Die Szene vom 28. Januar 1809

excideuil

unvergessen
In einem Link:
http://www.zeit.de/2003/18/A-Louisiana/seite-2
den ich zu einem anderen Thread gesetzt habe, finden sich auch diese 2 Sätze:
„Auch die Tatsache, dass sich Livingston gegen Talleyrands Forderung nach einer Verhandlungs-„Gebühr“ von rund 250000 Dollar für die Privatschatulle des Ministers als besonders taub erwies, trug nicht gerade dazu bei, das Amerika-Bild des Franzosen aufzuhellen. Napoleon mochte seine Gründe gehabt haben, als er Talleyrand „ein Stück Scheiße in Seidenstrümpfen“ nannte.“

Ich bin schon ein wenig erstaunt, dass sich im 21. Jahrhundert immer noch ein solch plakatives Pauschalurteil findet, zumal in der Szene vom 28. Januar 1809 Bestechung keine Rolle spielte. Vllt. verdient diese wohl historisch einmalige Szene und ihre Zusammenhänge einmal einer genaueren Betrachtung.

1. Kleine Einführung

Das Verhältnis zwischen Napoleon und Talleyrand füllt ganze Bücher. Ich bescheide mich mit einer kurzen Schilderung.
Instinktiv fanden beide Machtmenschen zueinander, ohne einander vorher begegnet zu sein, hier die ersten Briefe:

„Paris, 24 Juli 1797
General!
Hierdurch habe ich die Ehre, Ihnen anzuzeigen, dass mich das Direktorium der Republik zum Minister der Auswärtigen Angelegenheiten ernannt hat. Ich fühle ganz die schwere Verantwortlichkeit, welche dies Amt mir auferlegt, aber auch zugleich eine innere Beruhigung in dem Gedanken, dass Ihr ruhmvoller Name mir bei den Unterhandlungen kräftig zur Seite stehen wird. Dieser Name wird mich alle Schwierigkeiten leicht überwinden lassen.
Ich werde mich beeilen, Ihnen alle Anordnungen und Wünsche, die Ihnen das Direktorium durch mich zugehen lassen wird, schleunigst zu übermitteln, wobei ich nur bedauere, dass der Ihren Berichten immer vorauseilende Ruf Ihrer Taten mir wohl nur selten Gelegenheit geben wird, der hohen Körperschaft Neues mitzuteilen.“ [1/ Seiten 199/200]

Prompt die Antwort Bonapartes:
„Mailand, 5. August 1797
Ihre Wahl zum Minister des Auswärtigen macht der Einsicht der Regierung alle Ehre. Sie stellt hiermit unter Beweis, dass Sie in Ihnen einen Mann von großen Talenten und den aufgeklärten Bürger erkannt hat, der die Irrwege der Revolution nicht geht.
Es schmeichelt mir, oft mit Ihnen korrespondieren zu müssen und Sie so von der Hochschätzung und der Achtung, die ich für Sie hege, überzeugen zu können.
Gruß und Bruderkuss. Bonaparte“ [2/Seite 34]

Beide Briefe sind Meisterwerke. Unverständlich ist mir, dass Napoleons Brief keinen Eingang in seine offizielle Korrespondenz gefunden hat. Es folgen der Feldzug in Ägypten, der 18./19. Brumaire. Talleyrand wurde einer der wenigen Ratgeber, die das Recht hatten, mit dem Konsul allein zu reden. Für mich so unendlich schade, dass es von diesen Gesprächen so gar keine Aufzeichnungen gibt!

Ihre Herkunft war völlig gegensätzlich. Der eine ein korsischer Landadliger, der in seiner Jugend korsische Familienfehden erlebte und mit der Revolution eine steile militärische Karriere begann und sich mehr auf dem Schlachtfeld, denn in den Salons wohl fühlte; der andere ein franz. Hocharistokrat, der durch die Schule der Kirche gegangen war und in die Revolution herabgestiegen war, mit dem Directoire seine zweite Karriere begann und in seinem Äußeren, seinem Auftreten und seiner Lebensweise dem Ancien régime verhaftet blieb. Ein Umstand, der auch immer eine Rolle spielen sollte. Talleyrand verstand sich lange Zeit als eine Art Mentor, während Napoleon die Beziehung nüchterner sah, sich aber auch nie wirklich der Faszination des Hocharistokraten entziehen konnte.

Die politischen Gegensätze traten bereits mit dem Bruch des Friedens von Amiens hervor. Talleyrand wollte den Frieden unbedingt erhalten, war sogar zu Konzessionen bereit [vgl. 3/ Seite 231] In den Folgejahren versuchte der Minister dahingehend zu wirken, „um Frankreich die Institutionen einer gemäßigten Monarchie zu geben und um Europa schonend zu behandeln, dass es Frankreich dessen Glück und Größe nicht neide.“ [3/ Seiten 229/30]

1807 erfolgte der Rücktritt Talleyrands vom Außenamt, nachdem er erkennen musste, dass sein Bestreben, Frankreich in ein neues europäisches Gleichgewicht einzubinden, gescheitert war: „Das dort (Tilsit) von Napoleon mit Zar Alexander vereinbarte Bündnis, das dem Gedanken an ein europäisches Gleichgewicht Hohn sprach, eine Verständigung mit Österreich und erst recht einen Frieden mit Britannien in unerreichbare Ferne rückte, widersprach so sehr den grundlegenden Maximen seines politischen Denkens, dass er noch in Tilsit um die Entlassung aus seinem Amt nachsuchte.“ [3/ Seite 229]

Einige Biografen schreiben, dass Napoleon ihn entlassen hätte. Als Begründung dazu wird seine Bestechlichkeit angeführt. Napoleon sagt dies selbst, widerspricht sich damit allerdings, weil er genau die Klagen einiger Fürsten vorher abwiegelte, da Talleyrand „ein großer Mann“ sei:
„Auf St. Helena sagte Napoleon zu Las-Cases: „Die Könige von Bayern und Württemberg haben sich so oft bei mir über seine Geldgier beklagt, dass ich ihn als Minister entließ.“ [2/ Seite 217] Dies ist nicht überzeugend, ging doch sein Rücktritt mit einer Rangerhöhung einher. Die Ernennung seines Nachfolgers Champagny erfolgte zudem mit einer größeren Kabinettsumbildung. So verlor Berthier sein Ministeramt an Clarke. Talleyrand erhielt das Amt eines „vice grand elécteurs“ und er war damit (ungeachtet der kaiserlichen Familie) nach Cambacérès und Lebrun der dritthöchste Großwürdenträger des Kaiserreiches. Zudem bekleidete er weiterhin das Hofamt des Großkämmerers, hatte also weiterhin jederzeit Zutritt zu den Räumen des Kaisers. Ungnade sieht anders aus; Napoleon wollte sich auch weiterhin des Rates seines Ex-Ministers versichern.

„Talleyrands Demission kam dem Kaiser offenbar gelegen, da er mit ihm einen ständigen Mahner zur Mäßigung los wurde. „ [3/ Seite 235] Aber wohl auch aus diesem Grund: „Napoleon behauptete zwar, er sei der einzige Mensch, mit dem er reden könne, nur wünschte er um alles nicht, dass er für unentbehrlich gelte oder sich dafür hielte, denn es war ihm schließlich unangenehm geworden, dass man seinen Minister und nicht ihm selbst eine Anzahl seiner Erfolge anrechnete.“ [4/ Seite 221]

Unbedingt angemerkt werden muss, dass Talleyrand sich auf dem Höhepunkt des Empire vom politischen Kurs des Kaisers abwendete und nicht im Augenblick der offensichtliche Niederlage! Dass er damit Abschied von der Politik nahm, konnte niemand erwarten, jetzt unter anderen Bedingungen:
„Es ist einer der schwersten Fehler der Autokratie oder unumschränkten Einzelherrschaft als Regierungsform, dass sie keinen Raum für eine gesetzmäßige Opposition lässt. Der einzelne Untertan, der ehrlich davon überzeugt ist, dass sein Land leidet und infolge schlechter politischer Führung auch weiterhin leiden wird, hat zwischen zwei Wegen zu wählen: entweder er muss beim Untergang seines Landes ein untätiger Zuschauer sein, oder er muss zur Abwendung des Unheils Schritte tun, die von seinen Feinden als Landesverrat bezeichnet werden. Offene Opposition ist Empörung oder Landesfriedensbruch, heimliche Opposition wird zum Hochverrat; und doch kann es Voraussetzungen geben, durch die ein solcher Landesverrat zur Pflicht eines vaterlandsliebenden Mannes wird.“ [5/ Seite 139]

Napoleon versuchte, Talleyrand – den er auf Grund seiner Beziehungen zu den fremden Mächten und auf Grund seiner Fähigkeiten für die erste Wahl hielt - im Zusammenhang mit der Zusammenkunft mit Alexander I. in Erfurt für seine Ziele einzusetzen. Talleyrand hingegen versuchte, dem Zaren zur Kenntnis zu geben, dass es ein Frankreich gab, welches nicht mit den Zielen Napoleons übereinstimmte und dass sich der Zar nicht gegen Österreich von Napoleon einspannen lassen sollte. Mit Erfolg. Dieser „Verrat“ richtete sich aber nicht gegen die Person Napoleons – Talleyrand hielt ihn auch 1808 für Frankreich für unverzichtbar - sondern gegen die hegemonialen Ziele des Kaisers (1) und ist damit m.E. als weiterer Versuch zu werten, ein Gleichgewicht der Mächte in Europa herzustellen, jetzt allerdings mit Hilfe der europäischen Mächte, u.a. mit dem Ergebnis, dass Rußland mit Nesselrode und Österreich mit Floret im Nachgang der Zusammenkunft Diplomaten bei Talleyrand akkreditierten. Napoleon wusste von alledem nichts, im Gegenteil, im Schlitten aus Rußland bekannte er Caulaincourt, dass er als Verräter den Marschall Lannes ausmacht hätte [Vgl. 6/ Seite 420] Von den tatsächlichen Vorgängen hat ihn Caulaincourt nie in Kenntnis gesetzt.

(1) Zu Erfurt schrieb Metternich:
„Talleyrand zufolge erfordert es das Interesse Frankreichs, dass die Mächte, die imstande sind, Napoleon die Stirn zu bieten, sich zusammenschließen, um einen Deich gegen seinen unersättlichen Ehrgeiz zu errichten. Napoleons Sache sei nicht mehr die Frankreichs, Europa könne nur gerettet werden durch die engste Union zwischen Österreich und Rußland.“ [6/ Seite 417], Bemerkenswert ist neben der Trennung der Interessen Frankreichs und denen Napoleons, dass Talleyrand Frankreich und Europa immer im Zusammenhang betrachtet.
 
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Der Graf Metternich als österr. Botschafter in Paris schilderte in einem Brief an seinen Minister Graf Stadion am 24. September 1808 die Stellung Talleyrands:

„Wenn man die Stellung des Herrn von Talleyrand richtig beurteilen will, so muss man in Paris sein, und zwar muss man sich hier schon eine Weile aufhalten. Bei Herrn von Talleyrand muss man die sittliche Persönlichkeit von der politischen Persönlichkeit trennen. Wenn er sittenstreng wäre, so wäre er nicht das geworden, was er heute ist. Andererseits ist er immer und zuerst Politiker, und als Politiker ist er ein Mann von klarem Zielbewusstsein.
Es gibt in Frankreich zwei Parteien, die zueinander in so scharfem Gegensatz stehen wie der wahre Nutzen Europas zu den persönlichen Gedanken und Absichten des Kaisers. An der Spitze der einen Partei steht der Kaiser mit allem, was aus Beruf und Überzeugung Soldat ist. Er hat nur den einen Wunsch: Seine Macht gewaltsam zu erweitern – Napoleon kennt in Frankreich nur sich selbst, in Europa, ja, in der ganzen Welt nur seine Familie. – Die andere Partei besteht aus der großen Masse des franz. Volkes, freilich einer trägen und unformbaren Masse – an der Spitze dieser Masse stehen die bedeutenden Persönlichkeiten der politischen Führung, Herr von Talleyrand, der Polizeiminister (Fouché) und alle, für die ein Vermögen auf dem Spiel steht.“ [5/ Seite 161, Original 7/ Seiten 240-3]

2. Vorgeschichte und Anlass

„Zu Beginn des Novembers 1808 ließ Napoleon die Schwenkung der Großen Armee gegen Spanien vornehmen und reiste selbst dorthin ab. Tieferbegründetes Misstrauen hatte er immer noch nicht gegen Talleyrand und so empfahl er ihm vor der Abreise, er möchte doch wenigstens viermal in der Woche den Ministern, den Staatsräten, den Mitgliedern des Senates und der gesetzgebenden Körperschaft ein Essen von sechsunddreißig Gedecken geben, „um ihnen zu ermöglichen sich zu sehen. So können Sie auch die führenden Männer unter ihnen kennen lernen und ihre Dispositionen günstig beeinflussen.““ [2/ Seite 286]

Man muss wohl zweimal lesen, um die Möglichkeiten dieses Auftrages zu ermessen. Interessant auch, dass über die Finanzierung keine Silbe verloren wird. Natürlich entsprach Talleyrand den Wünschen Napoleons.

Allerdings auf seine Weise: „Überall ließ er seine Kritik gegen Champagny und Maret durchblicken, vor allem gegen die Art und Weise, wie die spanische Affäre mit ihrem Einverständnis durchgeführt wurde.“ [2/ Seite 288]
Der spätere Herzog Pasquier zitiert Talleyrand dazu:
„„Dass man die bourbonische Dynastie aus Spanien verjagen wollte, das war das einfachste Ding von der Welt, und vllt. auch das notwendigste, um die Herrschaft der napoleonischen Familie fest zu sichern. Aber wozu alle diese Listen, Kunstgriffe, Treulosigkeiten? Warum nicht einfach den Krieg erklären? An Vorwänden dazu hätte es doch nicht gefehlt! In diesem Kriege würde die spanische Nation völlig neutral geblieben sein. Sie war sogar für Napoleons Ruhm geradezu begeistert und hätte ohne das mindeste Bedauern ihre heruntergekommene Dynastie stürzen sehen. Nach ein paar schwach bestrittenen Gefechten des regulären Heeres hätte die ganze Halbinsel mit Freuden das Szepter eines Hauses anerkannt, das bereits in Frankreich so glorreich an die Stelle jener Dynastie getreten war, die einst Spanien seinen fünften Philipp gegeben hatte. So hätte Napoleon mit leichter Mühe die ganze Erbschaft Ludwig XIV. an sich bringen können.““ [8/ Seite 69]

Dies musste dem Kaiser aufstoßen. Pasquier bemerkt dazu nicht zu Unrecht: „Sicherlich zeugten die Bemerkungen von einer sehr gesunden Auffassung der ganzen Sachlage, und ihre Richtigkeit ließ sich kaum bestreiten. Aber gerade darum mussten sie Napoleon tief verletzen, zumal da sie aus dem Munde seines früheren Ministers, eines Großwürdenträgers seines Reiches kamen.“ [8/ Seite 69]

Eine Erklärung liefert Cooper:
„Es war damals seine politische Absicht, die Keimzelle einer offenen Opposition zu bilden, um die sich alle Missvergnügten im Lande sammeln könnten und die schließlich stark genug würde, um Napoleon, wenn auch nicht stürzen, so doch zu zwingen, dass er den politischen Kurs einschlüge, den alle Gemäßigten wünschten.“ [5/ Seiten 160/1]

Eine weiterer liegt in den Handlungen Napoleons:
„Am 9. Mai (1808), an demselben Tag, an dem Joseph zum König von Spanien ernannt wurde, schrieb der Kaiser an Talleyrand und teilte ihm mit, dass der Fürst von Asturien, sein Bruder und sein Onkel in Valançay interniert werden sollten. „Da er daran festhielt“, sagte Talleyrand, „die Welt glauben zu lassen, ich billige seine Pläne, so wählte er ausgerechnet meinen Besitz Valançay, um dort die span. Prinzen und deren Onkel gefangen zu halten…“ [2/ Seiten 237] Talleyrand kam damit schon um seine internationale Reputation nicht umhin, öffentlich zu bekunden, dass er mit den Maßnahmen Napoleons nicht einverstanden war.

In dem Brief – der auch nicht in der offiziellen Korrespondenz Napoleons zu finden ist – steht u.a.:
„Auf Grund des mit König Karl geschlossenen Vertrages habe ich mich verpflichtet, diesen Fürsten 400000 Franken jährlich zu geben. Sie beziehen mehr als das aus ihren Pfründen. Sie werden also für sich zu dreien drei Millionen zur Verfügung haben.“ [2/ Seite 239]
Talleyrand war gewiss nicht arm und sicherlich hatte Napoleon seinen Teil zum Kauf des Schlosses aufgewendet, dennoch, kann ein Kaiser mit solchen Maßnahmen Zustimmung und Freunde erwerben? Talleyrand fügte sich natürlich, was blieb ihm auch übrig.

Aber an einem anderen Fakt – besser einer Sensation - lag auch die schnelle Rückkehr Napoleons aus Spanien zugrunde:
Die Versöhnung von Talleyrand und Fouché. Jahrelang hatte ihre Fehde die Pariser ergötzt und den Kaiser in Sicherheit gewiegt:
„D’Hauterive, ein ehemaliger Oratorianer wie Fouché, und ein alter Freund Talleyrands und Abteilungschef im Ministerium des Auswärtigen hatte es fertig gebracht, diese beiden Männer einander wieder zu nähern.“ [2/ Seite 288]

Dazu Zweig:
„Fouchés Methode ist die analytische, die Talleyrands die visionäre; sein Talent der Fleiß, Talleyrands die geistige Geschwindigkeit: kein Künstler könnte ein besseres Gegensatzpaar erfinden, als die Geschichte es an diesen beiden Gestalten, in dem trägen und genialem Improvisator Talleyrand und dem tausendäugigen wachen Rechner Fouché, neben Napoleon gestellt hat, neben das vollkommene Genie, das beider Begabung in sich bindet, Weitblick und Nahblick, Leidenschaft und Fleiß, Weltwissen und Weltvision.
Niemand aber hasst sich erbitterter als verschiedene Spezies der gleichen Rasse. Darum verabscheuen aus innerstem Instinkt, aus genauer bluthafter Kenntnis einander Talleyrand und Fouché. Vom ersten Tage ist dem Grandseigneur dieser emsige Kleinarbeiter, Berichtestoppler, Nachrichtenzuträger, dieser kalte Späher Fouché zuwider, und Fouché seinerseits erbittert sich über die Leichtfertigkeit, die Verschwenderei, die verächtlich-noble und faulenzerisch-frauenhafte Lässigkeit Talleyrands.“ [9/ Seite 168]

Mag Zweig sehr prosaisch sein, die Inszenierung des neuen Verhältnisses der besten Minister des Kaiserreiches war bühnenreif:
Talleyrand hatte Anfang Dezember 1808 einen größeren Empfang als die von Napoleon verlangten „sechsunddreißig Gedecke“ im Hôtel de Monaco gegeben. Mit wohldosierter Verspätung traf Fouché ein, der vorher nie einen Fuß über die Schwelle des Palais von Talleyrand gesetzt hatte. Die Gäste waren erstaunt, besser völlig verblüfft. Der Gastgeber kam freudestrahlend auf ihn zu, begrüßte ihn mit formvollendeter Höflichkeit wie einen alten Freund, hakte sch bei ihm ein. Beide gingen lächelnd an den Gästen vorbei, um sich dann etwas abseits zu unterhalten…
Keine Frage, diese Nachricht verteilte sich in Windeseile über den Kontinent …

Auch keine Frage, dass die beiden keine Freunde wurden, weil sie zusammen Whist spielen wollten. Bald gab es Gerüchte über eine Verschwörung in Paris:
„Der Plan war folgender: Für den Fall, dass Napoleon sterben sollte, galt es vor allen Dingen, sofort im ersten Augenblick einen Mann auf seinen Platz zu setzen – unter Vorbehalt etwaiger späterer anderer Entschlüsse.“ [8/ Seiten 71-72]
Als erste Lösung war Murat, dessen Ehrgeiz bekannt, seine politischen Fähigkeiten aber dergestalt waren, dass er später ersetzt werden konnte, Talleyrand und Fouché aber die Fäden in der Hand behielten. Die „Affäre“ war also nur mehr oder weniger eine Neuauflage der Krise von Marengo. Joseph sollte der Nachfolger Napoleons für den Fall seines Todes werden sollte. Hintergrund war in beiden Affären, dass durch den möglichen plötzlichen Tod des Konsuls/Kaisers durch die nicht/unzureichend geregelte Nachfolge ein Machtvakuum vermieden und das Reich als solches mit allen gesellschaftlichen Errungenschaften gesichert werden sollte. Joseph (2) hatte sich allerdings 1808 mit seiner Flucht aus Madrid unmöglich gemacht, es sollte dieses Mal ein Militär sein und Fouché besaß gute Kontakte zum König Joachim und Königin Caroline.

(2) Im Zusammenhang mir der Schlacht von Pr. Eylau sei erwähnt, dass Talleyrand Joseph als Nachfolger sah:
„Was hätten wir tun sollen, wenn Napoleon getötet worden wäre? Was sollen wir tun, wenn das nächstens eintritt? Fragte Talleyrand Dalberg. „Und die Folgerung war damals, man müsse seinen Bruder Joseph zu seinem Nachfolger bestimmen und in aller Eile dem gesamten Europa mitteilen, dass Frankreich unmittelbar und ohne jeden Vorbehalt hinter seine Rheingrenze zurückginge.“ [2/ Seite 213]
 
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„Man gab also dem neuen König von Neapel zu wissen, er möge sich bereit halten, auf den ersten Wink zu kommen, um in Frankreich die hohe Aufgabe zu erfüllen, die seiner harre. Der Brief oder der Bote, der ihn trug, wurde in Italien vom Prinzen Eugen abgefangen, der ohne Zweifel von Herrn de Lavalette zu peinlichster Achtsamkeit aufgefordert war. Der Vizekönig berichtete, ohne einen Augenblick zu verlieren, alle Einzelheiten seiner Entdeckung nach Spanien an Napoleon, und der Kaiser kehrte mit solcher Schnelligkeit nach Paris zurück, dass er an mehreren Stellen, wo die Wege schlecht waren, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit zu Pferde stieg.“ [8/ Seiten 72-73]

Napoleon brach am 17. Januar 1809 in Valladolid auf, war am 18. in Burgos, am 19. in Bayonne und traf bereits am 23. in den Tuilerien ein, „worüber nicht einmal Cambacérès unterrichtet worden war. Der Erzkanzler wurde unverzüglich herbeizitiert, er traf den Kaiser wütend und tobend an: Talleyrand und Fouché seien Verräter, die nur durch die schlimmsten Absichten zusammengeführt worden seinen, Cambacérès hatte indes den Eindruck, dass der Kaiser dem Komplott selbst nur geringe Wichtigkeit beimaß (3); er hielt es für kindisch, auch war nicht bewiesen, dass die Ausführung erst nach seinem Tode erfolgen sollte, und der Kaiser, nur an sich selbst denkend, kümmerte sich wenig darum, ob Joseph oder Murat nach seinem Tod an seine Stelle treten sollten. Hingegen war er außer sich über das, was Talleyrand über den span. Feldzug gesagt hatte. Dem Erzkanzler gegenüber, der vor Ratlosigkeit verstummt war, erging er sich in harten Worten über den Fürsten von Benevent, Cambacérès ahnte sogleich, dass der Kaiser Talleyrand zum Sündenbock für das Komplott machen würde.“ [10/ Seite 174]

(3) Zweifel meldet auch Johannes Willms an:
Es bleiben allerdings Zweifel, ob Napoleon diese angebliche Verschwörung wirklich ernst genommen hat. Für ihn bot sich eine willkommene Gelegenheit, Talleyrand, dessen Umtriebe ihm sicherlich schon seit längerem missfielen, einmal richtig zusammenzustauchen. Es war ein heilsames Exempel für andere Großwürdenträger seines Hofes. Mit der Verschwörung ließ sich auch die Abreise aus Spanien begründen, ohne das Gesicht zu verlieren. Nach seiner Ankunft in Astorga am 1. Januar 1809, wo er seinen von den Gewaltmärschen arg strapazierten Truppen eine Ruhepause gönnen musste, begann es Napoleon zu dämmern, dass ihm Sir John Moore entwischt war. Einem solchen Ende des von ihm geführten span. Feldzugs, das einer Niederlage gleichkäme, durfte er sich nicht aussetzen. Deshalb übertrug er an jenem 1. Januar das Kommando für die weiteren Operationen Marschall Soult, der in der Tat zusehen musste, wie Moore seine Truppen zwischen dem 14. und 17. Januar 1809 in La Curuňa einschiffte. In der Nähe eines solchen Geschehens war für einen Napoleon kein Bleiben.“ [11/ Seite 493]

Zweifel sind schon deshalb angezeigt, weil in der Szene selbst die „Verschwörung“ keine Rolle spielte, Napoleon sicher sein konnte, dass beide viel zu sehr dem Kaiserreich verhaftet waren als dass sie aus seinem gewaltsamen Tod durch ein Mordkomplott Nutzen ziehen konnten. Im Grunde war die „Verschwörung“ nichts als Vorsorge für die Zukunft für den Fall seines Todes auf dem Schlachtfeld und für Napoleon die Erinnerung, dass er seine Nachfolge doch endlich regeln möge.

Und noch ein Grund gibt es für die Rückkehr: der bevorstehende Krieg gegen Österreich:
„Am 20. Januar zeigte Talleyrand Metternich einen Brief Fouchés, aus dem hervorging, dass Pferde für die Straße nach Bayonne für einen General angefordert seien. „Dieser General ist der Kaiser.“ Talleyrand weist auch Berichte von Champagny vor und einen Brief Dalbergs mit der Versicherung, „dass Deutschland immer mehr in Erregung gerät.“ „Talleyrand“, erklärt Metternich, „ist mit mir der Meinung, wir dürften uns nicht von Napoleon überraschen lassen, wenn er entschlossen sei, uns den Krieg zu erklären.“ [2/ Seite 291]

3. Die Szene

Am 28. Januar 1809 berief Napoleon einen kleinen Rat ein. Talleyrand nahm als Großwürdenträger daran teil. Zugegen waren weiter Großkanzler Cambacérès und Großschatzmeister Lebrun, Polizeiminister Fouché und Marineminister Decrès.
Der Kaiser begann allgemein:

Diejenigen, die ich zu Großwürdenträgern oder Ministern gemacht habe, sind nicht mehr frei zu denken und zu sagen, was sie wollen, sie können nur noch die ausführenden Organe meiner Gedanken sein.“ [6/ Seite 444]
Dann wandte er sich plötzlich Talleyrand zu, der an einem Kamin lehnte:
„Für Sie hat der Verrat bereits begonnen, wenn Sie sich erlauben, zu zweifeln, er ist vollständig, wenn aus dem Zweifel Abweichung wird.“ [6/ Seite 444]
Talleyrand benahm sich als höre er einer Rede zu, die ihn im Grunde nicht interessiert. Das war zuviel für Napoleon. Der Sturm brach los:
„Sie sind ein Spitzbube, ein Elender, ein Mensch ohne Treu und Glauben! Sie glauben nicht an Gott; Sie haben Ihr ganzes Leben lang alle Ihre Pflichten verletzt, haben alle Welt getäuscht und verraten; für Sie gibt es nichts Geheiligtes, Sie würden Ihren leiblichen Vater verkaufen. Ich habe Sie mit Wohltaten überhäuft und doch sind Sie mir gegenüber zu allem fähig. Seit zehn Monaten z. B. sagen Sie in der schamlosesten Weise jedem, der es hören will, Sie hätten meine spanische Unternehmung stets missbilligt, während doch gerade Sie mich zuerst auf diesen Gedanken gebracht und mich fortwährend zu dessen Ausführung angetrieben haben. So reden Sie, weil Sie jetzt, allerdings ganz ohne Ursache, denken, meine Angelegenheiten in Spanien ständen schlecht. Und wie wars mit dem Mann, mit jenem Unglücklichen – (hiermit meinte er den Herzog d’Enghien) – wer hat mir seinen Aufenthaltsort mitgeteilt? Wer hat mich aufgestachelt, sein Blut zu vergießen? Welches sind eigentlich Ihre Absichten? Was wollen Sie? Worauf hoffen Sie? Erkühnen Sie sich doch, es frei herauszusagen! Sie verdienten, dass ich Sie zerbräche wie ein Glas; ich könnte es, aber ich verachte Sie zu sehr, um mir die Mühe zu machen.“ [8/ Seiten 74/5]
„Nach Mollien soll er noch hinzugefügt haben:
„Warum habe ich Sie nicht an den Gittern des Karussels aufhängen lassen? Aber dazu ist noch Zeit. Wissen Sie was, Sie sind ein Dreck … in einem Seidenstrumpf.“ [2/ Seiten 292/3] „Der Sieger von Austerlitz glitt auf etwas aus, das er nicht mit Namen hätte nennen sollen.“ [6/ Seite 445]

Nach Metternich soll er ihm den Frieden von Pressburg vorgeworfen haben, den er als ein Werk der Niedertracht und der Bestechung bezeichnete.
„Vor Talleyrand hin- und hergehend“, schreibt Thiers, „ und ihm immer wieder unter drohenden Gesten die verletzendsten Worte an den Kopf werfend, ließ er alle Anwesenden vor Schreck erstarren. Diejenigen, die ihm nahe standen, waren schmerzlich berührt, in dieser Szene die Würde des Thrones und des Genies so herabgezogen zu sehen.““ [2/ Seite 293]
„Der beschimpfte Fürst wischte den üblen Erguss ab, als wäre er nicht belästigt worden. Sein unbewegtes Gesicht schien aus Elfenbein zu sein, seine Augen waren erloschen, seine Lippen blutleer: er sah aus wie eine Mumie. Möglicherweise hatte der rasende Napoleon Lust, ihn zu ohrfeigen, doch vor dieser hochmütigen Miene, diesem abwesenden Gesichtsausdruck hielt er sich zurück. Er ohrfeigte ihn in anderer Weise- mit einer scheußlichen Beschimpfung: „Und Ihre Frau? Sie haben mir nicht gesagt, dass San Carlos der Liebhaber Ihrer Frau ist.“ Talleyrand war getroffen; er sah den, der ein Kaiser war, beherrscht an und sagte: „In der Tat Sire. Ich habe nicht geglaubt, dass ein Bericht darüber für den Ruhm Euer Majestät oder den meinen von Bedeutung sein könne.“
Napoleon war besiegt, er hatte das Gesicht verloren. Talleyrand war der Souverän. Beiden blieb nur noch übrig, sich einen guten Abgang zu verschaffen. Als der Kaiser den Raum verließ, besann er sich noch einmal und versetzte Talleyrand und Fouché einen letzten Schlag: „Seien Sie gewiss, sollte es eine Revolution geben, an der Sie in irgendeiner Weise teilgenommen haben, würden Sie alle beide von ihr zermalmt werden.“

Der Fürst von Benevent blieb gelassen und durchquerte in seiner unnachahmlichen Art zu hinken den Salon, wobei er die zitternden und schreckensbleichen Zeugen der Szene anblickte. Es war zu ahnen, welch unheimliches Bild vor ihrem inneren Auge stand: die Mumie Talleyrand aufgehängt am Gitter der Tuilerien. Er selbst sah nur Einfaltspinsel, die nichts begriffen hatten. Sie hatten gemeint, Jupiter zu sehen, doch sie sahen nur einen gewöhnlichen Schauspieler. Auf der Schwelle drehte er sich um und sagte: „Wie schade, Messieurs, dass ein so großer Mann so schlecht erzogen ist.““ [6/ Seiten 445/6]

Ich folge Orieux bis hier, auch wenn ich weiß, dass Talleyrand sein letztes Wort im Salon der Frau von Rémusat fallen ließ, dies allgemein bekannt und an die Szene angehängt wurde und dies die Szene selbst bagatellisierte, sie auf schlechtes Benehmen reduzierte und dies sowohl Napoleon als vor allem auch Talleyrand sehr recht war.
Verbürgt ist hingegen ein anderes Wort Talleyrands:
„Als er beim Verlassen von Napoleons Arbeitszimmer dem Comte de Ségur begegnete, der sich über die Länge der Zusammenkunft verwundert zeigte, bemerkte er, wie Montesquiou berichtet, nur: „Es gibt Dinge, die man nie verzeiht.“ [12/ Seite 174]

Da er nun die Gewissheit hatte, dass sein Leben nicht in Gefahr war, verbrachte er den Abend im Salon der Vicomtesse de Laval:
Madame de Laval, außer sich über den zynischen und kühlen Bericht, den er über die schändliche Szene gab, empörte sich: „Was, das hat er Ihnen alles ins Gesicht gesagt?“ – „O ja“, antwortete er, „und dazu noch Beschimpfungen.“ Er gab sie in aller Ruhe wieder. Sie geriet in Feuer: „Wie, das haben Sie sich angehört? Sie standen vor ihm, und Sie haben nicht einen Stuhl, eine Feuerzange, ein Scheit oder ich weiß nicht was ergriffen, Sie haben sich nicht auf ihn gestürzt?“ – „Oh, ich habe wohl daran gedacht, aber für so etwas bin ich zu faul.“ [6/ Seite 446]
 
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4. Die Folgen der Szene

Am 29. Januar 1809 begab sich Talleyrand sehr früh zum sonntäglichen Empfang des Kaisers in die Tuilerien. Der Kaiser würdigte ihn keines Blickes, richtete auch nicht das Wort an ihn.

Wohl am selben Tag erhielt er einen Brief, datiert vom 27. Januar!:
„Lieber Vetter, im Interesse meines Hofdienstes möchte ich, dass die Stellung des ersten Kammerherren nicht in derselben Person mit der des vice-grand-électeurs vereinigt sei. Daher bitte ich Sie, dem Hofmarschall (Marschall Duroc) den Schlüssel des ersten Kammerherrn zurückzugeben.“ [2/ Seite 295]

Die Pariser erfuhren am 30. Januar durch den „Moniteur“, dass das Amt des Großkämmerers auf Mon. de Montesquieu übertragen worden war. Zur Begründung hieß es, dass Talleyrand dieses Amt nur provisorisch ausgeübt hätte … Wohl schon damals musste man den Mitteilungen der Presse ein gesundes Misstrauen entgegenbringen …, denn der wahre Grund war ein anderer:

Talleyrand als echter „Ladies-Man“ brachte auch seine sprichwörtlich guten Beziehungen zu Frauen ins Spiel. In diesem Fall Hortense, die sich auf Fürbitte von Frau von Remusat bei Napoleon für ihn verwandte:
„Napoleon antwortete ihr: „Wenn er nichts vor Ihnen sagt, mein Kind, dann entschädigt er sich um zwei Uhr morgens bei seinen Freundinnen, Madame de Laval und den anderen. Im übrigen tue ich ihm nichts Böses an. Nur will ich nicht mehr, dass er sich in meine Affären mischt.“ [6/ Seite 448]

Und das war der springende Punkt:
Zum Staatsrat Roederer sagte Napoleon am 6. März: „Ich werde ihm nichts tun. Er soll seine Stellungen behalten. Ja, ich werde genauso zu ihm sein wie früher. Aber ich habe ihm das Recht entzogen, ohne vorhergehende Ankündigung in mein Arbeitszimmer zu kommen. Er wird von jetzt ab keine Unterhaltungen unter vier Augen mit mir haben. Dann kann er auch nicht mehr sagen, er habe mir zu diesem oder jenem geraten, oder von diesem oder jedem abgeraten.“ [2/ Seite 294]

An Caulaincourt (kaiserl. Gesandter in St. Petersburg) schrieb Napoleon am 6. Februar 1809: „Sie werden viel davon sprechen hören, dass ich einen neuen Kammerherrn ernannt habe. Diese Stellung ist mit der des vice-grand-électeur unvereinbar. Im übrigen hat sich der Fürst von Benevent weiter gar nicht um die Pflichten des Amtes gekümmert und war mehr als je geneigt, sein Ohr seiner übelberüchtigten Umgebung zu leihen. Alles die hat Anlass zu wenig angenehmen Redereien gegeben.“ [2/ Seite 294]

Dass Talleyrand dann am folgenden Sonntag wieder pünktlich am Empfang teilnahm, der Kaiser ihn wieder übersah, er für einen überforderten Diplomaten die Antwort übernahm und dies für die Umgebung als das Brechen des Eises gedeutet wurde, täuschte, Talleyrand blieb in Ungnade auch wenn der Kaiser im folgenden Frieden von Wien seinen Nachfolger Champagny, Herzog von Cadore, rüffelte:
„Sie haben hundert Millionen Indemnitäten für Frankreich stipuliert und alles wird ans Schatzamt abgeliefert, ich weiß. Zu Seiten Talleyrands hätten wir vllt. nicht einmal sechzig gekriegt und davon wären noch zehn an ihn gegangen. Aber die Sache wäre in zwei Wochen erledigt gewesen. Schaun Sie doch dazu!“ [13/ Seite 193]

Nun, hier übertreibt Napoleon. Sicherlich konnte Talleyrand nur wie Talleyrand verhandeln, dennoch hat Napoleon Talleyrand kräftig kritisiert als er sich im Vertrag von Pressburg 10 Millionen „abhandeln“ ließ; richtig ist aber auch, dass „des Kaisers moralische Empfindlichkeit gegen diese Geschäfte Talleyrands gering war und zeigte sich erst, wenn die Geldgeschäfte des Ministers den von ihm rascher gewünschten Gang der politischen Verhandlungen aufhielten.“ [13/ Seite 169]

Zeitgenossen und Historiker haben sich die Frage gestellt, warum Napoleon Talleyrand nicht verhaften und erschießen ließ oder ihn nicht zumindest in die Verbannung auf sein Schloss Valençay schickte.
Eine Antwort gibt Pasquier:
„Eine derartige Inkonsequenz lässt sich nur durch die übertriebene Zuversicht Napoleons auf seine Kraft, auf sein Glück erklären, vllt. auch durch die seine Verachtung eines Geschöpfes, das er unter die Füße getreten hatte. Übrigens gehörte es auch zu den Grundsätzen seiner Politik, keinen von den Männern, die ihm einstmals große Dienste geleistet, die an seiner Thronbesteigung mitgearbeitet hatten, jemals gänzlich fallen zu lassen.“ [8/ Seite 75]

Da ist viel Wahres dran, nicht umsonst hat Napoleon seinem Bruder Joseph einmal gesagt, dass Talleyrand derjenige wäre, der am meisten für die Dynastie Bonaparte getan hätte.
Ein weiterer Grund ist, dass Napoleon der Ansicht war, dass Talleyrand (und auch Fouché) auf Grund ihrer revolutionären Vergangenheit es niemals vermögen könnten, sich mit den Bourbonen auszusöhnen und deshalb ihm ihre Gefolgschaft sicher sei.
Betrachtet man folgenden Vorgang, dann durfte sich Napoleon tatsächlich in Sicherheit wiegen:

„Im Jahr 1800, schickte Monsieur, für den Talleyrand stets Freundschaft empfand, La Tour du Pin zum Konsul. Interessant ist, was die Bourbonen Talleyrand zugedacht hatten für den Fall, dass er Bonaparte dazu brächte, Ludwig XVIII. seinen Platz abzutreten. Für Bonaparte hatten sie vorgesehen, ihn zum Konnetabel zu machen. „Aber was werden Sie mit Herrn von Talleyrand tun?“, hatte La Tour du Pin den späteren Karl X. gefragt. Und die Antwort: „Selbstverständlich werde ich von ganzem Herzen für ihn sein, wenn wir nach Frankreich zurückkehren. Natürlich kann er dort nicht bleiben, aber ich garantiere ihm freies Geleit, damit er in einem anderen Land, das ihm am geeignetsten erscheint, leben kann.“ [6/ Seiten 309/10]

Aber auch dies ist nicht des Weisheit Schluss:
„Er beschimpfte, bedrohte Talleyrand, entzog ihm immer wieder seine Gunst, aber er kam nicht von ihm los.“ [2/ Seite 357]

„Worte, die er 1811 zu ihm sagte: „Sie sind kein Mensch, Sie sind ein Teufel. Warum muss ich nur weiterhin mit Ihnen über meine Angelegenheiten reden, warum muss ich Sie weiterhin gern haben!““ [14/ Seite 362], mögen zwar Rhetorik sein, sie zeigen aber auch, dass es etwas gab, das ihn an Talleyrand fesselte. Und dies ist mit Logik nicht zu erklären. Vllt. im Grundsatz dem ähnlich, was Talleyrand lange an Napoleon fesselte: Die Faszination der Gesamterscheinung eines Menschen.
 
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5. Ausblick
Im Angesicht der Niederlage in Rußland erinnerte sich Napoleon an Talleyrand:

„Der Kaiser kam auf Talleyrand zurück: „Er ist Ihr Freund“, meinte er und fügte hinzu: „Er ist ein Intrigant, ein ganz unmoralischer Mensch, aber ein geistvoller Kopf und sicherlich der fähigste Minister, den ich je gehabt. Ich habe lange mit ihm geschmollt; aber ich trage ihm nichts mehr nach. Er wäre heute noch Minister, wenn er gewollt hätte. Vor dem Feldzuge habe ich daran gedacht, ihn in Warschau zu verwenden, wo er mir sehr nützlich gewesen wäre. Aber Geldgeschichten seinerseits und Boudoirintrigen von Seiten der Herzogin von Bassano haben das verhindert. Die Herzogin sah in seiner Rückkehr in den Dienst schon die wahrscheinliche Rückkehr Enthebung ihres Gatten vom Ministerium, auf das er und sie den größten Wert legten. So hat sie alle Minen sprengen lassen, um Talleyrand auszuschalten. Sie heben mit einem seiner Freunde eine Intrige angesponnen, und es ist ihnen gelungen, mich derartig gegen ihn aufzubringen, dass ich ihn schon verhaften lassen wollte.“ [15/ Seite 110]

„Talleyrand hat mir recht oft hier gefehlt!“ [15/ Seite 116]

„Immer von neuem wiederholte der Kaiser, Pradt habe ihm den Verlust Polens verschuldet, er sei Schuld am Verlust des Feldzuges; er der Kaiser, habe falsch gehandelt, indem er sich durch törichte Intrigen davon abbringen ließ, Talleyrand hierher zusenden, der ihm hier ebenso gute Dienste geleistet hätte wie seinerseits in Finckenstein.“ [15/ Seite 122]

Zur gleichen Zeit als Napoleon im Schlitten nach Frankreich zurückfuhr, entdeckte sich Talleyrand einer seiner Freundinnen, Aimée de Coigny:
„Er muss vernichtet werden, sagte er mir eines Tages, wie das spielt keine Rolle.
- Das ist auch vollkommen meine Meinung erwiderte ich ihm lebhaft.
- Dieser Mann, fuhr er fort, war einstmal in gewissem Sinne nützlich, aber jetzt nicht mehr. Seine Zeit, die des Kampfes gegen die Revolution, ist vorbei. Die Gedanken, mit denen er allein die Welt faszinieren konnte, haben keine Stoßkraft mehr und sind nicht mehr gefährlich. Aber es wäre verhängnisvoll, wenn sie ganz ihre Kraft verlören. Er hat der allgemeinen Gleichheit ein Ende gesetzt, das ist gut. Aber die Freiheit muss uns bleiben. Wir brauchen Gesetze, aber sie sind unter seiner Herrschaft unmöglich. Jetzt ist der Augenblick gekommen, ihn zu stürzen.“ [2/ Seite 380]

Und so mussten Napoleons Versuche, Talleyrands wieder als Außenminister zu gewinnen scheitern. Und Talleyrand warnte Napoleon vor den Bayern bei Hanau, und er sprach sich im März 1814 für den Verbleib von Marie Louise in Paris aus.

Wie gesagt, das Verhältnis von Napoleon und Talleyrand füllt Bücher.

Grüße
excideuil

[1] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 1
[2] Dard, Émile: „Napoleon und Talleyrand“, Verlag Emil Roth, Gießen, Berlin, 1938
[3] Hunecke, Volker: Napoleon – Das Scheitern eines guten Diktators, Ferdinand Schöningh, Paderborn, 2011
[4] Fournier, August: „Napoleon I., Emil Vollmer (Phaidon Verlag), Essen, 1996, Nachdruck der Ausgabe Wien 1922, Bd. 2
[5] Cooper, Duff: „Talleyrand“, Deutsche Buchgemeinschaft, Berlin und Darmstadt, o.J.
[6] Orieux, Jean: „Talleyrand – Die unverstandene Sphinx“, Societäts-Verlag, Frankfurt, 1972
[7] Metternich: „Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren“ Erster Teil, 1773-1815, Wilhelm Braumüller, Wien 1880 Bd. 2
[8] Pasquier, Étienne Denis: Napoleons Glück und Ende – Erinnerungen eines Staatsmannes 1806 – 1815, Verlag von Robert Lutz, Stuttgart, 1907, Bd. 1
[9] Zweig, Stefan: „Joseph Fouché – Bildnis eines politischen Menschen“, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, 2000
[10] Madelin, Louis: „Fouché – Der Mann, den selbst Napoleon fürchtete“; Wilhelm Heyne Verlag, München, 1989
[11] Willms, Johannes: „Napoleon“, Pantheon, München 2009, (2005)
[12] Willms, Johannes: Talleyrand Virtuose der Macht 1754-1838, C.H. Beck, München, 2011
[13] Blei, Franz: „Talleyrand“, Rowohlt, Berlin, 1932
[14] Cronin, Vincent: “Napoleon – Stratege und Staatsmann”, Wilhelm Heyne Verlag, München, 1997
[15] Caulaincourt: „Unter vier Augen mit Napoleon – Denkwürdigkeiten des General Caulaincourt, Herzogs von Vicenza, Großstallmeister des Kaisers“, von Dr. Friedrich Matthaesius, Verlag von Velhagen & Klasing, 1937
 
Die Situation, die sehr gut dargestellt wird, verweist auf das Problem der Konstanz und der Brüche bei der Rekrutierung von Eliten, die eine zunehmende Bedeutung im Rahmen der Neuzeit gewann.

In einem anderen Zusammenhang diskutierten wir, warum Ludwig einen Teil der Offiziere Napoleons in seine neue Armee übernommen hat. Und dieser Aspekt ist m.E. ähnlich zu bewerten.

Man kann diese Situation noch weiter spannen und auf die Persistenz der Eliten im Anschluss an den WW1 und den WW2 verweisen.

M.E. wird in der Art der Beziehung von beiden, neben persönlichen Sympathien, die beide vermutlich füreinander gehegt haben, auch die zunehmende Bürokratisierung von Verwaltung deutlich.

Dieser Aspekt verweist darauf, dass auch ein Napoleon auf qualifiziertes Personal, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund angewiesen war. Neben der klassischen "Günstlingswirtschaft" tritt die Rekrutierung aufgrund von Erfahrung und Kompetenz.
 
Die Situation, die sehr gut dargestellt wird, verweist auf das Problem der Konstanz und der Brüche bei der Rekrutierung von Eliten, die eine zunehmende Bedeutung im Rahmen der Neuzeit gewann.

In einem anderen Zusammenhang diskutierten wir, warum Ludwig einen Teil der Offiziere Napoleons in seine neue Armee übernommen hat. Und dieser Aspekt ist m.E. ähnlich zu bewerten.

M.E. wird in der Art der Beziehung von beiden, neben persönlichen Sympathien, die beide vermutlich füreinander gehegt haben, auch die zunehmende Bürokratisierung von Verwaltung deutlich.

Dieser Aspekt verweist darauf, dass auch ein Napoleon auf qualifiziertes Personal, unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund angewiesen war. Neben der klassischen "Günstlingswirtschaft" tritt die Rekrutierung aufgrund von Erfahrung und Kompetenz.

Die Szene beleuchtet eher, dass Napoleon sich mit "seinem" Staatsstreich - selbst der war von Sieyès usw. vorbereitet und im Grunde war Napoleon "nur" zur rechten Zeit am rechten Ort - sich der Gefolgschaft der Brumairianer - einem Sammelsurium aus den ehemaligen Eliten des Ancien régime und der Revolution - sicher sein konnte, er sich aber stetig von deren Interessen und denen der Notabeln Frankreichs entfernte. Im Grunde läßt sich sagen, dass der 18./19. Brumaire - mit wenigen Ausnahmen - die unteteilte Zustimmung des Landes Frankreichs fand.
Die Szene steht aber auch dafür, dass eine andere Meinung haben, eine andere Politik verfolgen, problematisch war.

Keine Frage auch, dass mit der bürgerlichen Gesetzgebung, der bürgerlichen Organisation und Zentralisierung des Landes eine andere Bürokratie Einzug hielt.

Aber auch das ändert nichts daran, dass Napoleon im Laufe seiner Herrschaft die Brumairianer nach und nach kaltstellte und sie durch Ja-Sager ersetzte.
Hinzu kamen Versuche, den alten Adel einzubinden und einen neuen Adel zu gründen. Die Krux war m.M.n. , dass dieser Adel einzig an die Person Napoleons und nicht an das Land Frankreich gebunden war. "Erfahrung und Kompetenz" ja, aber nur im Interesse Napoleons. Ein Verdienstadel zu Diensten des Kaisers.
Kein Wunder daher, dass dieser neue Adel , der nur an die Person des Kaisers gebunden war und materiell soviel zu verlieren hatte, sich im Angesicht der Niederlage so schnell von ihm abwendete.

Anders ist der Versuch Ludwig XVIII. zu bewerten, der mit der Übernahme eines Teils der Eliten des Kaiserreiches den Versuch einer Versöhnung der beiden Frankreich unternahm. Er war sich im Klaren, dass ohne eine Versöhnung eine Rückkehr der Bourbonen nicht von Dauer sein konnte. Hier aber die Betonung auf das Land, nicht auf eine einzelne Person.

Grüße
excideuil
 
Wie gesagt, das Verhältnis von Napoleon und Talleyrand füllt Bücher.
Ein von mir erst kürzlich zu diesem Thema gefundenes Buch will ich euch nicht vorenthalten:
https://archive.org/details/Talleyr...abbe.Psychoanalytisch-biographischeEssays_858
Es handelt sich um psycholanalytische-biografische Essays Anno 1934 zu Talleyrand, Talleyrand und Napoleon, Stendhal und Grabbe.
Es ist schon "erstaunlich" - und auch ein wenig befremdlich -, was der Autor - ohne die Personen gekannt und selbst befragt zu haben - aus Zitaten der Protagonisten und Zeitgenossen und Wertungen von Biografen für Schlussfolgerungen zieht. Aber lest selbst.

Grüße
excideuil
 
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