Ein arabischer Sonderweg

G.Abdel Nasser

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Ein arabischer Sonderweg
Nicht weil sie muslimisch, sondern weil sie despotisch und ohne Zivilgesellschaft sind, kommen die Länder des Nahen Ostens nicht voran

Von Shlomo Avineri

Der amerikanische Sozialwissenschaftler Fouad Ajami, selbst libanesischer Abstammung, hat wiederholt die These vorgetragen, arabischen Gesellschaften mangele es keineswegs an Versuchen, in die Moderne zu finden. In den zwei Jahrhunderten seit Napoleons Expedition nach Ägypten, die im Westen vor allem wegen Jean Francois Champollions Entzifferung des Steins von Rosette und der Hieroglyphen in Erinnerung geblieben ist, haben arabische Gesellschaften ernsthafte und tiefgreifende Bemühungen unternommen, sich zu modernisieren. Dabei probierten arabische Intellektuelle so gut wie jede Spielart westlicher politischer Ideologie durch: Der französische Republikanismus und die parlamentarische Demokratie britischer Prägung galten im frühen zwanzigsten Jahrhundert als Vorbilder; Liberalismus wie auch Nationalismus wurden Teil des öffentlichen Diskurses; später liebäugelten arabische Intellektuelle im Irak, in Palästina und Syrien mit dem Faschismus, danach mit dem Kommunismus.
Doch sei, so Ajami weiter, keine dieser Anstrengungen erfolgreich gewesen: Als sich die Ägypter an einer konstitutionellen Monarchie versuchten, war das Ergebnis der grotesk sultaneske König Faruk; der französische Republikanismus führte zu autoritären Ein-Parteien-Systemen wie jenen in Syrien und Algier; Saddam Husseins Baath-Regime schließlich hatte seine Wurzeln nicht in der Tradition des arabischen Despotismus, sondern erwies sich als die denkbar schlimmste Kombination von Bolschewismus und Faschismus. Nach zwei Jahrhunderten, in denen Arabien versucht hatte, den Westen zu imitieren, sind dessen Modelle sämtlich verbraucht - und letztlich war keines von ihnen erfolgreich.
Selbst der unglaubliche Wohlstand, den Saudi-Arabien und einige Golf-Staaten in den vergangenen Jahrzehnten erworben haben, hat nicht dazu geführt, daß sich deren Wirtschaft und Gesellschaft weiterentwickelt hätten; er hat im Gegenteil die traditionellen Stammesmonarchien weiter gestärkt, die jetzt über hierarchisch strukturierte Rentier-Gesellschaften herrschen. Das Öl ist für die arabische Welt ebenso ein Fluch gewesen, wie es Gold und Silber für Spanien und Portugal nach der Conquista von Mittel- und Südamerika waren.
Dieser epische Mißerfolg war für die öffentliche Meinung Arabiens um so demütigender, als ja im Mittelalter arabische und muslimische Gesellschaften dem rückständigen christlichen Europa in Wissenschaft, Philosophie, Astronomie und Mathematik weit voraus waren. Damaskus, Bagdad und Cordoba waren zu einer Zeit geistige Metropolen, da Paris und Rom noch in der kulturellen Provinz lagen. Es verwundert nicht, daß so viele frustrierte junge Araber angesichts dieses Debakels in der Religion Trost suchen und alle Versuche, sich dem Westen anzunähern, als Quell allen Übels verteufeln. Von dieser Haltung ist es kein weiter Weg bis zu Usama Bin Ladins Heiligem-Terror-Krieg gegen den Westen.
Seit den Anschlägen des 11. September neigt nun der Westen dazu, im Islam als solchem ein Hindernis für Modernisierung und Demokratisierung zu sehen. Das aber ist offensichtlich falsch: Im neunzehnten Jahrhundert waren sich Demokraten und Katholiken weitgehend einig, daß Christentum und Demokratie nicht zueinander passen - und doch zählen heute christlich-demokratische Parteien zu den wichtigsten Stützen der Demokratie in Europa. Religiöse Traditionen sind nicht starr: Sie sind flexibel, sie verändern sich mit der Zeit.
Außerdem muß man nur einen Blick auf den Nahen Osten - und darüber hinaus - werfen, um zu erkennen, daß es nicht der Islam ist, der ein Modernisierungshindernis darstellt. Die Türkei beispielsweise ist ein Land, dessen Bevölkerung mehrheitlich muslimisch ist - das aber während der vergangenen acht Jahrzehnte versucht hat, allmählich eine Demokratie westlichen Zuschnitts zu entwickeln. Dieses kemalistische Projekt hat noch immer viele Mängel, besonders wenn es sich um Menschenrechte und die Gleichbehandlung ethnischer Minderheiten handelt. Doch der Umstand, daß die Türkei ein Kandidat für den Beitritt zur Europäischen Union werden könnte, zeigt, wie weit das Land schon gekommen ist; daß es die islamistisch geprägte Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan war, welche die Gesetze des Landes tiefgreifend verändert und sich auf demokratische Ideen und Normen verpflichtet hat, zeigt, daß ein demokratischer Diskurs im Islam möglich ist.
Und blickt man über den Nahen Osten hinaus, so stößt man auf Länder wie Bangladesh und Indonesien, denen nur wenig Aufmerksamkeit vergönnt ist, die aber gleichwohl Beispiele dafür sind, daß sich Länder mit einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung zu demokratischen Verhältnissen hin entwickeln können; in Bangladesh geschieht dies sogar unter Bedingungen extremer Armut und ökonomischer Unterentwicklung.
Vielleicht noch frappierender ist der Fall Irans: einer Islamischen Republik, die in den vergangenen Jahren ein enormes Potential in Richtung Demokratie entwickelt hat. Iran ist zwar, das ist offensichtlich, keine Demokratie - doch das Land hat Wahlen abgehalten, sowohl zum Parlament wie für das Amt des Präsidenten, die echte politische Wettbewerbe waren, selbst wenn sie sich stets im Rahmen eines streng kontrollierten islamischen Diskurses bewegten. Frauen müssen religiös begründete Diskriminierung ertragen und sich der Demütigung des Schleiers unterwerfen - haben aber das Wahlrecht. Tatsächlich waren es ihre Stimmen, die den Sieg von Sejjed Mohammad Chatami gegen einen konservativeren Kandidaten möglich machten. Zugegeben, im Augenblick scheinen die Konservativen die Oberhand zu haben, doch besitzt Iran eine lebendige Zivilgesellschaft, deren Presse die Grenzen des Erlaubten ständig testet.
In den arabischen Ländern ist dagegen nichts dergleichen in Sicht. Kein arabisches Land hat je ernsthafte Anstrengungen der Demokratisierung unternommen, weder von oben noch von unten: Es gibt keinen arabischen Michail Gorbatschow, keinen arabischen Lech Walesa, keinen arabischen Vaclav Havel - und auch keinen arabischen Kemal Atatürk. Warum das so ist, läßt sich nicht einfach erklären. Klar ist aber, daß nicht der Islam als solcher die Ursache ist. Die jüngsten barbarischen Selbstmordanschläge im Irak - denen zumeist Iraker und nicht Amerikaner zum Opfer fallen - zeichnen sich durch einen inneren Mangel an Zurückhaltung bei der Anwendung von Gewalt aus, der auch für arabische Regimes charakteristisch ist - von Saddams Irak über Assads Syrien bis hin zu Algerien, wo sich Islamisten und Säkularisten gleichermaßen mit äußerster Brutalität gegenseitig hingemordet haben.
Zwar ist der Begriff "Sonderweg" sehr problematisch, doch gibt es keinen Zweifel, daß universale Trends, die in den vergangenen Jahrzehnten auf Gesellschaften in aller Welt eingewirkt haben - nichtarabische muslimische Gesellschaften eingeschlossen -, in arabischen Gesellschaften nicht haben Wurzeln schlagen können. Wohl gibt es in allen arabischen Ländern mutige Intellektuelle - etwa Saad Ibrahim in Ägypten -, doch ihre Bemühungen, Institutionen und Bewegungen für politischen Wandel zu schaffen, sind bislang noch immer gescheitert.
Vor zwei Jahren veröffentlichte eine Gruppe couragierter arabischer Intellektueller im Rahmen des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen den "Arabischen Bericht über die menschliche Entwicklung", in dem die Autoren - ein Tabubruch - zum ersten Mal das arabische Demokratiedefizit beschrieben. Eine ihrer unmißverständlichen Feststellungen: Für dieses Defizit den westlichen Imperialismus - oder Israel - verantwortlich zu machen sei eine Schutzbehauptung. Doch selbst dieser mutige Bericht zeigte weder auf, wie sich Veränderung bewerkstelligen ließe, noch stießen die Thesen in einer breiteren arabischen Öffentlichkeit auf nennenswerte Reaktionen.
Die Schwierigkeiten, auf welche die Amerikaner gegenwärtig im Irak stoßen, zeigen wieder einmal, daß sich Demokratie nicht von außen importieren läßt. Diejenigen, die bei diesem Engagement das erfolgreiche Vorbild der Bundesrepublik nach 1945 im Blick hatten, übersahen, daß Deutschland vor 1933 jahrzehntelang Zeit hatte, demokratische und liberale Traditionen auszubilden; diese waren dann zwar dem Nationalsozialismus unterlegen, auf ihnen ließ sich nach dem Ende der Hitler-Herrschaft aber wieder aufbauen.
Ähnliches gibt es, zumindest im Augenblick, in den arabischen Gesellschaften nicht. Türken und Iraner sind Muslime, können aber auf nationale Traditionen zurückgreifen, die zwar nicht demokratisch sind, wohl aber eine brauchbare und nutzbare Vergangenheit darstellen, die parallel zum Islam existiert. Vielleicht erklärt die Verbindung von arabischem Nationalismus und Islam einige Aspekte des arabischen Sonderweges.
Dennoch sind jetzt auch in arabischen Gesellschaften immer häufiger Stimmen zu hören, die dazu aufrufen, den Blick nach innen zu richten. Jüngst haben einige Intellektuelle Zweifel daran geäußert, daß Selbstmordattentate, vor allem in Palästina und in Tschetschenien, im arabischen Diskurs wirklich fast ausnahmslos auf Zustimmung stoßen. Entscheidend wird am Ende sein, wie sich arabische Gesellschaften im Innern wandeln; das hat sich auch in der Türkei und in Iran als das wichtigste erwiesen.
Wie die Entwicklung in den Staaten des postkommunistischen Osteuropas gezeigt hat, ist überall dort, wo eine Tradition von Zivilgesellschaft überlebt oder sich herausgebildet hat - etwa in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik -, der Übergang zu einem liberalen, demokratischen System möglich, ja oft auch erfolgreich. Wo eine solche Tradition jedoch fehlt, wie etwa in Rußland, haben Liberalismus und Demokratie offenbar kaum eine Chance. Dasselbe gilt auch für die arabischen Gesellschaften.
Wer nach den ersten zarten Anzeichen für Veränderung dort sucht, wird diese nur im Inneren der Gesellschaften selbst aufspüren können. Im Augenblick findet man kaum Anzeichen dafür, aber vielleicht gibt es dennoch Hoffnung. In jedem Fall aber ist es historisch wie moralisch falsch und irreführend, den Islam in Bausch und Bogen für das arabische Modernisierungsdefizit verantwortlich zu machen.

Der Verfasser ist Professor für Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität zu Jerusalem.
Aus dem Englischen von Bertram Eisenhauer.

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 03.10.2004, Nr. 40 / Seite 15
 
leider sehr gut .....
und wenn man diese Erfahrungen und die jetzige politische Situation sieht, dann begreift man, dass die "arabische Seele" zutiefst frustriert ist und sich nach den "guten alten Zeit" sehnt, in denen die Araber eine Weltmacht waren - was radikale Islamisten gnadenlos ausnützen;
übersehen wird dabei, dass seinerzeit die Araber das Wissen der Welt regelrecht aufgesaugt haben und heute genau das Gegenteil der Fall ist; die Zahl der Übersetzungen von Büchern in das arabische und die Auflagen arabischer Literatur belegen das ausdrucksvoll, und auch hier müssen wohl arabische Regierungen mit verantwortlich gemacht werden;
allerdings greift inzwischen ein anderes Medium um sich: Arabien wird eine Nation die sich aus gemeinsamen TV-Programmen ein eigenes Bild macht, Sat-Schüsseln prägen das Bild der Städte von Marokko bis Bagdad und führen so zu einer gemeinsamen TV-Konsum-Kultur,
 
Anläßlich der Frankfurter Buchmesse: Tahar Ben Jelloun(i) beklagt u.a. auch die Tradition der arabischen Sippe, wodurch Demokratie kaum möglich ist. Fehlend wohl auch ein halbwegs offener Diskurs oder eine adäquate Opposition. Es ist keine allgemein akzeptable Alternative zum Despotismus denkbar. Das sollte zu denken geben.
Schriftstellerkollegen: Nagib Machfus (DIE große Figur der arabischen Literatur steht in Folge von Sicherheitsbedenken infolge eines Anschlags unter de facto "Selbsthausarrest") oder Rafik Schami (Seine Bücher wurden in zig Sprachen übersetzt; nicht ein einziges ins arabische)
Hinderlich (aus meiner Sicht) auch der Islamismus. Hierzu: NICHT der Islam (Religion) sondern der Islamismus (Ideologie)
 
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