Kann jemand aus dem Stand heraus sagen, wann Russland in seiner Geschichte Angriffskriege startete? Oder einen Literaturhinweis zu diesem speziellen Thema geben?
Dank an Excideuil für den richtigen Einstieg in das Thema.
Zunächst ist der Fragestellung in der Konnotation zu widersprechen, dass es einen bestimmten historisch zu definierenden Fall von "besonderer russischer Angriffslust" gegeben hätte. Das ist Unsinn.
In diesem Sinne schreibt Geyer: " Dieses Dilemma (die Diskussion über Imperialismustheorien) hat dazu beigetragen, dass in der westlichen Rußlandliteratur Stereotype weiterleben, die in der Expansion des Zarenreiches ein Naturgesetz russischer Geschichte sehen. Das Imperialismusproblem wir hier in den alten Klischeevorstellungen vom ungehemmten Ausdehnungs- und Weltherrschaftsstreben der Russen aufgelöst." (S. 14)
Der russische Imperialismus findet seinen embryonalen Beginn vermutlich in den Napoleonischen Kriegen und seinen Folgen. Auch definiert durch beipsielsweise den Hilferuf des österreichischen Hofs, um den ungarischen Aufstand niederzuschlagen. Eine Rolle, in der der Zarismus mit half die europäischen Revolutionen zu ersticken und durchaus in dieser Rolle gerne gesehen war durch die anderen europäischen Mächte (Höfe).
http://de.wikipedia.org/wiki/Ungarische_Revolution_1848/1849
Definiert wird die Ausbildung des russischen Imperialismus dezidiert durch den Krimkrieg, und in diesem Zusammenhang durch die Konflikte auf dem Balkan und somit auch den Zugang zu den Dardanellen, den Konflikt an der fernöstlichen Peripherie (Persien, Indien, China) zu GB und zu Japan und dem Bündnis beider Staaten und dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/05.
Im 19 Jahrhundert findet allgemien in Europa die Ausbildung der Nationalstaaten statt, der Übergang von agrarischen Strukturen zu einer industriellen Produktion und die Veränderung der sozialen Strukturen statt.
Vor diesem Hintergrund wird teilweise die Expansion Russlands durch das Interesse der russischen Eliten definiert und erklärt. Vereinfacht dient dabei die äußere Expansion, die als spezifische Form eines kontinentalen Imperialismus definiert werden kann, als Instrument der Modernisierung (Ausbildung eines Nationalstaates, einer zentralen Bürokratie etc.) und gleichzeitig auch als Instrument der innenpolitischen Repression (vg. z.B. Wehler: Sozialimperialismus).
In diesem Sinne versuchte die zaristische Politik die spezifischen Chancen ihrer Geographie zu nutzen und gleichzeitig den erhöhten Anforderungen an ihren Status als europäische Großmacht gerecht zu werden.
Der Russische Imperialismus - Dietrich Geyer - Google Books
Zusätzlich zu dieser engen Interaktion zwischen innen- und außenpolitischen Faktoren, die den russischen Imperialismus im 19. Jahrhundert begünstigten, ist mit Snyder auf die Logik von "Großmachtpolitik" hinzuweisen.
In seiner Sichtweise ist für eine Großmacht eine territoriale Sicherheit lediglich durch eine fortgesetzte aggressive und expansive Außenpolitik zu erreichen. In diesem Sinne war Russland nicht aggressiver wie seine europäischen Nachbarn, es hatte aufgrund seiner Geographie nur bessere Voraussetzungen für die Expansion.
Myths of Empire: Domestic Politics and International Ambition - Jack Snyder - Google Books
Allerdings, so Owen (Industrialization and Capitalizm, S. 220), war die wirtschaftliche Grundlage für Russland sehr schmal und es erforderte massive Anstrengungen, auch nach den sehr ernüchternden Erfahrungen des Krimkrieges, die Infrastruktur Russlands und seiner industrielle Entwicklung voranzutreiben. Auch unter sehr starker Nutzung von ausländischen, überwiegend französische Kredite, Kapital, deren Unternehmen sich primär in Leningrad und in Moskau niederließ.
Wobei die Entwicklung zu einem kapitalistischen Staat durch die industriefeindliche Haltung der russischen Aristokratie massiv behindert wurde. Zusätzlich ergab sich ein massives Arbeitskräfteproblem aufgrund der starken agrarischen Ausrichtung der Wirtschaft des Landes. Dass Russland zu einer der fünf größten Indudstrienationen bis ca. 1905 aufsteigen konnte, verdankte es eher der extensiven Nutzung seiner Ressourcen.
A Companion to Russian History - Google Books
Betrachtet man abschließen die historische Entwicklung Russlands, dann ist es ein kontinuierlicher Prozess des Aufstiegs und des Zerfalls von asisatischen und europäischen Mächten.
Im Nordeuropäischen Bereich profitierte beispielsweise Russland am stärksten vom Niedergang Schwedens als nördliche europäische Großmacht (vg. Atlas, S. 36)
The Routledge Atlas of Russian History - Martin Gilbert - Google Books
Ergo: Russlands Außenpolitik war aus vielen Gründen expansiv, teils aufgrund der Chancen, teils aufgrund der Rivalität der Großmächte. Es war aber sicherlich nicht außergewöhnlich "kriegslüsternd". Diese Vorstellung dürfte lediglich als Klischee noch zu gebrauchen sein.