Moin, noch ein kleiner Auszug aus dem Brockhaus für dich:
Ausprägungen des Antisemitismus:
Ursprünglich entzündete sich diese Feindschaft an der religiösen und sozialen Absonderung der Juden in den Gastländern, seit sie über die Welt verstreut wurden (Diaspora), sodass die jüdischen Minderheiten schon vor der Durchsetzung des Christentums als fremdartig erschienen. Von dieser traditionellen Judenfeindschaft (Antijudaismus; Judenverfolgungen im Römischen Reich, Kampf gegen das Judentum im Mittelalter, Judenabzeichen) ist der moderne, v. a. gegen die Judenemanzipation (rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung seit dem 18./19. Jahrhundert) gerichtete Antisemitismus zu unterscheiden. Er wurde vorwiegend wirtschaftlich und politisch begründet und benutzt (z. B. J. A. de Gobineau, H. S. Chamberlain). Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gewann der rassistische Antisemitismus v. a. in Deutschland, Österreich-Ungarn und auch in Osteuropa wachsenden politischen Einfluss. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er für breite Schichten in diesen Ländern zur irrationalen Schlüsselerklärung der sozialen und politischen Strukturkrise. Die hemmungslose antisemitische Agitation erklärte den Einfluss von Menschen jüdischer Herkunft und Tradition in Wirtschaft, Kunst und Literatur als »zersetzend«; sie stellte Liberalismus, Kapitalismus und Sozialismus nur als verschiedene Ausprägungen einer zielgerichteten, »parasitären« jüdischen »Unterwanderung« dar (Weltverschwörungstheorien, u. a. sogenannte Protokolle der Weisen von Zion). Dieser bereits in seiner Gesinnung gewalttätige Antisemitismus führte als fester Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie in Deutschland zu einer ständig sich steigernden Judenverfolgung von der Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben, der Rassengesetzgebung (Nürnberger Gesetze), der staatlichen Provozierung von Pogromen bis zum Holocaust, der Ermordung von etwa 6 Mio. Juden während des Zweiten Weltkriegs.
und von Wolfgang Benz:
Von der religiös-gesellschaftlichen zur rassistischen Ausgrenzung im 19. Jahrhundert
In der Zeit der Aufklärung wurde mit der zum Beispiel von Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn propagierten Idee der Toleranz gegenüber Juden der Weg zur Emanzipation bereitet, die als »bürgerliche Verbesserung der Juden« gedacht war. Der Schriftsteller und Beamte in preußischen Diensten Christian Wilhelm Dohm fasste 1781 das Programm der aufklärerischen Judenemanzipation in die Worte: »Die der Menschlichkeit und der Politik gleich widersprechenden Grundsätze der Ausschließung, welche das Gepräge der finsteren Jahrhunderte tragen, sind der Aufklärung unserer Zeit unwürdig und verdienen schon längst nicht mehr, befolgt zu werden.«
Die Emanzipation der Juden, also ihre Befreiung aus den sozialen und rechtlichen Schranken, war in Deutschland und Österreich kein revolutionärer Akt wie 1791 in Frankreich, sondern Ergebnis einer langwierigen Debatte, die sich vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis Ende der 1860er-Jahre hinzog. Als Bewegung gegen die rechtliche Gleichstellung der Juden und gefördert von gesellschaftlichen Krisen, kam es 1819 zu pogromartigen Ausschreitungen. Die »Hep-Hep-Verfolgungen« begannen in Würzburg und strahlten über ganz Deutschland bis nach Dänemark aus. Sie zeigten zugleich, dass Judenfeindschaft eine Form von sozialem Protest war, bei dem Aggressionen verschoben und gegen Juden gerichtet wurden.
Judenfeindschaft erhielt im 19. Jahrhundert eine neue Dimension in Gestalt des rassistisch und sozialdarwinistisch argumentierenden modernen Antisemitismus, der sich als Resultat wissenschaftlicher Erkenntnis ausgab. Zu dessen Vätern gehörte Arthur de Gobineau mit seinem voluminösen Essay »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen« (erschienen 1853 bis 1855 in vier Bänden), der zwar nicht gegen die Juden gerichtet war, aber instrumentalisiert wurde als Eckpfeiler einer Rassentheorie, die den modernen Antisemitis- mus scheinbar wissenschaftlich unterfütterte. Die Übereinstimmung der antisemitischen Theoretiker bestand darin, dass jede »Rasseneigenschaft« der Juden negativ war. Der Unterschied zur älteren Judenfeindschaft war die Überzeugung, dass Rasseneigenschaften anders als religiöse Bekenntnisse unveränderbar seien. Die Taufe konnte nach Überzeugung der Antisemiten den Makel des Judeseins nicht mehr aufheben. In der Diskussion über die »Judenfrage« spielten die Schmarotzermetaphorik und die Parasitenmetaphorik zunehmend eine Rolle, ungeachtet der Tatsache, dass die antiemanzipatorische Judenfeindschaft vor allem eine Bewegung gegen die Modernisierung der Gesellschaft und gegen den politischen Liberalismus war. Der Übergang vom religiösen Hass zur rassistischen Ablehnung war nicht abrupt, die Traditionen des religiösen Antijudaismus blieben wirkungsmächtig und verstärkten die neuen pseudorationalen Argumente des Rassenantisemitismus. Schließlich wurde Judenfeindschaft zum »kulturellen Code« (Shulamit Volkov), mit dessen Hilfe sich die Rechte im Wilhelminischen Kaiserreich verständigte.
Intellektueller Höhepunkt der Auseinandersetzung war der Berliner Antisemitismusstreit, ausgelöst durch einen Artikel Heinrich von Treitschkes in den »Preußischen Jahrbüchern« im November 1879. Der angesehene Historiker hatte sich gegen die von ihm befürchtete Masseneinwanderung osteuropäischer Juden ausgesprochen und den deutschen Juden mangelnden Assimilationswillen vorgeworfen. Obwohl er nicht für die Rücknahme der Emanzipation plädierte, war Treitschke in der Argumentation und durch die Verwendung ausgrenzender judenfeindlicher Stereotypen - er verwendete einmal den Ausdruck »Deutsch redende Orientalen« - ins Lager der Antisemiten geraten. Auch angesichts der Wirkung, die Treitschkes kulturpessimistische Ausführungen hatten, ist die Diskussion, ob er selbst ein Antisemit war, ziemlich müßig, denn er machte zumindest die grassierende antisemitische Agitation, wie sie von drittrangigen Publizisten und eifernden Kleingeistern entfacht worden war, gesellschafts- und diskussionsfähig.
Kurz zuvor, im Februar 1879, war Wilhelm Marrs politisches Pamphlet »Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum« erschienen, das im Herbst 1879 schon in der 12. Auflage verkauft wurde. Marr verwandte erstmals den Begriff »Antisemitismus«. Den Weg dahin hatten schon Autoren wie Otto Glagau bereitet, der im weit verbreiteten Wochenblatt »Die Gartenlaube« die Juden mit Verunglimpfungen wie »90 Prozent der Gründer und Makler sind Juden« als Verursacher der lang anhaltenden Wirtschaftskrise, die auf den »Gründerkrach« von 1873 folgte, denunzierte und in polemischen Artikeln die Juden zu Sündenböcken für aktuelles Ungemach stempelte. Die Pressekampagnen in der konserativen protestantischen Kreuzzeitung, aber auch in katholischen Blättern, deren gemeinsamer Feind der politische Liberalismus war, vertieften seit 1874/75 die judenfeindlichen Ressentiments. ...
viel glück.