Führte Russland Angriffskriege?

Aprilhase

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Kann jemand aus dem Stand heraus sagen, wann Russland in seiner Geschichte Angriffskriege startete? Oder einen Literaturhinweis zu diesem speziellen Thema geben?
 
Was ist dennn überhaupt unter "Angriffskriege" zu verstehen?

Militärische Ereignisse nach dem Briand-Kellogg-Pakt, der diese Angriffskriege versuchte zu definieren und verboten hat? Etwa den sowjetisch-finnischen Winterkrieg?

Was ist mit "Interventionen", die nicht zum Krieg führten, etwa die sowjetischen Annektionen des Baltikums oder der Bukowina und Bessarabiens von Rumänien 1940?

Was ist zB mit dem russischen Imperialismus im 19. Jahrhundert?
 
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Kann jemand aus dem Stand heraus sagen, wann Russland in seiner Geschichte Angriffskriege startete? Oder einen Literaturhinweis zu diesem speziellen Thema geben?

Dank an Excideuil für den richtigen Einstieg in das Thema.

Zunächst ist der Fragestellung in der Konnotation zu widersprechen, dass es einen bestimmten historisch zu definierenden Fall von "besonderer russischer Angriffslust" gegeben hätte. Das ist Unsinn.

In diesem Sinne schreibt Geyer: " Dieses Dilemma (die Diskussion über Imperialismustheorien) hat dazu beigetragen, dass in der westlichen Rußlandliteratur Stereotype weiterleben, die in der Expansion des Zarenreiches ein Naturgesetz russischer Geschichte sehen. Das Imperialismusproblem wir hier in den alten Klischeevorstellungen vom ungehemmten Ausdehnungs- und Weltherrschaftsstreben der Russen aufgelöst." (S. 14)

Der russische Imperialismus findet seinen embryonalen Beginn vermutlich in den Napoleonischen Kriegen und seinen Folgen. Auch definiert durch beipsielsweise den Hilferuf des österreichischen Hofs, um den ungarischen Aufstand niederzuschlagen. Eine Rolle, in der der Zarismus mit half die europäischen Revolutionen zu ersticken und durchaus in dieser Rolle gerne gesehen war durch die anderen europäischen Mächte (Höfe).

http://de.wikipedia.org/wiki/Ungarische_Revolution_1848/1849

Definiert wird die Ausbildung des russischen Imperialismus dezidiert durch den Krimkrieg, und in diesem Zusammenhang durch die Konflikte auf dem Balkan und somit auch den Zugang zu den Dardanellen, den Konflikt an der fernöstlichen Peripherie (Persien, Indien, China) zu GB und zu Japan und dem Bündnis beider Staaten und dem Russisch-Japanischen Krieg 1904/05.

Im 19 Jahrhundert findet allgemien in Europa die Ausbildung der Nationalstaaten statt, der Übergang von agrarischen Strukturen zu einer industriellen Produktion und die Veränderung der sozialen Strukturen statt.

Vor diesem Hintergrund wird teilweise die Expansion Russlands durch das Interesse der russischen Eliten definiert und erklärt. Vereinfacht dient dabei die äußere Expansion, die als spezifische Form eines kontinentalen Imperialismus definiert werden kann, als Instrument der Modernisierung (Ausbildung eines Nationalstaates, einer zentralen Bürokratie etc.) und gleichzeitig auch als Instrument der innenpolitischen Repression (vg. z.B. Wehler: Sozialimperialismus).

In diesem Sinne versuchte die zaristische Politik die spezifischen Chancen ihrer Geographie zu nutzen und gleichzeitig den erhöhten Anforderungen an ihren Status als europäische Großmacht gerecht zu werden.

Der Russische Imperialismus - Dietrich Geyer - Google Books

Zusätzlich zu dieser engen Interaktion zwischen innen- und außenpolitischen Faktoren, die den russischen Imperialismus im 19. Jahrhundert begünstigten, ist mit Snyder auf die Logik von "Großmachtpolitik" hinzuweisen.

In seiner Sichtweise ist für eine Großmacht eine territoriale Sicherheit lediglich durch eine fortgesetzte aggressive und expansive Außenpolitik zu erreichen. In diesem Sinne war Russland nicht aggressiver wie seine europäischen Nachbarn, es hatte aufgrund seiner Geographie nur bessere Voraussetzungen für die Expansion.

Myths of Empire: Domestic Politics and International Ambition - Jack Snyder - Google Books

Allerdings, so Owen (Industrialization and Capitalizm, S. 220), war die wirtschaftliche Grundlage für Russland sehr schmal und es erforderte massive Anstrengungen, auch nach den sehr ernüchternden Erfahrungen des Krimkrieges, die Infrastruktur Russlands und seiner industrielle Entwicklung voranzutreiben. Auch unter sehr starker Nutzung von ausländischen, überwiegend französische Kredite, Kapital, deren Unternehmen sich primär in Leningrad und in Moskau niederließ.

Wobei die Entwicklung zu einem kapitalistischen Staat durch die industriefeindliche Haltung der russischen Aristokratie massiv behindert wurde. Zusätzlich ergab sich ein massives Arbeitskräfteproblem aufgrund der starken agrarischen Ausrichtung der Wirtschaft des Landes. Dass Russland zu einer der fünf größten Indudstrienationen bis ca. 1905 aufsteigen konnte, verdankte es eher der extensiven Nutzung seiner Ressourcen.

A Companion to Russian History - Google Books

Betrachtet man abschließen die historische Entwicklung Russlands, dann ist es ein kontinuierlicher Prozess des Aufstiegs und des Zerfalls von asisatischen und europäischen Mächten.

Im Nordeuropäischen Bereich profitierte beispielsweise Russland am stärksten vom Niedergang Schwedens als nördliche europäische Großmacht (vg. Atlas, S. 36)

The Routledge Atlas of Russian History - Martin Gilbert - Google Books

Ergo: Russlands Außenpolitik war aus vielen Gründen expansiv, teils aufgrund der Chancen, teils aufgrund der Rivalität der Großmächte. Es war aber sicherlich nicht außergewöhnlich "kriegslüsternd". Diese Vorstellung dürfte lediglich als Klischee noch zu gebrauchen sein.
 
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Kann jemand aus dem Stand heraus sagen, wann Russland in seiner Geschichte Angriffskriege startete? Oder einen Literaturhinweis zu diesem speziellen Thema geben?

Im Großen Nordischen Krieg schloss Peter I. eine Koalition mit August II. von Polen und dem König von Dänemark, um einen Zugang zur Ostsee zu gewinnen, und die Zeit schien günstig, denn der neue König Karl XII. von Schweden war erst 18 Jahre und war bisher eher durch eigenwillige Eskapaden aufgefallen. Dieser landete allerdings mit englisch-holländischer Hilfe in Dänemark, schlug 1700 die Russen vernichtend bei Narva und zwang August 1706 als König von Polen abzudanken. Inzwischen hatte peter eine neue Armee aufgestellt und 1703 St. Petersburg gegründet, als Karl XII. 1708 Russland angriff, wo seine Armee in die 1. Russlandkatastrophe geriet und unter einem extrem harten Winter zuleiden hatte. Karl XII. wurde 1709 bei Poltawa vernichtend besiegt. Er flüchtete in die Türkei und setzte den Krieg fort. 1718 fiel er beim Versuch Norwegen, das in Personalunion mit Dänemark verbunden war bei Ferderikshald. 1721 endete der Große Nordische Krieg und Russland löste Schweden als Großmacht ab.
Karl XII. hat Peter als Aggressor gesehen, der ihm im Gegensatz zu August wenigstens formal den Krieg erklärte. Peter hat den Krieg gerechtfertigt, Ingermanland zurückzuerobern, das zu Russland gehörte, bevor es zu Schweden kam. zeitweise wollte Peter alle Eroberungen in Estland und Livland zurückgeben, wenn Karl ihm nur St. Petersburg gelassen hätte.

Friedrich II. von Preußen war aus fadenscheinigeren Gründen in Schlesien eingefallen, um sich wie er ganz offen zugab, einen Ruhmeskranz und eine reiche Provinz mit ca 1 Millionen Einwohnern zu gewinnen, und 1756 setzte er abermals auf Präventivkrieg und marschierte in Sachsen, dessen Untertanen Preußens Kriegskasse auffüllen mussten, was den Monarchen zu dem Bon mot inspirierte, Sachsen sei wie ein Mehlsack, wenn man draufschlägt kommt immer noch etwas heraus.
 
Danke für die Antworten. Wikipedia lese ich für wissenschaftliche Artikel ganz sicher nicht, da der Unsinn, der in meinem Fachbereich dort geschrieben wird, bei mir regelmäßig Brechreiz auslöst. Dann hätte ich doch lieber ein anerkanntes Buch zum Thema.
 
Danke für die Antworten. Wikipedia lese ich für wissenschaftliche Artikel ganz sicher nicht, da der Unsinn, der in meinem Fachbereich dort geschrieben wird, bei mir regelmäßig Brechreiz auslöst. Dann hätte ich doch lieber ein anerkanntes Buch zum Thema.

Man kann Wikipedia sicherlich vorwerfen, nicht ausreichend aktuell zu sein. Man kann ihnen sicherlich auch vorwerfen, nicht die internationale Sicht der Diskussion angemessen zu berücksichtigen.

Aber Unsinn steht auf Wikipedia sicherlich und definitiv nicht!!!!!! Und es ist weiterhin eine hervorragende Möglichkeit, einen schnellen Einstieg in ein Thema zu erhalten!!

Ansonsten wurden Dir zwei Bücher geliefert, die durchaus als relevant angesehen werden können. Sicherlich nur als Einstieg, da das Thema insgesamt komplex ist.
 
Man kann Wikipedia sicherlich vorwerfen, nicht ausreichend aktuell zu sein. Man kann ihnen sicherlich auch vorwerfen, nicht die internationale Sicht der Diskussion angemessen zu berücksichtigen.

Aber Unsinn steht auf Wikipedia sicherlich und definitiv nicht!!!!!!

Naja...
Manchmal findet man schon haarige Sachen, z. B. die Theorie, wonach die Ainu Amerika besiedelt haben könnten...

Für den schnellen Einstieg ist Wikipedia meistens schon ganz gut.
 
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