Gehörte das Osmanische Reich zu Europa?

Die Einladung zur "Teilnahme an den Vorteilen der europäischen Staatengemeinschaft", wie es in der Präambel zum Friedensvertrag lautet, impliziert noch längst keine "Aufnahme" unter die Staaten Europas.

Im übrigen geht es hier doch auch um eine Bewertung der Stellung des Osmanischen Reichs, oder wozu soll dieser Thread sonst dienen?
 
Saint-Just hat natürlich recht: Europa ist ein Kunstgriff, eine Konstruktion. Das ist nichts schlimmes, sondern nur eine Tatsache. Konstruktionen muss man definieren, damit alle wissen, wovon man redet.

Blöde Frage: Was ist der höchste Berg Europas? Oder: Wie europäisch ist eigentlich der Elbrus?

Kann ich Russland aus Europa ausschließen? Und die muslimischen Albaner? Ist Sizilien nicht eigentlich Afrika? Oder die Azoren? Seit wann ist die Ägäis kein Verbindungsglied sondern eine Trennfläche? Und das Mittelmeer? Die Römer hätten gelacht, wenn man sie mit den nordischen Völkern in einen Topf geworfen hätte - lieber mit Karthago, Alexandria, Milet und Sparta, als mit diesen Wilden!

"Mein" Europa hört z.B. schon bei den Orthodoxen auf. Was habe ich mit denen am Hut? Historisch oder kulturell? Russland ist doch Asien und Georgien ist vom Madrid, Rom und Berlin weiter weg, als der Nordpol. Habe mich schon immer gewundert, warum Türkei, Russland und Israel Mitglieder in der UEFA sind ... :grübel:

Das war jetzt leicht polemisch, klar. Aber am Ende ist es subjektiv. Istanbul ist, wie ich meine, eine Stadt am Schnittpunkt von Asien und Europa. Daher gehört das Osmanische Reich zu beiden "Welten". Das kann natürlich jeder anders sehen. Richtig oder falsch gibt's hier nicht.
 
Dieter schrieb:
Die Einladung zur "Teilnahme an den Vorteilen der europäischen Staatengemeinschaft", wie es in der Präambel zum Friedensvertrag lautet, impliziert noch längst keine "Aufnahme" unter die Staaten Europas.

Im übrigen geht es hier doch auch um eine Bewertung der Stellung des Osmanischen Reichs, oder wozu soll dieser Thread sonst dienen?
In diesem Strang geht es um die Frage, ob das Osmanische Reich zu Europa gehörte oder nicht. Mich interessieren in diesem Zusammenhang vor allem die Begründungen, die für die Bejahung oder Verneinung dieser Frage angegeben werden und hoffe natürlich auch auf viele wertende Begründungen, die also nicht allein auf die Geografie abstellen.

Allerdings halte ich den von Dir angegebenen Grund, dass das Osmanische Reich von den damaligen Mächten Europas nicht als europäischer Staat wahrgenommen wurde, doch für fragwürdig. Immerhin erklärten die europäischen Großmächte im Pariser Friedensvertrag (1856) in dessen Artikel 7 (nicht in der Präambel) ausdrücklich "die Zulassung" (nicht Einladung) des Osmanischen Reiches "zur Theilnahme an den Vortheilen der europäischen Staatengemeinschaft" (vgl. # 1). In der Völkerrechtsliteratur - auch der der damaligen Zeitgenossen - wird diese Zulassung übereinstimmend als Aufnahme ins europäische Konzert verstanden.;)
 
Das Osmanische Reich ist dennoch kein europäischer Staat, da sich sein Staatsgebiet über drei Kontinente verbreitete, wobei der geringere Teil die so genannte "europäische Türkei" umfasste. Religion, Kultur und Staatsform wichen so stark von den abendländischen Nationen ab, dass eine Einordnung in die Staatenwelt Europas gewiss per ordre möglich ist, den tatsächlichen Verhältnissen aber widerspricht.

Die "Muselmanen" wurden von den Europäern als fremd und exotisch wahrgenommen und sie wurden als Bedrohung Europas empfunden.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich habe mal einen Blick in Hoffmann`s beschreibung der welt von 1830 nachgeblättert. Dort wird das Osmanische Reich wie selbstverständlich als europäischer Staat behandelt.
 
Pope schrieb:
"Mein" Europa hört z.B. schon bei den Orthodoxen auf. Was habe ich mit denen am Hut? Historisch oder kulturell? Russland ist doch Asien und Georgien ist vom Madrid, Rom und Berlin weiter weg, als der Nordpol. Habe mich schon immer gewundert, warum Türkei, Russland und Israel Mitglieder in der UEFA sind ... :grübel:

Das war jetzt leicht polemisch, klar. Aber am Ende ist es subjektiv. Istanbul ist, wie ich meine, eine Stadt am Schnittpunkt von Asien und Europa. Daher gehört das Osmanische Reich zu beiden "Welten". Das kann natürlich jeder anders sehen. Richtig oder falsch gibt's hier nicht.
Dass Russland schon immer ein Bindeglied von Orient und Okzident war, oder besser gesagt Einflüsse beider Kulturkreise aufnahm dürfte bekannt sein. Ich persönlich fühle mich Russland fast näher verbunden als Frankreich. Aber das andere Gründe (Urlaub, 2. Fremdsprache in der Schule, ...). 2/3 der russischen Bevölkerung leben in Europa. Ihre Zugehörigkeit zur "europäischen Kultur" ist also durchaus gerechtfertig. So lange gehört Sibirien auch noch nicht Russland. Die asiatische Prägung ist also überaus gering.
Israel ist mWn. in europäishcen Organisationen, weil islamsiche Staaten sie aus asiatischen Aquivalenten rausgemobbt haben (an dieser Stelle, möchte ich mir deine Signatur ausleihen). Außerdem haben viele Israelis europäische Wurzeln.
 
Saint-Just schrieb:
Was ist zuerst da? die ideologische Vorstellung "europa" oder ... (rhetorische frage ;-))
Ich räume ein, dass mit der Bezeichnung eines Gegenstandes auch dessen Interpretation verbunden sein kann. Doch gerade deshalb sollten wir in dieser Debatte drei Ebenen voneinander unterscheiden: den bezeichneten Gegenstand, die Bezeichnung "Europa" und die Interpretationen des Gegenstandes (die Europa-Ideen). Ansonsten laufen wir Gefahr aneinander vorbei zu reden.

Bei dem Gegenstand, der mit "Europa" bezeichnet wird, handelt es sich um ein kompliziertes historisches Gewächs, das in Westasien im Laufe von zwei Jahrtausenden entstanden ist und in der Weltgeschichte zu einem Sonderweg führte, der diesen Raum von allen anderen Räumen unterscheidet: die Herausbildung von Staaten und Nationen, Parlamentarismus und Demokratie, Kapitalismus und Industrielle Revolution, etc. Dieses Gewächs gab es und seine Entwicklung, die heute immer noch nicht abgeschlossen ist (Europa ist nicht fertig), lässt sich auch empirisch nachvollziehen. Die Geschichtsbücher sind voll davon. Soweit Dein Einwand, dass es auch intensive Beziehungen einzelner europäischer Staaten zu anderen Regionen der Welt gegeben hat, darauf abzielt, die Besonderheit der europäischen Verflechtungen zu bestreiten, möchte ich darauf hinweisen, dass gerade die europäischen Kolonialmächte immer wieder die Erfahrung machen mussten, dass sich ihr Schicksal nicht in der Peripherie der Welt entschied, sondern auf den europäischen Schlachtfeldern. Diese Einschätzung war keine Ideologie sondern das Ergebnis historischer Erfahrung.

Dieses Gewächs hat sich im Laufe der Geschichte entwickelt und entwickelt sich auch heute weiter fort. Dieser Wuchs musste den Zeitgenossen nicht bewußt sein, vielfach konnten sie ihn gar nicht erkennen, geschweige denn überblicken. So war den in Westeuropa lebenden Zeitgenossen des Frühen Mittelalters nicht bewußt, dass mit der Herausbildung der romanischen Sprachen in ihren Räumen gerade eine der Grundlagen für die spätere Herausbildung der Nationen gebildet wurde. Deine rhetorische Frage, was zuerst da war, kann also durchaus sinnvoll beantwortet werden: zuerst entwickelte sich das Gewächs, allmählich nahmen es die Menschen wahr und dann haben diese Vorstellungen über dieses Gewächs entwickelt, die zum Teil realistisch und zum Teil wirklichkeitsfremd (ideologisch befrachtet) waren. Europäische Geschichte setzt also nicht ein europäisches Bewußtsein der Europäer voraus, sondern dieses Bewußtsein ist die Folge der besonders verflochtenen europäischen Geschichte!

Die Frage, ob das Osmanische Reich zu Europa gehörte, zielt also auf die Frage ab, ob das Osmanische Reich zu diesem Gewächs gehört - unabhängig davon, mit welcher ideologischen Brille man dieses Gewächs betrachtet.;)

Wenn Du lieber den Europa-Ideen nachgehen möchtest, würde ich mich freuen, wenn Du diese und die sich aus diesen Ideen im Hinblick auf die Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches zu Europa ergebenden Schlussfolgerungen darstellen würdest. Allerdings könnte ich mir - in Anlehnung an askan (# 30) vorstellen -, dass angesichts der Dominanz des Zivilisationskriteriums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrunderts das Osmanische Reich fast selbstverständlich als Teil des europäischen Geflechts angesehen wurde.

pope (# 27): die geographischen Grenzen Europas sind zum Teil durch die Natur vorgegeben (Iberien gehört sicher zur westasiatischen Halbinsel namens Europa), zum Teil beruhen sie auf gesellschaftlicher Konvention (vor dem Ural, auf dem Grat des Ural oder nach dem Ural?; gleiches gilt für den Kaukasus). Aber was besagt uns die geographische Grenzziehung im Hinblick auf die Frage, ob das Osmanische Reich zu dem besonderen historischen Gewächs "Europa" gehörte? Ist das Osmanische Reich ein Teil dieses Gewächses? Wenn ja, warum; wenn nein, warum nicht. Vergleiche mit Sizilien oder dem Römischen Reich helfen nicht weiter. Die Römer bezeichneten das anatolische Hochland als Kleinasien, aber das spätere historische Gewächs Europa kannten sie noch nicht.
 
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Europa war bis ins 18. Jahrhundert hinein ein rein katholisches Gebilde, inklusive deren protestantischer "Tochterkirchen". Dass überhaupt die Existenz anderer Kirchen akzeptiert wurde, kostete Europa lange Kämpfe und viel Blut. Zuvor war Europa überall dort, wo der Papst das Sagen hatte (die Ostgrenze entspricht damit ziemlich genau der heutigen Ostgrenze der EU: Finnland, die baltischen Staaten, Polen, Ungarn, (Kroatien). Mit der Orthodoxie hatte man in "Europa" seit 1054 praktisch nichts zu tun, das war "eine andere Welt". Erst mit der von Peter dem Großen Russland von oben verordneten Hinwendung an Europa begann sich das zu ändern. Peter der Große war es auch, der die Ostgrenze Europas überhaupt erstmals festlegte - die Wahl fiel auf den Ural.
Eine romantische Begeisterung in (West-)Europa, für Kunst und Kultur des Alten Griechenlands führte schließlich zur Beteiligung der Großmächte am Befreiungskrieg Griechenlands. Womit das zweite orthodoxe Land "Aufnahme" in Europa fand. Die kulturellen Unterschiede zwischen diesen Staaten und dem "Aten Europa" sind schon relativ groß. Die Kultur ist verschieden und die gemeinsame Geschichte ist auch relativ geringer als zwischen den Staaten des "Alten Europa".
Die Unterschiede werden seit einiger Zeit von der "Idee des gemeinsamen Europas" überdeckt. In Zeiten des Kalten Krieges war es aber wohl weniger diese Idee, als die Nützlichkeit Griechenlands als Bollwerk der "westlichen Zivilisation" gegen den Kommunismus, der zur Aufnahme in NATO und EG führte. Nichtsdestotrotz steht die prinzipiell mögliche Mitgliedschaft aller orthodoxen Staaten (außer Russland!) heute nicht mehr in Frage. Selbst Balkanstaaten, in denen die Orthodoxie heute nur noch die Relgion einer Minderheit ist (Bosnien, Albanien) könnten mittelfristig Aufnahme ins politische Europa finden.

Nach der langen Vorrede nun zum Osmanischen Reich selbst. Zweifellos lag es fast die ganze Zeit seines Bestehens zum Teil in Europa, genauso zweifellos ist aber auch, dass es von den anderen europäischen Staaten dort immer als Fremdkörper betrachtet wurde. Führte man zu Beginn erfolglose Kreuzzüge gegen die Türken, waren es später die Türkenkriege und im 19. Jahrhundert Befreiungs- und Angriffskriege gegen den "kranken Mann am Bosporus". Ob man diese Kriege als "normale Kriege im Konzert der europäischen Mächte" oder als "Kriege gegen einen kulturell nicht dazugehörigen Eindringling" sieht, ist die eigentliche Kernfrage. Wie man diese Frage für sich beantwortet, entscheidet sicherlich auch, ob man das Osmanische Reich zu Europa gehörig sieht. Den Islam kann man dabei als Entscheidungsgrundlage nicht außen vor lassen.
Es ist also ganz zweifellos eine ideologische Frage, die man nicht verallgemeinernd beantworten kann.

Als Gedankenspiel möchte ich die Vorstellung ins Spiel bringen, das Byzantische Reich hätte in den Grenzen von, sagen wir, 1060 überlebt und seine Bevölkerung wären griechischsprechende orthodoxe Christen. Gäbe es eine Diskussion darüber, ob der Staat europäisch wäre?
Man könnte die Ostgrenze Europas nämlich auch statt durch das Schwarze Meer, am Kamm des Kaukasus entlang und dann quer durch Anatolien nach Südwesten bis nach Alexandrette (Iskenderun) legen. Letztlich ist das alles eine Definitionsfrage, denn wie schon gesagt ist Europa nur Teil eines eurasischen Kontinents.

P.S. Die Südostgrenze Europas ist übrigens laut aktueller Definition nicht der Kaukasus, sondern die Manytsch-Niederung zwischen Don- und Wolgamündung. Ehrlich: wer hat das wirklich gewusst? :pfeif:
 
Ähnlich wie du, Andonikos, habe ich mich oben geäußert. Zweifellos wurde das Osmanische Reich in Europa als Fremdkörper und Bedrohung empfunden und ähnlich wie in Spanien gab es auch hier eine "Reconquista" mit dem Ziel, die Türken wieder aus Europa herauszudrängen – was dann den Habsburgern auch weitgehend gelang. Dass man mit der Hohen Pforte auch Verträge und Bündnisse abschloss, spielt dabei keine Rolle; das machte man seinerzeit auch in Spanien, ohne dass dies etwas am so empfundenen Charakter des "islamischen Aggressors" änderte, den man vertreiben wollte.

Und natürlich darf man hier auch den fundamentalen Gegensatz der Religionen nicht vergessen, der zur Zeit der höchsten Machtentfaltung der Pforte noch eine weitaus größere Rolle spielte, als das in unserem säkularen Europa heute der Fall ist.

Es mag sein, dass dieser als kaum überbrückbar empfundene Gegensatz auf europäischer (und wohl auch osmanischer) Seite im Lauf des 19. Jahrhunderts abnahm. Eine Wende trat aber wohl erst mit Atatürk und seiner Europäisierungspolitik ein; und wenn man die Vorbehalte vieler Politiker betrachtet, die noch heute eine Integration der Türkei ablehnen, so lässt sich ermessen, wie groß die Ablehnung erst vor dem 19. Jh. gewesen sein muss.
 
Erst mit Atatürk soll die Wende eingetreten sein?

Dieter schrieb:
Es mag sein, dass dieser als kaum überbrückbar empfundene Gegensatz auf europäischer (und wohl auch osmanischer) Seite im Lauf des 19. Jahrhunderts abnahm. Eine Wende trat aber wohl erst mit Atatürk und seiner Europäisierungspolitik ein; und wenn man die Vorbehalte vieler Politiker betrachtet, die noch heute eine Integration der Türkei ablehnen, so lässt sich ermessen, wie groß die Ablehnung erst vor dem 19. Jh. gewesen sein muss.
Tryol y Serra bezeichnet in seinem Buch "Weltstaatengesellschaft" die im Pariser Vertrag zur Beendigung des Krimkrieges (1856) erfolgte Aufnahme der Türkei (1856) als eine "Wende zu einer neuen Phase auf dem Weg zur Weltstaatengesellschaft unserer Tage". Einschränkend betont er jedoch, daß dies nur "vom formalen Standpunkt aus" zutreffe: die Türkei sei längst mit der europäischen Staatenwelt eng verbunden gewesen. (zitiert nach Wilhelm G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1988, S. 530 Fn. 34).

Mir scheint, dass die Wende schon vor Atatürk eingetreten ist und diese im 1856er Friedensvertrag lediglich formal besiegelt wurde.;)
 
Zuletzt bearbeitet:
Tyrol y Serra kann das gern als "Wende" bezeichnen, doch bin ich da ganz anderer Meinung (siehe mein Posting!). Eine wirkliche Annäherung an Europa gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg, der das Osmanische Reich um alle asiatischen Gebiete amputierte, und seinen Blick unverrückbar nach Europa richtete. Besonders als die Türkei als Nachfolgestaat präsent war und Atatürk offensiv ihre Hinwendung nach Europa betrieb.
 
inbetween

Wichtigste Hinterlassenschaft der Phönikier ist das Alphabet.
Auch wesentliche Begriffe wie "Ozean", "Asien", "Europa" im Griechischen sind ursprünglich Lehnwörter aus dem Phönikischen
(Müller 1972, 48; vgl. Diodor 5,20)

Ideologisiert wurde eigentlich später. Zuerst war der reine geographische Begriff, ein Wort des großen Seefahrervolkes.
Und zum Thema: deren Nachkommen sind im Osmanischen Reich aufgegangen + die Levante als Urheber unseres Kontinentnamens = die Türken haben demnach eigentlich ideologisch als Erben einen Anspruch auf "Europa" -zumindest die Wortschöpfung kam ja aus "ihrer Gegend" ... aber das ist bitte nur halbernst gemeint.


NS: Ich bin mir nicht sicher, stell es aber mal zur Diskussion, weil es ein findeswertes Thema sein könnte: sollten wir (und ihr, liebe Mods, tut es ;)) die jew. Beiträge nicht zu einem eigenen Thread "Europa, ideologischer und/oder geographischer Begriff" machen? (oder besser auch hier lassen UND den neuen thread bilden?)
 
Über die weitere Diskussion

ning schrieb:
Wichtigste Hinterlassenschaft der Phönikier ist das Alphabet.
Auch wesentliche Begriffe wie "Ozean", "Asien", "Europa" im Griechischen sind ursprünglich Lehnwörter aus dem Phönikischen
(Müller 1972, 48; vgl. Diodor 5,20)

Ideologisiert wurde eigentlich später. Zuerst war der reine geographische Begriff, ein Wort des großen Seefahrervolkes.
Und zum Thema: deren Nachkommen sind im Osmanischen Reich aufgegangen + die Levante als Urheber unseres Kontinentnamens = die Türken haben demnach eigentlich ideologisch als Erben einen Anspruch auf "Europa" -zumindest die Wortschöpfung kam ja aus "ihrer Gegend" ... aber das ist bitte nur halbernst gemeint.


NS: Ich bin mir nicht sicher, stell es aber mal zur Diskussion, weil es ein findeswertes Thema sein könnte: sollten wir (und ihr, liebe Mods, tut es ;)) die jew. Beiträge nicht zu einem eigenen Thread "Europa, ideologischer und/oder geographischer Begriff" machen? (oder besser auch hier lassen UND den neuen thread bilden?)
Eigentlich geht es in diesem Strang nur um die Beantwortung der Zugehörigkeitsfrage. Mit welchen Argumenten man diese beantwortet, ist eigentlich nicht so wichtig. Freilich sollte sich an die genannte Begründung auch eine Diskussion darüber anschließen, ob diese überzeugt oder nicht. Dabei sollten wir nicht aus dem Auge verlieren, dass der Einschätzung der Zeitgenossen des Osmanischen Reiches natürlich eine besondere Bedeutung zukommt.

Und wenn sich im Laufe der Diskussion zeigt, dass wir in diesem Forum über die Europa-Ideen eigentlich grundsätzlicher diskutieren sollten, na dann: auf gehts! Zwei Alternativen bieten sich an:
a) In diesem Strang die Europa-Konzepte kurz darstellen und erläutern, wie sich dieses Konzept auf die Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches auswirkt oder
b) eigenen Strang eröffnen und dort - frei von der Zugehörigkeitsfrage des Osmanischen Reiches - diese Konzepte darstellen.

Ich würde Alternative a) bevorzugen, schon um die Diskussion anhand des historischen Falles von der Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches zu diskutieren. Ansonsten fürchte ich, dass sich die Diskussion gleich um aktuelle Fragen des europäischen Integrationsprozesses drehen wird, wie z.B. um die EU-Mitgliedschaft der Türkei. Zudem macht es auch Sinn, sich die Europa-Ideen bis zur Zeit vor dem Ersten WK zu vergegenwärtigen und bei einer grundsätzlicheren Europa-Diskussion die Zeit nach 1914 miteinzubeziehen.

Ich habe in diesem Strang Saint-Justs grundsätzlichere Argumentation ein bißchen ins Leere laufen lassen, weil ich die Diskussion über die Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches auch nicht mit dem begrifflichen Argument ausgehebelt sehen wollte, die Beantwortung dieser Frage sei nicht möglich, da Europa nicht existiere. Es mag zwar unterschiedliche Vorstellungen, auch Ideologien, über Europa geben. Aber den Gegenstand, der mit Europa bezeichnet wird, und sich über zwei Jahrtausende entwickelt hat, den gibt es durchaus.
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo in die Runde,

Auf die Frage: Gehört das Osmanische Reich zu Europa?, fällt mir eigentlich nur eine Antwort ein:
Seit dem Jahre 1453, dem Fall Konstantinopels, hat ganz Europa mit dem Osmanischen Reich sowohl ein geistliches, als auch ein militärisches Trauma.
Die Osmanen, wie aber auch schon die Seldschuken während der Zeit der Kreuzzüge, haben immer wieder Europas direkte Aufmerksamkeit geteilt. Sie sind also Bestandteil der zutiefst europäischen Glaubensgeschichte, und ohne sie würden Europa 1000 Jahre fehlen - ganz klar, sie gehören dazu!!!

Gruß
derLiterat
 
Dieter schrieb:
Tyrol y Serra kann das gern als "Wende" bezeichnen, doch bin ich da ganz anderer Meinung (siehe mein Posting!). Eine wirkliche Annäherung an Europa gab es erst nach dem Ersten Weltkrieg, der das Osmanische Reich um alle asiatischen Gebiete amputierte, und seinen Blick unverrückbar nach Europa richtete. Besonders als die Türkei als Nachfolgestaat präsent war und Atatürk offensiv ihre Hinwendung nach Europa betrieb.
Vorsicht: wenn wir heute über die Geschichte der Türkei nachdenken, neigen wir dazu Atatürk als Wendepunkt zu betrachten. Dabei vergessen wir, dass die Hinwendung nach Europa bereits früher einsetzte. In der Geschichte des Osmanischen Reiches gelten die Jahre 1808-1908 als Reform-Jahrhundert:

Im Oktober 1808 beginnt die Verfassungsgeschichte des Osmanischen Reiches mit dem Übereinkommen zwischen Sultan Mahmud II. (1808-1839), Großwesir und den Spitzen des ilmiye-Korps und der Armee.

1826 wurde das Janitscharenkorps aufgelöst (allerdings in einer blutigen Aktion).

1830 wurden die vier ersten moslemischen Schüler zum Studium nach Paris entsendet. Bis dahin studierten allein christliche Untertanen im Ausland (meistens Medizin in Italien).

1836 leitete Mahmud II. eine Verwaltungsreform ein. Die ersten Ministerien wurden gegründet. 1838 wurde der "Oberste Rat für Rechtsangelegenheiten" gegründet, mit der eine Brücke gebaut wurde von informellen islamischen Beratungsgremien zum "Conseil d'Etat" modernen Typs.

Am 3.11.1839 wurde mit der Verlesung des "Kaiserlichen Handschreibens" von Gülhane die Epoche der "Wohltätigen Verordnungen" eingeleitet. Dieses Reform-Edikt wurde als osmanische Fortsetzung der Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution gelesen. Es bezieht sich vor allem "auf die Sicherheit des lebens, den Schutz der Ehre und des Vermögens, die Fixierung der Steuern, die Art und Weise der Aufhebung der nötigen Truppen und die Dauer ihrer Dienstzeit".

Im Pariser Friedensvertrag über die Beendigung des Krimkrieges (1856) wurde das Osmanische Reich in Art. 7 in die europäische Staatenwelt aufgenommen. In Art. 9 nahm der Vertrag auch Bezug auf einen zuvor erlassenen Ferman des Sultans, in dem die Garantien von 1839 bestätigt werden, "ohne Unterschied des Religionsbekenntnisses und der Nationalität". Die Wahl und Erennung zu Staatsbeamten wurde von nun an an die Qualifikation der Kandidaten nicht an ihre Nationalität geknüpft. Der freie Zugang zu Zivil- und Militärschulen wurde garantiert. 1856 wurden gemischte Tribunale gegründet, um handelsrechtliche Verfahren und Strafverfahren zwischen Muslimen und Christen durchzuführen. Auch die Steuer- und Militärpflichten wurden dem Gleichheitsgrundsatz angepasst. Freilich stieß die Anwendung des Gleichheitsgrundsatzes auch auf Kritik. So sahen sich die Mitglieder des griechischen Klerus als Opfer dieser reformen, da sie nun ihre Vorrangstellung unter den Nicht-Muslimen verloren und mit den Juden gleichgestellt wurden.

Der Krimkrieg führte auch zu infrastrukturellen Reformen: die erste Telegraphenleitung wurde eingerichtet, Bahnkonzessionen für Europa und Anatolien vergeben. In Istanbul wurde eine Modell-Stadtverwaltung geschaffen. Auch in diplomatischer Hinsicht öffnete sich die Türkei: der Sultan besuchte einen Ball in der französischen Botschaft, nahm den englischen Hosenbandorden an. 1867 besuchte zum ersten Mal ein Sultan eine europäische Hauptstadt: Abdülaziz nahm an der Pariser Weltausstellung teil.

In der Tanzimat-Zeit kam es zu einer Fülle von rechtlichen und schulischen Reformen: 1859 wurde eine Zivilbeamtenschule eröffnet, so dass sich erstmals eine qualifizierte Beamtenschicht ausbilden konnte. 1868 wurde eine Eliteschule an der Spitze eines staatlichen dreigliedrigen allgemeinen Schulwesens gegründet, 1870 die erste Schule für Lehrerinnen für die Mädchenklassen des Schulwesens. Zwar kam es nicht zur Übernahme des Code civil aber zahlreiche neue Gesetze lehnten sich an französische Muster an.

Unter Sultan Abdülaziz (1861-1876) wurde das europäische Maß- und Gewichtssystem übernommen (1869). 1867 wurde zum erstenmal ein oppositionelles Exil in Europa gegründet.

Das "Grundgesetz" von 1876 stellte die erste osmanische Verfassung dar.

etc, etc.

(Literatur hierzu: Klaus Kreiser, Der Osmanische Staat (1300-1922), Oldenbourg Grundriß der Geschichte, Band 30, 2001, S. 36 ff.)

Freilich gab es an diesen Reformen auch viel Kritik und gegen diese auch viel Widerstand, der wiederum in den entfernten Provinzen größere Erfolgschancen hatte als in im Zentrum Istanbul. ABER all diese Reformen zeigen, dass sich das Osmanische Reich schon im 19. Jahrhundert Europa öffnete, auch wenn es (noch) über Territorien in Afrika und dem Nahem Osten herrschte.

Atatürk ist wohl eher als Wendepunkt in Richtung türkischer Nationalstaat zu sehen, durch den die Türkei freilich nochmals europäischer wurde. Aber die Wende in Richtung Europa wurde schon früher vollzogen.
 
Gandolf, die Sultane waren lediglich so klug, aus dem europäischen Instrumentarium alle Maßnahmen herauszufiltern, die möglicherweise der politischen Stabilität und ökonomischen Prosperität dienen konnten. Worin das im Einzelnen bestand, hast du dankenswerterweise sehr detailliert aufgelistet.

Die Übernahme solcher "Errungenschaften" des Westens ist jedoch nur ein Gebot der Einsicht und Vernunft. Sie postuliert noch längst kein "europäisches" Osmanisches Reich. Auch Japan modernisierte sich noch vor dem !. Weltkrieg mit atemberaubender Geschwindigkeit und führte dabei zahlreiche westliche Neuerungen ein. Das verhütete seine Kolonialisierung durchdie imperislistischen Großmächte. Damit aber wurde apan noch längst kein europäisches Land!
 
Gandolf schrieb:
... wenn sich im Laufe der Diskussion zeigt, dass wir in diesem Forum über die Europa-Ideen eigentlich grundsätzlicher diskutieren sollten, na dann: auf gehts! Zwei Alternativen bieten sich an:
a) In diesem Strang die Europa-Konzepte kurz darstellen und erläutern, wie sich dieses Konzept auf die Zugehörigkeit des Osmanischen Reiches auswirkt oder
b) eigenen Strang eröffnen und dort - frei von der Zugehörigkeitsfrage des Osmanischen Reiches - diese Konzepte darstellen.

beides setzt voraus, dass "europa" neben der idee überhaupt eine realität hat. um die frage mit "ja" oder "nein" zu beantworten, muss man das unhinterfragt einfach glauben. genau das habe ich in meinen ersten posting bestritten (und bestreite es noch). europa ist die idee von "europa"- nicht mehr, aber auch nicht weniger.

(sonst kann man auch darüber diskutieren, wie sich echte und falsche kornkreise unterscheiden lassen :))
 
Sie postuliert noch längst kein "europäisches" Osmanisches Reich.

Eigentlich könnte man den Zeitpunkt als die ersten Türken auf griechischem Boden ankamen und sich als Schutztruppen des Bzyantischen Reiches aufstellten als Beginn der Europäisierung ansehen (Die Oghusen die sich in Römer/ Rum umbenannten und sich mit dem Imperium identifizierten)

Also Mitte des 12. Jh. somit fingen die Türken mit der europäisierung wesentlich früher an, als so manches europäisches Volk an sich.
 
askan schrieb:
Sie postuliert noch längst kein "europäisches" Osmanisches Reich.

Eigentlich könnte man den Zeitpunkt als die ersten Türken auf griechischem Boden ankamen und sich als Schutztruppen des Bzyantischen Reiches aufstellten als Beginn der Europäisierung ansehen (Die Oghusen die sich in Römer/ Rum umbenannten und sich mit dem Imperium identifizierten)

Also Mitte des 12. Jh. somit fingen die Türken mit der europäisierung wesentlich früher an, als so manches europäisches Volk an sich.

Diese "Europäisierung" beschränkte sich in den ersten Jahrhunderten i.d.R. darauf als Söldner beschäftigt zu werden, zu erobern und zu plündern.
 
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