Folgen einer Anerkennung des armenischen Genozids

Chrisyma

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Hallo liebe Community

Immer mehr setze ich mich mit dem Thema auseinander und habe mich nun gefragt, was wohl einer Anerkennung im Weg steht (in der Türkei).
Die Türkei leugnet ja den Genozid an den Armeniern, der jedoch historisch bereits bewiesen wurde. Was könnten Gründe sein?

Einerseits habe ich mir überlegt...
...dass eine Anerkennung wahrscheinlich einen grossen Gesichtsverlust bedeuten würde. Die Türkei würde ja ein übles Verbrechen gestehen.

...dass eine Anerkennung mit Zahlungen verbunden sein würde an die Opfer, Entschädigungen u.ä.

...Gebietsabtrennungen?

Hat jemand andere Vorschläge? Evtl. sogar mit Quellen / Hinweisen? :)

Mfg
Chris
 
Hallo liebe Community

Immer mehr setze ich mich mit dem Thema auseinander und habe mich nun gefragt, was wohl einer Anerkennung im Weg steht (in der Türkei).
Die Türkei leugnet ja den Genozid an den Armeniern, der jedoch historisch bereits bewiesen wurde. Was könnten Gründe sein?

Einerseits habe ich mir überlegt...
...dass eine Anerkennung wahrscheinlich einen grossen Gesichtsverlust bedeuten würde. Die Türkei würde ja ein übles Verbrechen gestehen.

...dass eine Anerkennung mit Zahlungen verbunden sein würde an die Opfer, Entschädigungen u.ä.

...Gebietsabtrennungen?

Hat jemand andere Vorschläge? Evtl. sogar mit Quellen / Hinweisen? :)

Mfg
Chris


Die Gründe sind vielschichtig, doch vor allem ist es wohl so, dass nicht sein kann, was nicht sein darf.

Übrigens erfüllt das Vorgehen der deutschen Schutztruppe unter Lothar von Trotha gegen die Herero und Nama von 1904-08 alle Vorgaben der Vereinten Nationen als Völkermord, und wurde 1948 von den vereinten Nationen auch ausdrücklich als Völkermord annerkannt. Bisher aber haben alle Bundesregierungen daran festgehalten, dass es sich nicht um Völkermord handelte. In diesem Fall dürfte wohl die Sorge um eventuelle Wiedergutmachungsforderungen der Hauptgrund sein
 
Ich kann ja nicht für die Türkei sprechen, aber ich glaube die Türkei anerkennt das nicht weil sie es nicht als Völkermord sieht. Mord erfordert Vorsatz und die Absicht war eben nicht auf Vernichtung sondern auf Umsiedlung gerichtet, da sie Aufstände der Armenier samt Unterstützung der Engländer befürchtet haben.
 
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Immer mehr setze ich mich mit dem Thema auseinander und habe mich nun gefragt, was wohl einer Anerkennung im Weg steht (in der Türkei).
Die Türkei leugnet ja den Genozid an den Armeniern, der jedoch historisch bereits bewiesen wurde. Was könnten Gründe sein?
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Historisch unumstritten ist das Massaker, also ein Massenmord in Verbindung mit besonderer Grausamkeit. Umstritten ist, dass es sich hier um einen geplanten Völkermord (Genozid) handelte.
Eine besondere Problematik besteht hier in einer Relativierung zum tatsächlichen Völkermord des Dritten Reichs an der einheimischen jüdischen Bevölkerung.
Nicht weniger problematisch ist die Tatsache, dass diese stark vereinfachende Relativierung ein Steckenpferd rechtsradikaler Kreise darstellt.

Es kommen auch verschiedene Staaten hier auch zu verschiedenen offiziellen Ansichten.
Und hier findet sich auch ein wesentlicher Unterschied zum vernünfitg unbezweifelten Genozid des 3. Reichs an den Juden.

Es wären also auch insbesondere aus unserer Sicht die "Folgen einer Anerkennung des armenischen Genozids" zu bedenken.
 
Mord erfordert Vorsatz und die Absicht war eben nicht auf Vernichtung sondern auf Umsiedlung gerichtet, da sie Aufstände der Armenier samt Unterstützung der Engländer befürchtet haben.

Zwar hat das mit juristischen Fragen eines "Vorsatzes" überhaupt nichts zu tun. Totschlag kann ebenfalls Vorsatz beinhalten. Beim Genozid geht es nicht um Affekte oder Motivlagen.

Würde man sich aber dennoch auf diese - unsinnige - strafrechtliche Diskussion einlassen, ist das Sterben von einem Drittel bis drei Viertel der "umgesiedelten" Bevölkerung, insbesondere der "Aufstand-ungeeigneten" Kinder, Frauen und Alten, durch Hunger und brutale Gewalt kaum ein Betriebsunfall. Man hat sich auch nicht zufällig in der Region vertan, indem man hunderttausende völlig unversorgte Zivilisten in syrischen Halbwüstengebiete "absetzte". Ebenso wenig hat das Sterben zehntausender Männer in der Zwangsarbeit entlang der Bahngleise etwas mit "Umsiedlung" zu tun. Es war auch nicht das erste Massaker, sondern das ging hier bereits Jahrzehnte.

Man sollte hier - wieder der unsinnige (personenbezogene) strafrechtliche Vergleich - aufpassen, Massenmord oder Genozide nicht mit staatlichen "Notwehrlagen" zu exkulpieren.

Richtig ist, dass der Startschuss für diese Massaker durch den Kriegsverlauf fiel.
http://www.geschichtsforum.de/f62/genozid-den-armeniern-1915-kaukasische-front-1914-16-a-39396/
Richtig ist, dass die Jungtürken das Militärregime die "Lösung" der armenischen Bedrohung im Rücken zB der Kaukasus-Front nicht "spontan" auslösten.
Richtig ist, dass es auch Verbrechen der armenischen Seite gab, Aufstände etc. Als das hat nichts mit der Genozid-Qualität zu tun, weil eine "Notwehr-Argumentation" bei hilflosen Zivilisten (das war die Masse der Opfer! - die Männer dienten in der osmanischen Armee, oder wurden in der Zwangsarbeit mit hohen Opferzahlen "verbraucht") an der Sache vorbeigeht.

Ganz interessant am Rande ist, dass die erhebliche Bedrohung durch griechisch-stämmige Bevölkerung in der Westtürkei mit der Dardanellenoperation eben nicht zum Genozid führte, oder als Schein-Argument für "umsiedlungsbedingtes" Sterben benutzt wurde. Obwohl es auch hier Aufstände gab.
 
..Würde man sich aber dennoch auf diese - unsinnige - strafrechtliche Diskussion einlassen...
Laut Resolution 260 der Generalversammlung der Vereinten Nationen „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ ist Völkermord ein internationales Verbrechen, begangen durch folgende Handlungen: das Töten von Angehörigen der Gruppe, das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe, die absichtliche Unterwerfung unter Lebensbedingungen, die auf die völlige oder teilweise physische Zerstörung der Gruppe abzielen, die Anordnung von Maßnahmen zur Geburtenverhinderung und die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Das ist wohl eindeutig eine strafrechtliche Definition und somit auch als solche diskutierbar.
..ist das Sterben von einem Drittel bis drei Viertel der "umgesiedelten" Bevölkerung, insbesondere der "Aufstand-ungeeigneten" Kinder, Frauen und Alten, durch Hunger und brutale Gewalt kaum ein Betriebsunfall. Man hat sich auch nicht zufällig in der Region vertan, indem man hunderttausende völlig unversorgte Zivilisten in syrischen Halbwüstengebiete "absetzte". Ebenso wenig hat das Sterben zehntausender Männer in der Zwangsarbeit entlang der Bahngleise etwas mit "Umsiedlung" zu tun. Es war auch nicht das erste Massaker, sondern das ging hier bereits Jahrzehnte....
Ausdrücklich angeführt wird, dass obige Handlungen kein Völkermord sind, wenn die Absicht nicht darauf gerichtet ist, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, egal wie viele Mitglieder getötet oder sonst wie beeinträchtigt werden. Wenn uns heute Umsiedlungen als barbarischer Akt erscheinen darf man trotzdem nicht übersehen, dass sie im vorderen Orient spätestens seit den Assyrern "gängige Verwaltungpraxis" waren.
 
Ausdrücklich angeführt wird, dass obige Handlungen kein Völkermord sind, wenn die Absicht nicht darauf gerichtet ist, eine Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten, egal wie viele Mitglieder getötet oder sonst wie beeinträchtigt werden. Wenn uns heute Umsiedlungen als barbarischer Akt erscheinen darf man trotzdem nicht übersehen, dass sie im vorderen Orient spätestens seit den Assyrern "gängige Verwaltungpraxis" waren.

Wobei in der Antike nicht die Absicht generell unterstellt werden sollte, dass bei den Deportationen der Tod vieler der Menschen ein Teil des Plans gewesen sei. Wen die Assyrer töten wollten, den töteten sie. Beim „babylonischen Exil“ der Juden war vor allem die Oberschicht der Israeliten betroffen und selbst der abgesetzte König durfte „an den Wassern Babylons weinen“. Das assyrische Großreich scheute vor keiner Gewalttat zurück, aber die Deportation war ein Mittel Gebiete beherrschbar zu machen und gleichzeitig die Leistungsfähigkeit des eigenen Kerngebietes (Arbeitskräfte) zu erhöhen. Das waren wohl die Grundgedanken hinter altorientalischen Deportationen.

Tod durch Arbeit gab es zwar auch, aber dann wurden Menschen eher versklavt und etwa in die Bergwerke geschickt… was nicht als Kategorie einer Deportation, sondern damaligem Herrschafts- & Rechtsverständnisses angesehen werden sollte... (Alles vereinfacht formuliert).

Im Kontext mit den modernen Vorfällen bei den Armeniern werden andere Absichten diskutiert. Die armenischen Siedlungsgebiete lagen seit Jahrhunderten im Herrschaftsbereich der Osmanen… Weitere, wesentliche Unterschiede lassen sich anführen…
 
Historisch unumstritten ist das Massaker, also ein Massenmord in Verbindung mit besonderer Grausamkeit. Umstritten ist, dass es sich hier um einen geplanten Völkermord (Genozid) handelte.
Eine besondere Problematik besteht hier in einer Relativierung zum tatsächlichen Völkermord des Dritten Reichs an der einheimischen jüdischen Bevölkerung.
Nicht weniger problematisch ist die Tatsache, dass diese stark vereinfachende Relativierung ein Steckenpferd rechtsradikaler Kreise darstellt.

Es kommen auch verschiedene Staaten hier auch zu verschiedenen offiziellen Ansichten.
Und hier findet sich auch ein wesentlicher Unterschied zum vernünfitg unbezweifelten Genozid des 3. Reichs an den Juden.

Es wären also auch insbesondere aus unserer Sicht die "Folgen einer Anerkennung des armenischen Genozids" zu bedenken.

Wie soll man das nun verstehen? Sollen wir den (meiner Ansicht nach ebenfalls unbezweifelten) Völkermord an den Armeniern in Frage stellen, weil sonst "unser" Genozid relativiert werden könnte? Was wäre dass denn für eine verquere Denkweise?
 
naja, es gibt eben Leute, die glauben, "unser Genozid" sei der einzige auf der Welt ...

Liebe Leute, leider nein, nur waren andere nicht soo in der Lage, ihre mörderischen Ideen umzusetzen. Versuche , dies zu tun , gabs und gibts auch danach ...
 
Es gibt genügend Quellen die belegen, dass es sich bei den Mord an den Armeniern um einen Genozid handelt. Als Beispiel, der amerikanische Botschafter Morgenthau kam schon während des Krieges zum Schluss, dass die Jungtürken vorhatten, das ganze Volk zu vernichten. Dies kam aus den Gesprächen die er mt Talaat Pascha führte klar zum Ausdruck. 1918 schrieb Morgenthau: "Als die türkischeen Behörden die Befehle zu diesen Deportationen erteilten, stellte sie einem ganzen Volk das Todesurteil aus; sie verstanden das gut, und in ihren Gesprächen mti mit mahcten sie keinen besonderen Hehl daraus.“ 1

Die wichtigsten Quellen der Forschung sind neben den Augenzeugenberichten von überlebenden Armeniern, vor allem deutschsprachige Quellen, da sich zu dieser Zeit eine grosse Zahl von deutschen und österreichischen Staatsbürgern im Osmanischen Reich befanden und die die Deportationen und Massaker mit angesehen hatten.

Die Frage weshalb die offizielle Türkei sich dem nie gestellt hat, ist wohl sehr vielschichtig. Die Türkei hat sich nie ernsthaft mit der Endphase des Osmanischen Reiches befasst. Sie schafften einen Gründungsmythos der vor allem den nationalen Freiheitskampf gegen den europäischen Imperialismus im Vordergrund hatte. Die Deportationen der Armenier waren so gesehen eine kriegsnotwendige Massnahme zur Rettung des Vaterlandes. Bei der Gründung der jungen Türkei waren zahlreiche Mitglieder der CUP (die verantwortlichen für die Deportation und Massaker) beteiligt. Die hatten kein Interesse daran den Genozid anzuerkennen - dies wäre ja eine Schuldanerkennung gewesen und hätte in ihren Augen wohl die Identität der modernen Türkei erschüttert.

Heute verfolgt die offizielle Türkei zwei Strategien. Entweder wird der Genozid geleugnet oder die Bedeutung der Massaker und Deportationen werden heruntergespielt.

Yves Ternon, ein französischer Historiker, hat die Haltung der Türkei treffend charakterisiert: "Nichts ist geschehen, aber sie haben es verdient."2

Eine Anerkennung des armenischen Genozids sollte eigentlich schon lange geschehen sein. Dennoch gibt es immer wieder Berichte bei denen man sich gewisse Fragen stellen muss.

Beispiel:
Der türkischen Nationalist Dogu Perincek hat 2005 in mehreren Reden in der Schweiz den Genozid geleugnet, daraufhin wurde er wegen Rassendiskriminierung angeklagt und verurteilt. 2007 hat das Bundesgericht das Urteil bestätigt. Perincek hat das Urteil an den europäischen Gerichtshof weitergezogen und 2013 wurde die Schweiz verurteilt, weil sie Perincek der Rassendiskriminierung schuldig gesprochen hatte. 2014 wird nun die Angelegenheit neu aufgerollt.




1 Naimark, Normen: Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. 2004. S. 53

2 Teron, Yves: Der verbrecherische Staat. Völkermord im 20. Jahrhundert. 1996. S. 152

Literatur:
Barth, Boris: Genozid. Völkermord im 20. Jahrhundert. Geschichte, Theorien, Kontroversen. 2006


Ein sehr interessanter Artikel von Yves Teron:

http://www.imprescriptible.fr/dossiers/ternon/negationnisme
 
Zuletzt bearbeitet:
Wie soll man das nun verstehen? Sollen wir den (meiner Ansicht nach ebenfalls unbezweifelten) Völkermord an den Armeniern in Frage stellen, weil sonst "unser" Genozid relativiert werden könnte? Was wäre dass denn für eine verquere Denkweise?

Dein Einwand ist sehr berechtigt.
Allerdings scheinen mir hier doch grundlegende Unterschiede zu bestehen.
Werden diese nicht beachtet so besteht m.E. durchaus die Gefahr einer Relativierung.
 
Ganz interessant am Rande ist, dass die erhebliche Bedrohung durch griechisch-stämmige Bevölkerung in der Westtürkei mit der Dardanellenoperation eben nicht zum Genozid führte, oder als Schein-Argument für "umsiedlungsbedingtes" Sterben benutzt wurde. Obwohl es auch hier Aufstände gab.

Deportationen gab es auch, aber im kleineren Maßstab.
Ansonsten, alle griechischen Männer im wehrfähigen Alter kamen auch in die Arbeitsbatallione, wovon ein Großteil (sofern sie nicht desertierten) unkam durch die schlechte Ernährungssituation im Osm. Reich und durch die Arbeitsbedingungen.

Die griechisch-pontische Bevölkerung wurde von Deporationen (ähnlich wie bei den Armeniern) betroffen, insbesondere ab 1916 im östlichen Teil des Pontus, da man eine Fraternisierung mit der vorrückenden russischen Armee befürchtete. Nach der Besetzung Trapezunds durch die Russen wurde es ruhiger, die Deportationen bzw. teilweise Exterminierung der Pontus-Griechen ging dann ab 1919 weiter, als Atatürk sein Hinterland "sicher" haben wollte als er gegen die Aliierten bzw. die bei Smyrna gelandeten Griechen vorging.

Während des griech.-türk. Krieges 1919-1922 ging es im verstärktem Maße weiter, bis dann endlich die Überlebenden 1924 nach Griechenland im Rahmen eines gegenseitigen Bevölkerungsaustausches deportiert wurden.

Soweit in aller Kürze.
 
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