Gehörte das Osmanische Reich zu Europa?

Gandolf

Aktives Mitglied
Zur Zeit wird ja viel über die EU-Mitgliedschaft der Türkei diskutiert. Die Gegner einer solchen Mitgliedschaft argumentieren unter anderem damit, dass die Türkei aufgrund ihrer geographischen Lage, kulturellen Andersartigkeit und ihrer mangelnden wirtschaftlichen Reife nicht zu Europa gehöre. Zudem würden sich aus einer Mitgliedschaft der Türkei viele Gefahren für die Europäische Union ergeben, da die Türkei an Krisenherde und Pulverfässer angrenze. Viele Befürworter sehen dies anders und verweisen auf die Chancen einer EU-Mitgliedschaft. Über dieses politische Thema möchte ich in diesem Strang nicht diskutieren, da es sich bei diesem Forum um ein Geschichtsforum und nicht um ein Politikforum handelt. Auch möchte ich Euch bitten, diese aktuelle Diskussion zu meiden! Aber die Frage, ob die Türkei zu Europa gehört, hat natürlich ihrerseits eine Geschichte, die sich in der Frage widerspiegelt, ob das Osmanische Reich zu Europa gehörte. Über diese historische Frage würde ich gerne mit Euch in diesem Strang diskutieren!

Zum Einstieg in die Diskussion erlaube ich mir kurz zu skizzieren, wie sich im Völkerrecht die Behandlung des Osmanischen Reiches entwickelt hat, ohne mit diesem Einstieg die Diskussion auf eine Rechtsfrage verengen zu wollen.;)

Bis zum 19. Jahrhundert wurde in den großen internationalen Verträgen auf die "Christenheit" als die tragende Gemeinschaftsordnung des Völkerrechts Bezug genommen. Trotz intensiver Beziehungen mit der außereuropäischen, nichtchristlichen Welt, die sich im französischen Zeitalter (1648-1815) gegenüber dem spanischen Zeitalter (1494-1648) steigerten, verstand sich das Völkerrecht der Europäer als Völkerrecht der europäischen, christlichen Völkerfamilie. Der Sultan des Osmanischen Reichs stand als Moslem außerhalb dieser Familie. Aus Sicht der Europäer konnte sich dieser weder auf das Völkerrecht berufen noch sahen sich diese aus dem Völkerrecht verpflichtet, Verträge, die mit dem Sultan eingegangen wurden, einzuhalten. Soweit die europäischen Mächte dennoch ihre Verträge mit dem Sultan eingehalten haben, haben sie dies aus Gründen der "Tauschrationalität" getan: Erstens wollte man im Regelfall für seine Leistungen auch eine Gegenleistung des Sultans haben, so dass es klug war, sich zumindestens solange vertragstreu zu verhalten, bis der Sultan diese erbrachte. Zweitens sah man sich auf dem Parkett der Internationalen Politik ja wieder, so dass ein Vertragsbruch zwar kurzfristig zu einem Vorteil führen, langfristig aber einen großen Schaden anrichten konnte. Umgekehrt akzeptierte der Sultan noch nicht einmal die alte völkerrechtliche Grundregel von der persönlichen Unverletztlichkeit der Gesandten. Gesandte europäischer Mächte wurden in Konstantinopel mit Stockschlägen fortgetrieben, eingekerkert und sogar hingerichtet; freilich ohne daß daraus notwendigerweise Folgerungen für die diplomatischen Bezeihungen des betreffenden Staates zur Pforte (= Osmanisches Reich) gezogen worden wären. Man kann sich leicht vorstellen, welch Glücksgefühl bei einem europäischen Diplomaten die Bestellung zum Gesandten in Konstantinopel auslöste. In den Augen der Europäer schien diese Praxis nur zu bestätigen, dass es sich bei dem Osmanischen Reich um keinen Bestandteil Europas handelte. "Der Hochmuth dieses Volkes, genährt durch die Zwistigkeiten der christlichen Fürsten, kennt keinerlei Völkerrecht und weiß nicht, was Ehre und was Brauch ist", so Abraham de Wiquefort in seinen Aufzeichnungen zum Gesandtschaftswesen von 1677 (zitiert nach Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 340).

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts kam ein Entwicklungsprozess in Gang, der zur Ausweitung des europäischen Völkerrechts zu einem universellen Völkerrecht führte. Drei Faktoren waren hierfür verantwortlich: die geistesgeschichtliche Bewußtseinsveränderung, die aus der "christlich-europäischen Völkerfamilie" eine "Gesellschaft der zivilisierten Nationen" machte; die Erweiterung des europäischen Staatenssystems zu einem Weltstaatensystem (1776 Aufnahme der USA, bis 1825 Aufnahme zahlreicher mittel- und südamerikanischer Staaten, 1825 Aufnahme Haitis, 1848 Aufnahme Liberias, 1854 Vertrag zwischen USA und Japan, Aufnahme zahlreicher karibischer, afrikanischer und asiatischer Staaten); der Aufstieg GB zur beherrschenden Vormacht dieses Staatenssystems, gegründet auf weltweite Seeherrschaft und einen über die ganze Welt verstreuten Kolonialbesitz. In der Konsequenz dieser Entwicklung lag die Öffnung des Völkerrechts in Richtung einer universellen, nicht mehr auf Europa beschränkten Rechtsordnung (vgl. Grewe, aaO., S. 520).

Ausgehend von der Wiener Deklaration über die Abschaffung des Sklavenhandels vom 8.2.1815 zeichnete sich in den internationalen Vertragswerken die Identifizierung der Völkerrechtsgemeinschaft mit der "Gemeinschaft der zivilisierten Nationen" ab, die in der Präambel der Haager Konvention betreffend die Gesetze und Gebräuche des Landkrieges vom 29.7.1899 ihren allgemeinsten und klarsten Ausdruck gefunden hat. Die Gleichsetzung von Völkerrechtsgemeinschaft und Zivilisationsgemeinschaft führte im Hinblick auf das Osmanische Reich dazu, dass sich der Blickwinkel änderte, unter dem dieser Staat bewertet wurde, ohne dass sich freilich etwas an der ablehnenden Haltung gegenüber der Aufnahme des Osmanischen Reichs in die Völkerrechtsgemeinschaft geändert hätte. So ereiferte sich z.B. Richard Cobdan in seiner 1836 verfaßten Abhandlung über "Rußland" über die Widersinnigkeit des Gedankens, daß man das Osmanische Reich in das "System der zivilisierten Staaten" aufnehmen wolle. "Die Türkei kann in das politische System Europas nicht eintreten; denn die Türken sind keine Europäer. Während der fast vier Jahrhunderte, die dies Volk auf dem schönsten Boden des Festlandes Fuß gefaßt hat, ist es nicht nur nicht zum Mitglied der christlichen Völkerfamilie geworden, sondern hat keine einzige europäische Gewohnheit angenommen. Seine Lebensweise ist noch so orientalisch, wie da es erstmals über den Bosperus kam. Sie schließen ihre Frauen ängstlich von der Gesellschaft des männlichen Geschlechts ab, tragen asiatische Kleidung, sitzen mit gekreuzten Beinen oder ruhen auf Diwanen und benutzen weder Stühle noch Betten, rasieren den Kopf und lassen den Bart stehen und gebrauchen noch immer an Stelle der Werkzeuge der Zivilisation, Messer und Gabel, die Finger. Ebenso unbeeinflusst ist nach fast vierhundertjähriger Berührung mit den Europäern das Leben der Osmanli durch die Entdeckungen und Fortschritte der neueren Zeit. Die Druckpresse ist in der Türkei so gut wie unbekannt, und wenn es in Konstantinopel eine gibt, ist sie in Händen von Ausländern. Dampfmaschine, Gas, Kompaß, Papiergeld, Schutzimpfung, Kanalbau, Spinnmaschine und Eisenbahn sind Geheimnisse, von denen sich ottomanische Philosophen nichts träumen lassen. Literatur und Wissenschaft finden unter den Türken so wenig Jünger, daß sie sich den Ruf einer doppelten Vernichtung der Gelehrsamkeit erworben haben, nämlich der der glänzenden, wenn auch verderbten Reste der griechischen Literatur in Konstantinopel und der der Dämmerung der Experimentalphilosophie beim Untergang des Kalifats" (zitiert nach Grewe, aaO, S. 529 mit Hinweis auf C. Brinkmann (Hrsg.), Klassiker der Politik, 10. Band, "Richard Cobden und das Manchestertum", 1924, S. 88 f., 91, 93). Doch so heftig diese Polemik gegen die Aufnahme des Osmanischen Reiches in die Gemeinschaft der zivilisierten Staaten auch ausfiel, umriss sie doch, dass die Zugehörigkeit zur Zivilisationsgemeinschaft nicht von der unüberbrückbaren Glaubensfrage abhing sondern vom Nachweis eines ausreichenden zivilisatorischen Fortschritts (Annahme europäischer Gewohnheiten, Teilhabe am technischen Fortschritt, Verbreitung von Literatur und Wissenschaft). Freilich konnte man über dessen erforderlichen Mindeststandard unterschiedlicher Meinung sein.

Schließlich erklärten die europäischen Mächte (ÖU, F, GB, Preußen, R, Sardinien) unter der neuen Eingangsformel "Im Namen Gottes des Allmächtigen" (früher wurde die Heilige Dreieinigkeit angerufen) in Art. 7 Satz 1 des Pariser Friedensvertrages über die Beendigung des Krimkrieges vom 30.5.1856 "die Zulassung der hohen Pforte zur Theilnahme an den Vortheilen der europäischen Staatengemeinschaft und des europäischen Völkerrechtes." Über die Bedeutung dieser Bestimmung wurde viel getritten. Es spricht einiges dafür, dass das Osmanische Reich schon früher in die europäische Staatenwelt aufgenommen wurde, was sich aber aufgrund eines allmählich abgelaufenen Integrationsprozesses nur schwer datieren lässt. Aber spätestens mit diesem Vertrag war das Osmanische Reich ins Europäische Konzert aufgenommen und in das regionale Sondervölkerrecht Europas einbezogen.

Mit der Integration des Osmanischen Reichs in die europäische Völkerrechtsgemeinschaft endete die Zeit, in der Verträge, die mit dem Sultan abgeschlossen wurden, zu nichts verpflichteten, da es sich bei diesem um einen "Ungläubigen" (so die Begründung im Mittelalter) bzw. um einen "Barbaren" (so die modernere Begründung) handelte. Umgekehrt bedeutete die Integration des Osmanischen Reiches aber auch, dass der Sultan nunmehr verpflichtet war, das Völkerrecht einzuhalten (z.B. das Gesandtenrecht). Dies galt nicht nur für das damals nur schwach entwickelte Völkervertragsrecht sondern auch für das damals stark entwickelte Völkergewohnheitsrecht. Zum Völkergewohnheitsrecht gehörten auch humanitäre Vorstellungen, die bei den im 19. Jahrhundert unternommenen zahlreichen "humanitären Interventionen" deutlich wurden. Der in Armenien 1915 begangene Völkermord spricht - so betrachtet - nicht für den orientalischen Charakter des Osmanischen Reiches sondern ist Ausdruck eines dunklen Kapitels der europäischen Rechtsvergangenheit des Osmanischen Reiches.
 
Zuletzt bearbeitet:
Im obigen Text sind viele Begründungen. Aber wie definiert sich der Begriff zivilisiert oder Barbaren?
Das französische Zeitalter ist wohl der Anfang, wo man darüber nachzudenken beginnt 1648 - 1815.
In Österreich noch 1768 im Gesetz verankert - das Vierteilen, eine entmenschte Bestrafung - öffentlich, als kleines Volksfest. Ebenso in Frankreich üblich. Das Flechten auf ein Rad.
Ist eine solche Art der Bestrafung - überhaupt eine öffentliche Hinrichtung - aus dem osmanischen Reich bekannt, gibt es da Quellen? In der Kriegsführung dürften sich beide Seiten nicht sehr unterschieden haben. Vertragsbruch wird ebenfalls mit dem Argument begangen, die Osmanen seien Barbaren, denen man zu nichts verpflichtet sei.
Das kann man also auch nicht ins Feld führen. Was ist also eine stichhaltige Begründung, warum die Osmanen nicht - wenn nicht als Europäer - so doch als ein Staat angesehen wurden, der unter den Begriff "Völkerrecht" ebenso fällt wie andere Staaten u. zum damaligen Zeitpunkt waren osmanische Gebiete auch auf europäischem Territorium.
 
Meine These: "Europa" ist pure Ideologie. Es gibt keinen geographischen, kulturellen oder geschichtlichen grund, der es zwingend notwendig oder auch nur sinnvoll macht, ausgerechnet die Gebiete von der iberischen halbinsel bis zum Ural und kaukasus zusammenzufassen und von den umliegenden gebieten abzugrenzen.

geographisch- ist europa nur durch eine lange gedachte landgrenze von asien abgetrennt (für afrika, amerika oder australien gibt es ja eindeutige natürliche trennlinien). geographisch ist europa nichts als eine fortsetzung asiens.

kulturell- bei der beschwörung einer "europäischen identität" wird häufig das christentum bemüht. eine ursprünglich vorderasiatische religion die sich erst über lange jahrhunderte bis russland ausgebreitet hat.
(bezieht man sich dagegen auf "die aufklärung", wäre kein grund, die türkei auszuklammern, jedenfalls nicht mehr seit atatürk)

geschichtlich- das gedachte europa kam in seiner geschichte wiederholt (in Teilen) von außerhalb beherrscht. ebenso wurden weite teile der welt durch europa beherrscht. politisch war nordalgerien teil europas, sind es etliche französische auslandsdepartements, die englische königin ist staatsoberhaupt in zahlreichen ehemaligen kolonien etc.

will man den ideologischen begriff "europa" realpolitisch umsetzen, stößt man automatisch auf probleme, einfach weil es keine klaren grenzen für dieses konstrukt europa geben kann.
wenn europa reine ideologie ist (und keine empirie) kann man also höchsten fragen, ab wann diese ideologie zu greifen begann (und sie dann genauso skeptisch behandeln wie jede andere ideologie auch).
die frage ob die türkei teil europas ist, heißt also im grunde nur, ob sie einem gedachten idealbild von europa entspricht, das empirisch nie existiert hat.
 
Ein Hoch (mal dazwischen) auf Saint-Just. Interessant. ;-)

Wann setzte sich der Begriff von "Europa" im trennenden-ideologischen Sinn eigentlich durch?

Und wann verschwanden unsere "Okzidentale Welt", an dessen Ländern das osman. Reich ja seit dem Sprung über den Bosporus gut 400 Jahre großen Anteil hatte?
Und die Trennlinie zwischen Europa okzidentalis und Europa orientalis - wo lag die?

Karges zum Okzident: http://de.wikipedia.org/wiki/Okzident
(Mir gefällt Wikipedia immer weniger...)
 
Zitat:"Wann setzte sich der Begriff von "Europa" im trennenden-ideologischen Sinn eigentlich durch?"

sehr früh, schon Herodot stellte sich diese Frage und dieser Herr lebte vor 2500 Jahren.
 
askan schrieb:
Zitat:"Wann setzte sich der Begriff von "Europa" im trennenden-ideologischen Sinn eigentlich durch?"

sehr früh, schon Herodot stellte sich diese Frage und dieser Herr lebte vor 2500 Jahren.

Dann bleib ich mal dialektisch: "er stellte sich diese Frage" heißt nicht, dass er die Antwort durchgesetzt hat.
 
Nein, aber es ist immer noch dieselbe Antwort wie zu seinem Zeiten: Europa ist anderes, aber wie lange schon und warum weiß keiner.
 
In der heutigen Wahrnehmung gibt es in Europa trotz aller Unterschiede in Sprache und Kultur gemeinsame Traditionen, die in vielen Ländern wirksam sind. Dazu zählen zum Beispiel die christliche Religion, das Erbe der griechischen und römischen Antike und eine demokratische Staatsverfassung.

Die heutigen Gemeinsamkeiten – aber auch die Unterschiede – sind nach und nach in einem Jahrhunderte dauernden Prozess entstanden. Insofern weicht die "europäische Identität" durchaus ab von einer afrikanischen, asiatischen oder amerikanischen.
 
Dieter schrieb:
In der heutigen Wahrnehmung gibt es in Europa trotz aller Unterschiede in Sprache und Kultur gemeinsame Traditionen, die in vielen Ländern wirksam sind. Dazu zählen zum Beispiel die christliche Religion, das Erbe der griechischen und römischen Antike und eine demokratische Staatsverfassung.

Die heutigen Gemeinsamkeiten – aber auch die Unterschiede – sind nach und nach in einem Jahrhunderte dauernden Prozess entstanden. Insofern weicht die "europäische Identität" durchaus ab von einer afrikanischen, asiatischen oder amerikanischen.


Christliche Religion, demokratische Verfassung treffen auch für Amerika zu und da die Amerikaner auch ihre Wurzeln in Europa haben, dürfte die griechisch-römische Antike an ihnen auch nicht spurlos vorübergegangen sein.
 
Irene schrieb:
Christliche Religion, demokratische Verfassung treffen auch für Amerika zu und da die Amerikaner auch ihre Wurzeln in Europa haben, dürfte die griechisch-römische Antike an ihnen auch nicht spurlos vorübergegangen sein.

Nein, das ist zu stark analogisiert.
Die USA - und damit meine ich zum Zeitpunkt ihrer Konstitution mit der Unabhängigkeit(serklärung) - war das erste Land weltweit, welches verfassungsmäßig v.a. die Gedanken der Aufklärung umsetzte.
Insbesondere die strikte Trennung von Kirche und Staat wurde erstmals dort verwirklicht - auch wenn dies heute von konservativen Kräften in diesem Land anders gesehen und mitunter relativiert wird, wobei es manche anscheinend auch gern zurücknehmen würden.
Dies ist aber auf jeden Fall eine historische Tradition, welche sich von den europäischen Ländern deutlich unterscheidet.

EDIT (Nachtrag): Das war jetzt einigermaßen :eek:fftopic: und hat mit der Diskussion um die Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches zu Europa nicht mehr viel zu tun...
 
Man muss sich vor Augen halten, dass das osmanische Imperium über Jahrhunderte ein gewaltiges Areal im Schnittpunkt dreier Kontinente umfasste. Von den Karpaten bis zum Persischen Golf, vom Kaukasus bis in den Sudan und in den Maghreb erstreckt sich der nominelle Hoheitsbereich des Sultans.

Freilich überwiegen Zonen verdünnter Herrschaft nicht nur in der arabischen Welt vom Irak bis Algier, sondern selbst im türkischen Kernland Anatolien und in der "europäischen Türkei". Hier gab es die Völker der Griechen, Serben, Rumänen, Bulgaren, Ungarn, Albaner usw., während sich die originäre türkische Bevölkerung in Kleinasien konzentrierte. Außerhalb Kleinasiens gab es lediglich in Bulgarien kleine türkische Siedlungsinseln.

Der multinationale Staat "Osmanisches Reich", der sich über drei Kontinente erstreckte, kann daher kaum als "europäischer Staat" bezeichnet werden und wurde von den damaligen Mächten auch nicht als solcher wahrgenommen. Das schloss freilich diplomatische Interaktionen und Bündnisse – so z.B. das mit Frankreich – nicht aus.

Ich glaube auch nicht, dass sich das Osmanische Reich selbst als "europäischer Staat" betrachtete. Während nämlich die Augen der Europäer stets auf die "europäische Türkei" gerichtet waren, blickten die Sultane auch nach Asien und Afrika, wo sie gleichfalls in Koalitionen, Bündnisse und militärische Aktionen verstrickt waren.
 
Eine Interessante Ausstellung über dieses Thema läuft gerade in Wien im Palais Epstein:
Donaumonarchie, Osmanisches Reich und ihre Erben
Zeitreise in die österreichisch-türkische Vergangenheit vom 19. ins 20. Jahrhundert" nennt sich eine Ausstellung historischer Fotos im Parlament in Wien (Palais Epstein). Die Präsentation von 120 großformatigen Bildern, die die Beziehungen zwischen Österreich und der Türkei dokumentiert, wurde vom Absolventenverein des österreichischen St.Georgs-Kolleg in Istanbul initiiert.
 
Saint-Just schrieb:
Meine These: "Europa" ist pure Ideologie. Es gibt keinen geographischen, kulturellen oder geschichtlichen grund, der es zwingend notwendig oder auch nur sinnvoll macht, ausgerechnet die Gebiete von der iberischen halbinsel bis zum Ural und kaukasus zusammenzufassen und von den umliegenden gebieten abzugrenzen.

geographisch- ist europa nur durch eine lange gedachte landgrenze von asien abgetrennt (für afrika, amerika oder australien gibt es ja eindeutige natürliche trennlinien). geographisch ist europa nichts als eine fortsetzung asiens.

kulturell- bei der beschwörung einer "europäischen identität" wird häufig das christentum bemüht. eine ursprünglich vorderasiatische religion die sich erst über lange jahrhunderte bis russland ausgebreitet hat.
(bezieht man sich dagegen auf "die aufklärung", wäre kein grund, die türkei auszuklammern, jedenfalls nicht mehr seit atatürk)

geschichtlich- das gedachte europa kam in seiner geschichte wiederholt (in Teilen) von außerhalb beherrscht. ebenso wurden weite teile der welt durch europa beherrscht. politisch war nordalgerien teil europas, sind es etliche französische auslandsdepartements, die englische königin ist staatsoberhaupt in zahlreichen ehemaligen kolonien etc.

will man den ideologischen begriff "europa" realpolitisch umsetzen, stößt man automatisch auf probleme, einfach weil es keine klaren grenzen für dieses konstrukt europa geben kann.
wenn europa reine ideologie ist (und keine empirie) kann man also höchsten fragen, ab wann diese ideologie zu greifen begann (und sie dann genauso skeptisch behandeln wie jede andere ideologie auch).
die frage ob die türkei teil europas ist, heißt also im grunde nur, ob sie einem gedachten idealbild von europa entspricht, das empirisch nie existiert hat.
Zunächst einmal bezeichnet der Begriff "Europa" eine asiatische Halbinsel, für deren geografischen Abgrenzung auf die "natürlichen Grenzen" Ural und Kaukasus zurückgegriffen wird. Insofern ist es logisch, dass Iberien zu Europa gehört und Algerien nun mal nicht. Folgt man allein diesem Aspekt gehörten große Teile des Osmanischen Reiches nicht zu Europa.

Soll es sich bei Europa wirklich nur um eine wirklichkeitsfremde Vorstellung von der Wirklichkeit handeln? :grübel:
Meine Gegenthese: Europa ist kein Lehrsatz, sondern ein kompliziertes Gewächs, welches sich ausgehend vom antiken Griechenland über Jahrtausende entwickelt hat, und von wechselseitigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einflüssen derart geprägt ist, dass die Bevölkerungsgruppen und Entscheidungsträger dieser Region miteinander stärker vernetzt sind als mit anderen Regionen. Europa ist also primär kein Idealbild - auch wenn verschiedene Europaideen entwickelt wurden, um Europas Zukunft zu steuern - sondern eine Erfahrung dieser Abhängigkeiten, wechselseitigen Einflüsse, Verflechtung, die in den verschiedenen Epochen der europäischen Geschichte immer wieder neu gemacht werden mussten: sei es im Kampf gegen die Hegemonie der Habsburger, sei es im Kampf gegen die Hegemonie der Franzosen, sei es in den Wirren und Kriegen der Französischen Revolution.

Die Frage, ob das Osmanische Reich zu Europa gehörte, bezieht sich also darauf, ob das Osmanische Reich zu diesem Geflecht gehörte.;)
 
Gandolf schrieb:
Zunächst einmal bezeichnet der Begriff "Europa" eine asiatische Halbinsel, für deren geografischen Abgrenzung auf die "natürlichen Grenzen" Ural und Kaukasus zurückgegriffen wird. Insofern ist es logisch, dass Iberien zu Europa gehört und Algerien nun mal nicht. Folgt man allein diesem Aspekt gehörten große Teile des Osmanischen Reiches nicht zu Europa.

Was ist zuerst da? die ideologische Vorstellung "europa" oder der geographische begriff (rhetorische frage ;-))

Linien auf der landkarte kann man ziehen, soviel man will, und irgendein fluss/sumpf/mittelgebirge wird schon dasein, das als "natürliche grenze" dienen kann .. (andrerseits kommt niemand auf die idee, amerika entlang der kordilleren aufzuteilen. warum eigentlich, die natürliche grenze ist doch da :))

Gandolf schrieb:
Europa ist kein Lehrsatz, sondern ein kompliziertes Gewächs, welches sich ausgehend vom antiken Griechenland über Jahrtausende entwickelt hat, und von wechselseitigen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einflüssen derart geprägt ist, dass die Bevölkerungsgruppen und Entscheidungsträger dieser Region miteinander stärker vernetzt sind als mit anderen Regionen.

moment! richtig ist, dass es wachsende verflechtung gab (ich würde sagen mit qualitätssprüngen im 16., und nochmal im 19. jhd)- aber:

einmal machen diese wechselseitigen einflüsse nicht an den grenzen des geographischen europa halt (so dass man durchaus sagen kann, die siedlungskolonien nordamerika oder australien sind auch teil des kulturellen europa). auch wird es zwischen russen 10 km westlich oder 10 km östlich des ural keine wesentlich unterschiede geben, obwohl die einen "europäer" und die anderen "asiaten" sind.

zweitens ist die herstellung immer neuer politischer, wirtschaftlicher und kultureller beziehungen ein weltweiter prozess (zugegeben mit den seefahrernationen als schrittmacher), nicht auf die Westasiatische Halbinsel :devil: beschränkt.

drittens ist die intensität der beziehungen auch im europäischen Raum unterschiedlich. russland zum Beispiel war im 16. jhd, kaum besser in "europa" integriert als das OR.

dass es im europäischen Raum geschichte gab, ist unstrittig. die frage ist nur, ab wann ist geschichte in europa europäische geschichte. m.a.W ab wann haben sich einwohner europas (oder wenigstens die elite) primär als europäer betrachtet.
für das ganze mittelalter ist doch der römische reichsgedanke und das christentum als unterscheidung nach außen viel wesentlicher.
ab wann hat es denn jemanden in spanien gekümmert, was in polen passiert ist? (ich denke nicht früher als im 16. jhd.)

die griechisch-römische welt wiederum hat sich um das mittelmeer zentriert (da gehörten auch algerien, ägypten oder syrien dazu)- diese einheit ist erst im 7. jhd. zerbrochen.
die griechen als "vorfahren" der heutigen europäer- was haben wir den mit ihnen gemeinsam, außer dass unsere philosophie mit ein paar übriggebliebene fragmenten der griechischen betrieben wurde? Demokratie? die heutige hat mit athen nicht mehr als den namen gemein. da könnte sich die bundesrepublik genauso als nachfolger des Heiligen römischen reiches deutscher nation betrachten .. das scheint mir ein musterbeispiel von "invented tradition" zu sein.

daher mein Schlußsatz: man kann von "europa" nicht als einer nüchternen empirischen größe sprechen. wer europa sagt, bezieht sich automatisch auf die ideologie "europa".:winke:
 
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Also ist ein Reich dessen Kultur urprünglich aus Asien stammt gleich ein asiatisches Reich?

Schriftsystem= Herkunft Levante
Religion= nahöstliche Wüste
grundzüge der Jusitz= naher Osten
Wissenschaft und Philosophie von den alten Griechen, die widerum zugaben das sie ihre Kenntnisse von Ägyptern und anderen Barbaren erlernten und denen noch nicht das Wasser reichen konnten. Ex oriente Lux

So das war in kuzen Stichworten das Fundament unserer Kultur!
Wo unterscheiden sich dort die Osmanen?
 
Das Osmanische Reich lag im Schnittpunkt dreier Kontinente und hatte vitale Interessen in Asien, Afrika und Europa. Das Kerngebiet türkischer Besiedlung lag in Kleinasien, Siedlungsinseln gab es lediglich im Raum des heutigen Bulgarien. Ansonsten lebten in der "europäischen Türkei" Serben, Ungarn, Griechen, Albaner, Bulgaren, Rumänen und andere Völker, jedoch keine Türken - sieht man einmal von von kleinen Einsprengseln der türkischen Oberschicht ab, die dort ein Timar innehatte oder Verwaltungsfunktionen ausübte.

Der Sultan blickte also nicht nur nach Europa, sondern besonders auch nach Vorderasien und Nordafrika, wo ihn Bündnisse und militärische Expansion ebenso stark beschäftigten.

Das Osmanische Reich war ein multiethnischer Staat, der in drei Kontinenten wurzelte, und gewiss kein europäischer Staat. Ich bezweifle sehr, ob es sich selbst als solchen betrachtete, was natürlich Bündnisse mit europäischen Herrschern nicht ausschloss.

Anders sieht es dann nach dem Ersten und mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg aus, wo zumindest die türkische Oberschicht sich eher Europa als Asien zugehörig fühlte.
 
Dieter schrieb:
Das Osmanische Reich lag im Schnittpunkt dreier Kontinente und hatte vitale Interessen in Asien, Afrika und Europa.
Was meinst du mit lebhaften Interessen? Das man sie rücksichtslos auslebte?:grübel:
Anders sieht es dann nach dem Ersten und mehr noch nach dem Zweiten Weltkrieg aus, wo zumindest die türkische Oberschicht sich eher Europa als Asien zugehörig fühlte.
Da wollten sie wohl eher am höheren Prestige Europas (im Vergleich zu Asien) teilhaben.
 
Themistokles schrieb:
Was meinst du mit lebhaften Interessen? Das man sie rücksichtslos auslebte?:grübel:

"Vital" heisst in diesem Zusammenhang eher "lebensnotwendig". Also die für das Funktionieren und Überleben des Staates wichtigen strategischen, wirtschaftlichen oder militärischen Interessen*.

*(man könnte noch fortfahren: kulturellen, ideologischen, demographischen, ...)
 
Zuletzt bearbeitet:
Dieter schrieb:
Der multinationale Staat "Osmanisches Reich", der sich über drei Kontinente erstreckte, kann daher kaum als "europäischer Staat" bezeichnet werden und wurde von den damaligen Mächten auch nicht als solcher wahrgenommen.
Nicht? Im Pariser Friedensvertrag über die Beendigung des Krimkrieges (1856) wurde das Osmanische Reich von GB, F, Preußen, R, ÖU und Sardinien förmlich in die europäische Staatengemeinschaft aufgenommen (vgl. # 1). Nach dem damaligen Verständnis handelten diese Großmächte als Direktorium, stellvertretend für ganz Europa.
dieter schrieb:
Ich glaube auch nicht, dass sich das Osmanische Reich selbst als "europäischer Staat" betrachtete. Während nämlich die Augen der Europäer stets auf die "europäische Türkei" gerichtet waren, blickten die Sultane auch nach Asien und Afrika, wo sie gleichfalls in Koalitionen, Bündnisse und militärische Aktionen verstrickt waren.
Wie sich das Osmanische Reich selbst sah, weiß ich nicht. Möglicherweise wird man unterscheiden müssen zwischen der politischen Elite des Landes, die den Vielvölkerstaat "Osmanisches Reich" zusammenhielt und diesen auf allen drei Kontinenten in Konkurrenz zu den (anderen) europäischen Mächten sah, sowie der Opposition und der einfachen Bevölkerung, die sich vermutlich eher entsprechend ihrer Volksgruppenzugehörigkeit als türkisch, griechisch, bulgarisch, ägyptisch, syrisch, etc. verstand.
 
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