Elsaß-Lothringen 1871-1918

Gandolf

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1. Elsaß-Lothringen kam 1871 gegen den Willen der Bevölkerung zum Deutschen Reich

Viele Deutsche verstehen die Annexion von Elsaß-Lothringen im Jahre 1871 als „Rückkehr“ eines von Ludwig XIV. geraubten Landesteiles, so als ob sich die Elsässer und Lothringer 200 Jahre lang danach gesehnt hätten, vom französischen Joch befreit und zurück ins Deutsche „Reich“ geführt zu werden. Mit der historischen Realität hat dieses Verständnis nichts zu tun:

Vor dem Kriegsausbruch gab es in diesen Gebieten keine deutsche Unabhängigkeitsbewegung. Selbst nach dem Beginn der Besetzung trat weder eine „Anschluss“-Partei, noch eine gegen Frankreich gerichtete "Autonomie"-Partei in Erscheinung. Bei den Wahlen zur französischen Nationalversammlung vom 8.2.1871, die auf Weisung von Bismarck geduldet wurde, wählten die Elsässer und Lothringer „ausnahmslos Abgeordnete, die (...) gegen die Separation von Frankreich, allerdings erfolglos, protestieren“ (Hermann Hiery, S. 71).

Ferner konnten die Elsässer die Rückkehr ins falsche „Reich“ schon deshalb nicht als Wohltat empfinden, weil ihre (Doppel-)Identität sowohl aus französischen Komponenten (politische und gesellschaftliche Vorstellungen) als auch aus deutschen Komponenten (Elsasserditsch) besteht. Die bürgerlich-demokratische Zivilgesellschaft des Elsasses sprach zwar deutsch, stand aber in einem scharfen Gegensatz zum preußischen Militär- und Obrigkeitsstaat. Sie fühlte sich Frankreich zugehörig.

Werner Wittich, Prof. der Nationalökonomie an der Straßburger Universität in seinen Abhandlungen "Deutsche und französische Kultur des Elsaß" (1900) und "Kultur- und Nationalbewußtsein im Elsaß" (1909): "Das Deutsche Reich gliederte sich also in den Elsässern eine Bevölkerung mit französischem Nationalbewusstsein an, die in ihren unbewussten geistigen Grundlagen zwar noch deutsch war, aber sehr wichtige französische Kulturelemente rezipiert hatte und sich gerade damals in einem raschen Übergang zu französischem Wesen befand" (zitiert nach Max Rehm, S. 87).

Auch den Zeitgenossen war bekannt, dass die Bevölkerung die Annexion ablehnte:

Reichskanzler Otto von Bismarck erklärte am 2.5.1871 vor dem Reichstag: „Der Verwirklichung dieses Gedankens (...) stand in erster Linie die Abneigung der Einwohner selbst, von Frankreich getrennt zu werden, entgegen. Es ist nicht meine Aufgabe, hier die Gründe zu untersuchen, die es möglich machten, dass eine urdeutsche Bevölkerung einem Lande mit fremder Sprache und mit nicht immer wohlwollender und schonender Regierung in diesem Maße anhänglich werden konnte. (...) Thatsache ist, dass diese Abneigung vorhanden war, und dass es unsere Pflicht ist, diese mit Geduld zu überwinden.“ (Reichstag, Stenographische Berichte 1871, 519 linke Spalte).

Augsburger Allgemeine Zeitung, 30.8.1870, zur Forderung einer Volksabstimmung in Elsaß-Lothringen: „Hübsch! Die Kinder sollen abstimmen, ob sie Kinder ihrer Mutter seien! Der Wille! Als ob es nicht auch einen schlechten Willen gebe! Mit der Rute müssen wir leider anfangen. Die entarteten Kinder müssen unsere Faust fühlen! Der Züchtigung wird die Liebe folgen, und diese wird sie wieder zu Deutsche machen." (zitiert nach Lothar Gall, S. 374).


2. Hindernisse für eine erfolgreiche Integrationspolitik

Auch wenn die Elsässer und Lothringer die Annexion stark ablehnten, so gab es doch die Chance, diese in das Reich zu integrieren und im Laufe der Zeit für den deutschen Staat zu gewinnen. ABER eine solche Integrationspolitik erforderte viel Fingerspitzengefühl gegenüber den Besonderheiten der elsässischen Kultur, insb. ihren französischen Komponenten. Alles, was die Bevölkerung in einen offenen Aufstand gegen die Annexion trieb, musste vermieden und alles, was ihr half, sich mit dem künftigen Leben im Deutschen Reich abzufinden, musste gefördert werden. Zu einer solchen Integrationspolitik war das kaiserliche Reich nicht fähig:


Das von Misstrauen geprägte Verhältnis zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten verhinderte die Eingliederung von Elsaß-Lothringen als gleichberechtigter deutscher Bundesstaat.

Der machtpolitische Zweck der Annexion, Deutschlands Sicherheit vor Frankreich zu erhöhen, erwies sich als kontraproduktiv. In den Augen der Sicherheitsexperten, den Beamten und den Militärs, waren die französischen Elemente in Elsaß-Lothringen trojanische Pferde Frankreichs. Sie waren auszumerzen und nicht zu tolerieren.


3. Elsaß-Lothringen wurde nicht in das Deutsche Reich integriert

Elsaß-Lothringen wurde kein gleichberechtigtes Bundesland des Deutschen Reiches. Einen elsässischen oder lothringischen Landesfürsten gab es nicht. Eine Republik Elsaß-Lothringen wollte man nicht. Der Kaiser durfte im Bundesrat nicht über die elsaß-lothringischen Stimmen verfügen. Dies hätte das zwischen Preußen und den restlichen Bundesstaaten austarierte Stimmenverhältnis zerstört. Also wurde Elsaß-Lothringen Besitz des Reiches („Reichsland“). Diese Herabsetzung blieb den Elsässern bis 1919 erhalten.

Das Vereinigungsgesetz (1871) unterstellte das Reichsland dem persönlichen Regime des Kaisers. Es billigte diesem materiell unbeschränkte, absolutistische Vollmachten zu. Für die bürgerlichen Elsässer und Lothringer bedeutete die „Rückkehr ins Reich“ eine Rückkehr ins absolutistische Zeitalter.

Im Laufe der Zeit wurde das absolutistische Regime ein wenig abgemildert: 1874 wurde in Elsaß-Lothringen per Reichsgesetz die Reichsverfassung eingeführt und ein Landesausschuss eingerichtet. Bei diesem handelte es sich um ein indirekt gewähltes Honoratiorengremium mit nur beratender Funktion. Ab 1879 ernannte der Kaiser einen Statthalter. Doch echte Mitbestimmungsrechte wurde sowohl der Bevölkerung als auch dem Reichsland vorenthalten. Der Vertreter des Reichslandes im Bundesrat durfte dort lediglich seine Wünsche äußern.

Über 30 Jahre lang mussten die Elsässer und Lothringer faktisch unter Kriegsrecht leben. Der "Diktaturparagraph" ermächtigte den Straßburger Chef der Zivilverwaltung (Oberpräsident, später Statthalter) „bei Gefahr für die Sicherheit“ alle von ihm für erforderlich gehaltenen Maßnahmen zu treffen wie zum Beispiel Verhaftungen, Ausweisungen, Hausdurchsuchungen und Pressezensur. Eine vergleichbare nur dem persönlichen Ermessen unterliegende Generalvollmacht selbst Preußen nur bei vorheriger förmlicher Erklärung des Kriegszustandes. Erst 1902 wurde der Diktaturparagraph aufgehoben.

40 Jahre nach der Annexion unternahm der Reichstag 1911 einen weiteren Versuch, die Verhältnisse in Elsaß-Lothringen zu reformieren. Elsaß-Lothringen erhielt nun wenigstens die „äußere Gestalt“ eines Bundesstaates. Per Reichsgesetz erhielt es eine eigene Verfassung und einen Landtag. Aber auch über diesem Versuch der Normalisierung schwebte die Gefahr, dass der Reichstag mit einfacher Mehrheit die Verfassung aufhebt und somit das kaiserliche absolutistische Regime wieder etabliert.


4. Der Zabern-Zwischenfall von 1913

Ab 1890 entspannte sich das Klima im Reichsland. Die Bevölkerung schien sich mit ihrer Zugehörigkeit zum Reich resignierend abzufinden. Zudem trugen die Reformbemühungen erste positive Früchte.

Doch 1913 spitzten sich die Konflikte zwischen dem Reichsland und der preußischen Zentralgewalt erneut zu. Im Mai 1913 drohte Kaiser Wilhelm II. gegenüber dem Straßburger Oberbürgermeister die erst zwei Jahre alte Verfassung in „Scherben zu schlagen“ und zur Diktatur zurückzukehren. Wilhelms Drohungen wogen schwer, weil ihm sowohl die Zivilverwaltung als auch das Militär unterstand.

Vor diesem Hintergrund ereignete sich die Zabern-Affäre:
Am 28.10.1913 bezeichnete der in Zabern stationierte 20 Jahre alte Leutnant Günter Freiherr von Forstner während des Waffenunterrichts die Elsässer mit dem Schimpfwort „Wackes“. Zudem forderte er seine Rekruten zu Tätlichkeiten gegen die Einheimischen auf: „Wenn Sie angegriffen werden, dann machen Sie von Ihrer Waffe Gebrauch; wenn Sie dabei so einen 'Wackes' niederstechen, dann bekommen Sie von mir noch zehn Mark.“ Eine Woche später gelangte der Vorfall in die Öffentlichkeit und erregte dort enormes Aufsehen. Die Bevölkerung protestierte und verlangte die Bestrafung des Leutnants. Das Klima spitzte sich zu. Am 28.11.1913 stehen in Zabern einige Bürger zusammen. Die Zivilpolizei sah keinen Grund zum Einschreiten. Der Zaberner Regimentskommandeurs Oberst Adolf von Reuter setzte schwerbewaffnete Militärstreifen ein und ließ willkürlich Verhaftungen vornehmen. Schließlich verliert am 02.12.1913 Leutnant v. Forstner die Beherrschung. Er verletzt einen Schuster mit einem Säbelhieb schwer. Der Leutnant will in Notwehr gehandelt haben, obwohl er in Begleitung von fünf schwerbewaffneten Soldaten war und es sich bei dem Opfer, um einen halbseitig gelähmten Mann handelte.

Die Presseberichte über diese Vorfälle führen zu einem Sturm der Entrüstung. Am 4.12.1913 sprach der Reichstag Kanzler Bethmann Hollweg mit einer Mehrheit von 83% das Misstrauen aus. Doch nun zeigten sich die wahren Machtverhältnisse: der Kanzler blieb im Amt. Das Straßburger Kriegsgericht sprach v. Reuter und v. Forstner frei. Wilhelm II. verlieh v. Reuter gar postwendend einen Orden. Prinz Wilhelm von Hohenzollern bezeichnete die Elsässer als „Eingeborene“ und riet zu einem „Immer feste druff!“

Die Elsässer und Lothringer waren über die Zabern-Affäre zutiefst empört. Für sie wurde deutlich, dass sie im Reichsland der Willkür des preußischen Militärs ausgeliefert waren, vor der sie weder Reichstag noch Justiz schützen konnten. Statthalter und Staatsekretär mussten zurücktreten.

Friedrich Curtius, Kirchenpräsident, Spross eines Gelehrtenhauses in Berlin, im Reichsland jahrelang in hohen Regierungs- und Selbstverwaltungsstellen tätig: "Man muss es im Elsaß selbst erlebt haben, wie gerade die überzeugtesten Anhänger Deutschlands auf das tiefste bestürzt waren und die entschiedenen Franzosen ihre Genugtuung nicht verbargen ... Seit Zabern gab es keine freudige, hoffnungsvolle Beteiligung an der elsässischen Politik mehr. Der deutsche Militarismus hatte mit durchschlagendendem Erfolg für die Franzosen gearbeitet." (zitiert nach Max Rehm, S. 67).

In dieser Situation goss Wilhelm II. noch mehr Öl ins Feuer. Er ernannte einen neuen Statthalter und den preußischen Innenminister v. Dallnitz zu dessen neuen Staatssekretär. Dieser war ein Exponent des orthodoxen Obrigkeitsstaates und ein entschiedener Gegner der elsaß-lothringischen Verfassung. Diese Ernennung machte deutlich, dass das Reich auf die Fortführung der Reformen und der Integrationspolitik verzichtete und künftig Wilhelms angekündigten harten Kurs fahren wird.


5. Rigorose Repressionspolitik während der Kriegsjahre

Trotz allem standen die Elsässer und Lothringer im August 1914 loyal zum Reich. Doch das Reich stand nicht loyal zu seinen „Deutschen“. Es ging während der Kriegsjahre zu einer rigorosen Repressionspolitik über: Militärdiktatur mit zahlreichen Ausnahmeverfügungen, Germanisierungspolitik, Öffentliche Debatte über die künftige Aufteilung des Reichslandes zwischen Preußen, Baden und Bayern bei gleichzeitigem Maulkorb für die elsässisch-lothringische Bevölkerung (Pressezensur), Verbot politischer Diskussionen im Landtag, Verhaftung oder Ausweisung als unzuverlässig geltender Personen ohne richterliche Kontrolle, Versetzung elsässischer und lothringischer Soldaten an die Ostfront, Verbot in der Öffentlichkeit französisch zu sprechen, ausländischer Grundbesitz wurde enteignet.


6. Pro-französische Stimmung am Ende des Ersten Weltkrieges


Die Repressionspolitik verbitterte die Elsässer und Lothringer sehr und führte einen Sinneswandel herbei. Die Sympathien, die sich das Reich bis 1914 erworben hatte, waren endgültig verspielt. Freilich versuchte das Reich in den letzten Kriegswochen, als die Niederlage sichtbar wurde, mit einer Neuauflage der Reformpolitik und neuen Reformen die Stimmung zu drehen. Doch diese hektischen Reformbemühungen konnten an der Ablehnung des Reiches nichts mehr ändern.

Am 9.10.1918 berichtete Rudolf Schwander, OB von Straßburg und letzter Statthalter des Reichslandes Elsaß-Lothringen, Vizekanzler v. Payer, dass sich die Stimmung im Reichsland zu Lasten Deutschlands verändert hat. „Die jahrelange Militärdiktatur, die im Operationsgebiet zahlreiche harte Maßnahmen der Militär- und Zivilverwaltung, nötige und unnötige, mit sich brachte, hat ein hohes Maß von Unzufriedenheit in fast allen Kreisen erzeugt.“ Ein Landtagsabgeordneter des Zentrums habe ihm gegenüber die Mitarbeit an den Reformbemühungen mit den Worten abgelehnt, dass „das, was man dem Lande jetzt bietet, (...) 1914 (hätte) kommen müssen, als unser Volk bei Kriegsausbruch sich so gut bewährte. Das wäre als Dank und freies Geschenk des deutschen Volkes empfunden worden. Heute aber werden 100 Prozent für Frankreich stimmen. Selbst diejenigen würden das tun, die wohl wüssten, was sie damit aufgeben müssten.“ (zitiert nach Max Rehm, S. 82).

Die Stimmung in Elsaß-Lothringen war am Ende des Ersten WK eindeutig pro-französisch. Der Landtag stimmte am 6.12.1918 für den Anschluss an Frankreich und die Bevölkerung empfing begeistert die einrückenden französischen Truppen. Freilich sollte sich nun unter französischem Vorzeichen die Integration der elsässischen Doppelidentität als schwierig und konfliktbeladen erweisen. Aber Ende 1918 waren die Elsässer und Lothringer froh, dem preußischen Militarismus entkommen zu sein.


7. Literaturhinweise


Michael Essig, Das Elsaß auf der Suche nach seiner Identität, 1994
Lothar Gall, Elsaß-Lothringen, in: Schieder/Duerlein, Reichsgründung 1870/71, 1970, S. 366, 385
Hermann Hiery, Wahlen und Wahlverhalten im Reichsland Elsaß-Lothringen 1871-1914, in: Ara/Kolb, Grenzregionen im Zeitalter der Nationalismen - Elsaß-Lothringen / Trient-Triest, 1998
Gerhard Hirschfeld u.a., Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2003
Max Rehm, Reichsland Elsaß-Lothringen, 1991
Hans-Ulrich Wehler, Krisenherde des Kaiserreiches 1871-1918, 1979
 
Zuletzt bearbeitet:
Gandolf schrieb:
5. Rigorose Repressionspolitik während der Kriegsjahre
Trotz allem standen die Elsässer und Lothringer im August 1914 loyal zum Reich.
Wie erklärst du dir das, bei der von dir ausgiebig ausgeführten, schlechten Behandlung?
 
aus
Die Grenzen der Nationen und Nationalstaaten:
Regionalismus in europäischen Zwischenräumen von der Mitte des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts

...
Merkliche Parallelen zum oberschlesischen Fall förderte Christiane Kohser-Spohn (FU Berlin) in ihrem Vortrag Der Traum vom föderalen Europa. Die elsässische Autonomiebewegung in der Zwischenkriegszeit zutage. Auch hier erwies sich "Traum" als das Schlüsselwort.
War 1918 die "Befreiung" in Elsaß-Lothringen begeistert begrüßt worden, so hatte sich bis 1925 ein schwerer Konflikt zwischen Region und Hauptstadt entwickelt. In den 1930er Jahren entstand aus dem zunächst defensiven, antigouvernementalen Protest eine offensive, antifranzösische Autonomiebewegung, die jedoch praktisch keine Änderung der Pariser Politik durchsetzen konnte. Den Widerstand ausgelöst hatte die rabiate Französisierungspolitik, die Paris noch 1918 implementierte und die vielfach als demütigend und sogar als Rückschritt gegenüber dem im Kaiserreich erworbenen Sonderstatus empfunden wurde. Nicht zuletzt diese relative "Fremdheit" in Deutschland und der Kampf mit Berlin um politische Rechte hatten ein starkes regionales Sonderbewußtsein heranwachsen lassen sowie die gesellschaftliche Infrastruktur zu dessen Artikulation. Die Konfession spielte hier eine interessante Doppelrolle: Der Laizismus der Regierung Herriot gab regionalistischen Argumenten unter der katholischen Bevölkerung Auftrieb, während zugleich die Katholizität Frankreichs die protestantischen Elsässer Bauern auf den radikalen Flügel der Bewegung trieb.
Doch auch im Falle Elsaß-Lothringens erwies sich der Regionalismus als dem Nationalismus nicht ebenbürtig. Denn der Regionalismus drückte sich in einer Vielzahl heterogener Vorstellungen und Projekte aus, deckte ein Spektrum ab von maßvoller Kulturautonomie für die "etwas anderen" Franzosen bis hin zur Loslösung des eigenständiges "Mittlervolkes" zwischen Franzosen und Deutschen als selbständiges Mitglied in einem zu schaffenden europäischen Bundesstaat. Uneinigkeit, Unklarheit und eine deutliche Spannung zwischen "europäischer" Rhetorik und provinzieller Ausschließlichkeit prägten und schwächten seine Programmatik.
Demgegenüber agierte Paris hart nach Maßgabe geschlossener Vorstellungen: Der zentralistische Staat hatte sich im Krieg bewährt, sein Rückzug aus der Provinz konnte dort nur deutschem Revanchismus zuarbeiten und die Unruhe unter ähnlich gesinnten Minderheiten (Bretonen, Basken, Korsen) anheizen. Diesen machtpolitischen Erwägungen entsprach ein Verständnis der Nation als "une et indivisible", ausgestattet mit einer letztlich universalistischen Homogenisierungsmission im Sinne der "civilisation française", voller Überlegenheitsgefühl gegenüber jedem Anklang von "attitude boche". Die Berufung der Regionalisten auf die Minderheitenschutzklauseln des Völkerbundes, ihre Beschreibung Frankreichs als zu föderalisierender Vielvölkerstaat wurde in Paris als gefährlicher Affront aufgefaßt. Mithin bestimmten der Zentralismus des französischen Staates und die ideologische Armut der Autonomiebewegung den Ausgang des Konfliktes.
...
quelle: http://www.fu-berlin.de/zvge/frame/regkonf2.htm
 
weil meine antwort sonst zu lang geworden wäre, diesmal zweigeteilt:

das deutsche reich hat sich im "reichsland elsass-lothringen" wahrlich nicht mit ruhm bekleckert, wie gandolf hier ausführlich geschildert hat. das ist richtig.

richtig ist aber auch, dass die französische republik nach 1918 so ziemlich den gleichen fehler begangen hat, wie die deutschen vorher: der einheimischen bevölkerung zu misstrauen. parteien, die sich für ein autonomiestatut nach muster der 1911 verfassung innerhalb frankreichs einsetzen, wurden verboten, ihre führer, die teilweise abgeordnete der nationalversammlung waren, wurden verhaftet und verurteilt. bis auf wenige ausnahmen wurden dennoch bis 1939 nur autonomie-befürworter in die nationalversammlung gewählt. noch 1937 plädiert ein robert schuman für die autonomie.

um das verhältnis einigermassen zu entspannen, wird 1924/25 in den drei departements bas-rhin, haut-rhin und moselle das sog. droit local festgeschrieben, nach dem einige deutsche rechtsvorschriften dort anwendung finden, hier sei beispielhaft die sozialversicherung genannt, die weit über das hinausgingen, was frankreich bis dahin kannte. übrigens ist dieses droit local heute, nach 80 jahren, in weiten teilen immer noch in kraft.

die autonomiebewegung wurde erst zerstört, als die deutschen von 1940-44 "bewiesen" hatten, um wie viel besser es den elsässern und lothringern unter französischer herrschaft erging. im gegensatz zu anderen regionen frankreichs (korsika, bretagne etc.) gibt es keine nennenswerten autonomiebestrebungen in diesen drei departements.
 
Arne schrieb:
Wie erklärst du dir das, bei der von dir ausgiebig ausgeführten, schlechten Behandlung?
Das ist eine interessante Frage, vor allem wenn man den Oktober 1918 miteinbezieht.

Zunächst einmal muss man sich klarmachen, dass ein ständiges hin und her in der Staatsangehörigenfrage für die Betroffenen eher ein Fluch als ein Segen ist. Anfänglich hoffte man noch auf eine baldige Rückkehr nach Frankreich. 20 Jahre später ließ die Ablehnung gegen das Reich nach. Die "Älteren" resignierten und fanden sich mit der Zugehörigkeit zum Reich ab. Die "Jüngeren" begannen sich mit ihrem Leben im Reich zu arrangieren. Ihnen ging es weniger um ein "zurück nach Frankreich", was ihr künftiges Leben völlig umgekrempelt hätte. Sie erstrebten die konkrete Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse im Elsaß: Autonomie, Gleichberechtigung, Verwaltung durch eigene elsässische Beamte, Abbau des Militarismus, Menschenrechte, etc... Leider hinkte die Integrations- und Reformpolitik des Reiches dieser Erwartung völlig hinterher. Das Reich wollte Vertrauensbeweise der Bevölkerung sehen. Die gegen ihren Willen annektierte Bevölkerung sah den Staat in der Vorleistungspflicht. Diese Entwicklung mündete in der Zaberner Affäre in eine Sackgasse.

In der Julikrise erhöhte sich der Anpassungsdruck. Entweder man befolgte seinen Einberufungsbefehl oder man floh oder man wurde bestraft. Am einfachsten war es, wenn man ihn befolgte. Zugleich hoffte man, dass die Loyalität zum Reich von diesem auch entsprechend belohnt wird. Um so stärker war die Enttäuschung, als die Entlohnung ausblieb und das Reich zur Repressionspolitik überging. Zabern war nur ein Zwischenfall, die rigorose Repressionspolitik dauerte mehr als 4 Jahre. In dieser Zeitspanne baute sich ein gewaltiger Berg der Verbitterung und Empörung auf.

Schließlich unterschied sich die Situation im Juli 1914 deutlich von der im Oktober 1918. Nachdem Deutschland Wilsons 14 Punkte als Grundlage für Friedensverhandlungen akzeptiert hatte, entschied über die elsass-lothringische Frage laut Punkt 8 des Wilsonprogramms nicht mehr das Deutsche Reich allein, sondern die Alliierten. Aus der Sicht der Elsässer und Lothringer bestand nun eine echte Wechselalternative. In dieser Situation konnte sich die angestaute Bitterkeit gegen das Reich entladen. Selbst der Ängstlichste traute sich nun offen gegen das Reich Partei zu ergreifen.
 
@Colle,

vielen Dank für Deine Ergänzung. Mit meinem vorletzten Satz im Eröffnungsbeitrag versuchte ich anzudeuten, dass die Probleme mit der elsässischen Doppelidentität nach 1918 nicht einfacher wurden. Allerdings ist dieser Zeitabschnitt für die Zeit im Kaiserreich nicht bedeutend. Demgegenüber ist die Zeit unter französischer Herrschaft vor 1871 für diesen Strang durchaus relevant. ABER ich bin jetzt viel zu müde. Das müssen wir vertagen.
 
Zuletzt bearbeitet:
er ist für die zeit des kaiserreichs nicht bedeutend, weil es das kaiserreich nicht mehr gab. aber er ist für die geschichte elsass-lothringens bedeutend.

und er zeigt auf, dass die deutsche politik des misstrauens gegenüber den elsass-lothringern leider von den franzosen nach 1919 fast nahtlos übernommen worden ist.
 
collo schrieb:
und er zeigt auf, dass die deutsche politik des misstrauens gegenüber den elsass-lothringern leider von den franzosen nach 1919 fast nahtlos übernommen worden ist.
Dennoch ist auch die Zeit vorher durchaus interessant. Man müsste mal die Biografien von Deutsch-Elsässern, vice versa, durchforsten. Ich habe das gestern mal probiert - und bin immer bei den falschen Personen gelandert: Albert Schweitzer, Rene Schickele...
Auch die Geschichte der Universität Straßburg wäre ein Ansatzpunkt.

Aber der Hans im Schnogeloch brachte mich ins Abseits.
 
Es lohnt sich mit der Geschichte des Elsasses und seiner Identität zu beschäftigen. Immerhin ist das Elsaß der Schlüssel zum Verständnis des alten Reiches, Frankreichs, Deutschlands und von Europa. Michael Essigs Buch "Das Elsaß auf der Suche nach seiner Identität" hat mir sehr gut gefallen.
 
Ich meine, daß das Elsaß, übrigens viel mehr als Lothringen, über sehr viele Jahre eine gemischtbevölkerte Region war, was im Zeitalter der Nationalstaaten zwangsweise zu Konflikten geführt hat.
Die eigentlich in Frieden und Eintracht lebende Bevölkerung wurde zwischen den "Mahlsteinen" Deutschland und Frankreich zerrieben und auch gegeneinander aufgehetzt. Heute würde man sagen, "eine wahrhaft europäische Region".
Wirklich gut behandelt wurden die Elsässer weder vom Deutschen Reich nach 1871, noch von Frankreich nach 1918. Und gleiches gilt für 1940, b.z.w. 1945. Zwar weniger spektakulär als im deutschen Osten 1945, so fanden aber auch dort Ausweisungen und Vertreibungen statt.
Nicht alles, aber sehr viel, was zum Schicksal der Elsässer zu sagen ist, spiegelt dieses Denkmal wieder, was auf dem ehemaligen Kaiserplatz in Straßburg steht. Es symbolisiert "Mutter Elsaß", die um ihre Söhne trauert: Einen Deutschen und einen Franzosen. Das Denkmal ist übrigens m.W. aus französischer Zeit.
 

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Bei uns gegenüber Rheins ist Elsaß, wenn ich dort bin, kann man dort ruhig mit Elsäßer in deutsche Sprache kommunizieren. Denn sie sprechen dort elsäßisch (deutsche Dialekt) und wir verstehen sie und sie verstehen uns.
Meistens nur Einheimischen und ältere Generationen, die Kinder nicht mehr so ganz.

Über Lothringen weiß ich nichts, da ich dort nur einmal gewesen bin.
 
Lieber Andanchamun, die Elsässer sprechen soweit sie Dialekt reden, einen schwäbisch-allemannischen Dialekt und die Lothringer soweit sie deutsch sprechen einen rheinisch-moselfränkischen Dialekt.
 
Mercy schrieb:
Dennoch ist auch die Zeit vorher durchaus interessant. Man müsste mal die Biografien von Deutsch-Elsässern, vice versa, durchforsten. Ich habe das gestern mal probiert - und bin immer bei den falschen Personen gelandert: Albert Schweitzer, Rene Schickele...
Auch die Geschichte der Universität Straßburg wäre ein Ansatzpunkt.

Aber der Hans im Schnogeloch brachte mich ins Abseits.

vor jahren habe ich eine sehr interessante familiengeschichte gelesen, von hans-otto meißner, der als reiseschriftsteller bekannt geworden ist (und sohn des staatssekretärs von ebert, hindenburg und hitler), der titel "Straßburg o Straßburg". behandelt genau die fraglichen jahre von 1871 - 1919.
 
...vielleicht hierzu ein Anmerkung meines Urgroßvaters der 1912/13 und 1915/16in Straßburg / Hagenau (Elsaß) und Dieuze (Lothringen) stationiert und somit Augenzeuge war: Lt. seiner Aussage jubelten die Elsässer wenn die deutschen Regimenter durch die Straßen zogen,schwenkten schwarz-weiß-rote Fähnchen etc. Während die Bevölkerung in Lothringen die Fensterläden zuwarf als sie mit klingender Regimentsmusik vorbeimaschierten.........
 
Leibhusar schrieb:
Lt. seiner Aussage jubelten die Elsässer wenn die deutschen Regimenter durch die Straßen zogen,schwenkten schwarz-weiß-rote Fähnchen etc. Während die Bevölkerung in Lothringen die Fensterläden zuwarf als sie mit klingender Regimentsmusik vorbeimaschierten.........

Interessante Anekdote, die ich gern glaube, passt zu meiner Einschätzung (Beitrag 10). Auch wenn man immer von "Elsaß-Lothringen" als Ganzes spricht, so sind die beiden Teile meines Wissens sehr unterschiedlich deutsch geprägt gewesen. Lothringen wurde nach 1871 eher wegen der Bodenschätze und Industrie annektiert, eine großartige deutsche Minderheit oder Verbundenheit (wie man es auch immer nennen möchte) gab es dort im Gegensatz um Elsaß, wohl kaum.
 
Mein Großvater Wehrdienst und später Kriegsdienst im Elsass und Lothringen hat dies ähnlich erzählt.
OT
Das Elsaß wurde ja überwiegend mit badischer und württembergischer Landwehr verteidigt. Großvater war stolz darauf den Hartmannsweilerkopf 3mal mitgestürmt zu haben. Die soldatenfriedhöfe im elsass sind voll von 30-40jährigen Baden-Württemberger von 14-18 und von 16jährigen von 44/45. fürchterlich, Schnaps durften sie keinen Trinken, aber für Adolf sterben.

Zur Sprache in elsaß-Lothringen:
http://www.baselland.ch/docs/archive/hist/fragen/001/096.htm

Grüße Repo
 
Ich weiß von meinem Großvater, dass nach dem 1. Weltkrieg deutsch als Alltags-Sprache verboten wurde. Wer sich weigerte französisch zu sprechen und seinen deutschen Pass abzugeben, der musste das Elsaß verlassen.
Die Familie meines Großvaters stammt aus Straßburg.
 
Sollten die Elsässer 1919 nicht noch bei den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung mitabstimmen?
Was Frankreich unterband?

Bilde mir ein, das schon mal gelesen zu haben.

Grüße Repo
 
Arne schrieb:
eine großartige deutsche Minderheit oder Verbundenheit (wie man es auch immer nennen möchte) gab es dort im Gegensatz um Elsaß, wohl kaum.

Man sollte doch eher von einer deutschsprachigen Minderheit sprechen. Was verstehst Du unter großartig?:confused:
 
heinz schrieb:
Man sollte doch eher von einer deutschsprachigen Minderheit sprechen. Was verstehst Du unter großartig?:confused:

Was ich in diesem Satz unter "großartig" verstehe? Na ja zahlenmäßig bedeutend, auffällig, nicht zu übersehen... Capice? :)
 
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