vom-mai-1941-a-20657/

Bleibt die Frage, ob man hier von einer grundsätzlichen Unterschätzung der Roten Armee überhaupt sprechen kann.

Der Zustand der RKKA war im Jahr 1941 verheerend. Insofern konnte man die eher überschätzen, aber kaum unterschätzen.

Mit dem Ergebnis, dass die RKKA, die im Juli 1941 im Feld stand am Ende des Jahres nahezu ausgelöscht war.

Und nur die Tiefenrüstung der sowjetischen Wirtschaft respektive Rüstungswirtschaft, der harte Widerstandswille des politischen Regimes und seiner Kader (Stichwort: Kommisarbefehl etc.), die Bereitschaft sich der neuen Kriegsführung anzupassen und nahezu grenzenlose Opfer - nicht selten auch erzwungen, aber auch freiwillig - zu erbringen können erklären, dass Moskau im Jahr 1941 gehalten werden konnte.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn es salvus interessiert, kann ich die Einschätzungen der Roten Armee als Quellen einstellen, die vom OKH an die Heeresgruppen gegeben worden sind. Das ist schon ein recht differenziertes Bild.
 
Hier ein Anfang:
- Darlegung der weit fortgeschrittenen Industrialisierung im Ural
- Darlegung des "2. Baku-" Ölgebietes nördlich des Kaspischen Meeres
- Stärkeschätzung der Roten Armee mit Stand Januar 1941: 300 Großverbände. Panzerproduktion>5000 pro Jahr.

Quelle: Feindlageberichte OKH an Heeresgruppe Süd.
 

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@silesia:

Vielen Dank für diese Angaben!

Die Zahlen aus der letzten Graphik liegen auch mir vor.
Gibt es entsprechende Vergleichszahlen zur tatsächlichen Stärke der Roten Armee zu diesem Zeitpunkt?
 
Gibt es entsprechende Vergleichszahlen zur tatsächlichen Stärke der Roten Armee zu diesem Zeitpunkt?

Die Gesamtzahlen bzgl. der Heeresstärke dürften in etwa stimmen, berücksichtigen jedoch in angemesser Weise die Mobilisierungskapazitäten der Roten Armee. Dieser "Schätzfehler" dürfte auf die grundsätzliche Prämisse der deutschen Operationsplanung beruhen, den Feldzug im Osten binnen weniger Monate zu entscheiden zu können. Aber man hatte bereits die Mobilisierung im Verlauf der Monate 1941 unterschätzt.

Der wesentliche, für den Feldzug 1941 jedoch nicht entscheidende Fehler lag in der Unterschätzung der sowjetischen Panzerstärken (im Westbereich konnte man das glatt verdoppeln, allerdings befand sich das Material wiederum zur Hälfte in schlechtem Zustand).

Völlig unterschätzt bzw. überhaupt nicht erkannt wurde die gerade angelaufene Umstellung der Roten Armee auf "Mechanisierte Korps", mit rd. 1000 Panzern in der Zusammensetzung (2 PD, 1 mot. SchützenD). Diese mechanisierten Korps brachen - zum Teil mit veraltetem oder abgewirtschaftetem Material ausgestattet - zwar im Nord- und Mittelbereich schnell zusammen, waren aber gerade im Bereich der Südfront für erhebliche Verzögerungen des deutschen Vormarsches 1941 verantwortlich. Insbesondere die wenigen, schon mit T34 und KW1 in großer Stückzahl ausgestatteten MechKorps brachten Probleme.

Die sowjetische Luftwaffe spielte im Feldzugverlauf 1941 nur eine untergeordnete Rolle. Zahlreiche Verbände waren gleich zu Beginn, dann in wenigen Wochen zerschlissen oder vernichtet.
 
Ende November 1939 erhielt Generalmajor Karl Hollidt, Chef des Generalstabes beim Oberbefehlshaber Ost (Oberost), den Auftrag, sich mit der Frage zu befassen, wie die Grenze im Osten gesichert werden könne, wenn das Gros des Heeres im Westen gebunden sei.


Hollidt ging von 150 russischen Divisionen aus, die aber nur teilweise gegen Deutschland eingesetzt werden könnten. Außerdem unterstellte der Generalmajor der sowjetischen Seite dem späteren Gegner mangelnde operative Schulung vor (vgl. Ernst Klink, Die militärische Konzeption des Krieges gegen die Sowjetunion, in: Der Angriff auf die Sowjetunion, Frankfurt/M. 1996, S. 250. Ich richte mich nach der Ausgabe, die als Taschenbuch bei Fischer erschienen ist. In Zukunft als Klink, Konzeption, zitiert).


Im Oberkommando des Heeres versuchte man, in den nächsten Monaten die militärische Schlagkraft der Roten Armee zu analysieren. Man registrierte, dass es innerhalb der sowjetischen Streitkräfte Entwicklungen gab, die Stellung und den Einfluss der Offiziere zu stärken. Trotzdem glaubte man, dass die Rote Armee Mängel aufwies: Es fehlte an erfahrenen und gut ausgebildeten höheren Offizieren; das Ausbildungsniveau der Truppe und der Nachschub an modernen Waffen ließen teilweise zu wünschen übrig (vgl., Klink, Konzeption, S. 258).


Vielleicht sollte man nicht von Unterstützung, sondern von Geringschätzung der sowjetischen Truppen sprechen. Mit einem Angriff der Sowjetunion rechnete man im Generalstab des Heeres nicht.
 
Hollidt ging von 150 russischen Divisionen aus ...

Im Oberkommando des Heeres versuchte man, in den nächsten Monaten die militärische Schlagkraft der Roten Armee zu analysieren. Man registrierte, dass es innerhalb der sowjetischen Streitkräfte Entwicklungen gab, die Stellung und den Einfluss der Offiziere zu stärken. Trotzdem glaubte man, dass die Rote Armee Mängel aufwies: Es fehlte an erfahrenen und gut ausgebildeten höheren Offizieren; das Ausbildungsniveau der Truppe und der Nachschub an modernen Waffen ließen teilweise zu wünschen übrig .

Das Bild war recht konstant zwischen September 1939 und Mai 1941.

Hier der Zwischenbericht beim OKH, der von Dir angesprochen worden ist (liegt mir vor, die ersten zwei Seiten zur Veranschaulichung). Folgeberichte gab es ständig, ua. im Rahmen der Kriegsplanentwürfe verstärkt ab August bis Dezember 1940, danach "Updates" bis Mai 1941 kurz vor dem Überfall.

Die Zahl 150 bezieht sich im gesamten Zeitraum (nur) auf die stehenden Kräfte, bei der Mobilisierung steigt das entsprechend. Bei der Prognose des Mob.-"Zuwachses" liegen die entscheidenden Schätzfehler der deutschen Prognosen vor.
 

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Hier noch ein weiteres interessantes Dokument zur Planung des Rußland-Feldzuges bei der Heeresgruppe Nord.

Besorgnisse über einen russischen Angriff finden sich dort nicht. Vielmehr werden unter dem Angriffstermin Ende Juni 1941 bereits detaillierte Überlegungen angestellt, wie die baltischen Ostsee-Inseln zu besetzen sind. Das ist ganz interessant, weil dies den zügigen Vormarsch ins Baltikum bis vor Leningrad voraussetzt.

Die Inseln waren ein Problem, wegen der Sicherung der Nachschublinien über den Schifffahrt-Küstenverkehr, und der antizipierten Stärke der Roten Flotte in der Ostsee. Hier rechnete man mit einem aktiven Auftreten, und nicht mit Rückzug in den Finnischen Meerbusen.

Startseite des Memorandums zu Operationsplanungen für die Besetzung von Oesel etc., und Stellungnahme des OB GFM Ritter von Leeb:
 

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