Gesellschaft-Alltag-Freizeit und Tagesablauf

Zelandonii

Neues Mitglied
Guten Tag an alle ,
ich als begeisterter leser dieses Forums habe nun auch mal eine Frage ;-)
Was mich interessiert wäre das Leben der, wie solll ich sagen, "ganz normalen Bevölkerung" also wohl der Arbeiterklasse im Kaiserreich.
Ich habe bereits das LeMO vom Deutschen-Historischen-Museum auf den Kopf gestellt Das Kaiserreich
wäre jetzt aber mal an "innerem" Wissen interessiert.
Durch die Reduzierung der Arbeitsstunden von 72 (1871) auf 57 (1914) entstand letztlich auch mehr Zeit für Erholung, Freizeitaktivitäten und anderes.
Kann mir einer von euch beispielsweise mal den Wochenablauf einer Familie skizzieren oder Links zu vertrauenserweckenden Internetseiten (also nicht Wikipedia:rofl:) nennen?
Was machte die Frau während der Mann arbeitete, was die Kinder und wie und wo erwarb man Essen, Trinken, wusch sich, ging auf die Toilette, kochte und was noch alles zu wichtig erscheint - halt Dinge die man normal nicht gleich erfährt - da steht meistens nur die Politik im Vordergrund...

Ich hoffe man kann verstehen was mich interessiert :)

freue mich auf interessante Antworten,
mfg euer Zelandonii
 
@Zelandonii

Das ist eine sehr schwierige Frage, da meist die politische Geschichte und eventuell noch die Wirtschaftsgeschichte im Fokus der Historiker stehen. Alltagsgeschichte wird häufig nur exemplarisch untersucht (einzelne soziale Milieus). Als Einstieg emüpfehle ich Dir die Datenbank der Volkskundler (einfach durchklicken).

Deutsche Gesellschaft fr Volkskunde (Kulturanthropologie, Europische Ethnologie, Empirische Kulturwissenschaft)

Für die "Arbeiter" gibt es von Jürgen Kuczynski

Jürgen Kuczynski ? Wikipedia

Geschichte des Alltags des deutschen Volkes (5 Bände) ISBN 3-89438-191-4

Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus (40 Bände)

Bei ihm aber aus konsequent marxistischer Sicht.

Hier kannst Du auch anfangen:

Alltagsgeschichte ? Wikipedia

Melchior
 
Was mich interessiert wäre das Leben der, wie solll ich sagen, "ganz normalen Bevölkerung" also wohl der Arbeiterklasse im Kaiserreich.

Hallo

Was machte die Frau während der Mann arbeitete, was die Kinder (…)

In der Regel: auch arbeiten.In der Arbeiterklasse war die Berufstätigkeit beider Ehepartner mWn die Regel (bis zum Wirtschaftswunder nach dem 2. Wk.), die „Hausfrau“ ist ein eher bürgerliches Phänomen.

Die Kinder trieben sich unbeaufsichtigt auf der Straße umher, wenn der Hinterhof zu langweilig wurde; wenn sie nicht auch arbeiten mussten...

http://www.zillemarkt.de/img/circushof.jpg

http://www.altertuemliches.at/kunst-antiquitaeten/images/events/adk_1_zille_titel_g.jpg

http://www.familie-machei.de/zille.gif

Google-Ergebnis für http://www.ludorff.com/pics/zille/kanal.jpg

(…) und wie und wo erwarb man Essen, Trinken, (…)

Auf dem Markt (bzw in einer Markthalle), im Tante-Emma-Laden um die Ecke, oder bei der örtlichen Konsumgenossenschaft.

http://graphics8.nytimes.com/images/2008/03/26/arts/zilleslide8.jpg

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b7/Heinrich_Zille_Konsum-Genossenschaft.jpg

http://www.zilles-bierhaus.de/images/zille9.jpg

(…) wusch sich, ging auf die Toilette, kochte (…)

In der typischen Berliner Mietskaserne hatten die Wohnungen keinen Wasser- oder Abwasseranschluss; die Toilettenlagen im Hinterhof (oft noch als Plumpsklo ohne Abwasserableitung) oder auf halber Treppe und wurden von allen Bewohnern genutzt. Sowohl die Wäsche als auch deren Träger wurden in offenen Schüsseln oder Wannen in der Wohnung gewaschen, Badewannen mit fließen Wassern waren Luxus.

http://www.fherrgen.de/Stadt/zille1.jpg

http://www.german.ac.nz/newsletter_archiv/German For Kiwis Newsletter_files/zille59.jpg

http://www.wdr.de/themen/wissen/1/staedtebau/wohnen/infobox/data/staedtebau_wohnen/zille_akg_400h.jpg

Zu erwähnen bleibt, dass diese Wohnungen oft völlig überbelegt waren; sogar ein Bett, dass Tags nicht genutzt wurde, wurde „untervermietet“ an jemanden, der Nachts arbeiten musste. Drei, vier, fünf und mehr Personen pro Raum waren Normalität.

Eine (wahre) Anekdote noch: Die Mindestgröße eines Berliner Hinterhofs betrug während des Kaiserreichs ca 5,5 m; soviel betrug nämlich der Wendekreis einer handgezogenen Feuerspritze. Dass ein solcher „Hof“ nicht mals zur Mittagszeit ein paar Sonnenstrahl abbekommt interessierte dagegen niemanden...

Alle verlinkten Zeichnungen sind von Heinrich Zille, seines Zeichens DER Zeichner des proletarischen Berlins der Jahrhundertwende.

http://www.heinrich-zille-museum.de/

http://www.chronik-berlin.de/

Hier noch zwei Fotos zum Vergleich:

http://www.360-grad-blog.de/wp-content/uploads/2008/01/adk_24_zille_hof_im_kroegel.jpg

http://view.stern.de/de/picture/1548361/Berlin-2006-Kastanienallee-Heinrich-Zille-Zille-Milieu-Beige-510x510.jpg
 
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ah danke euch zweien vielmals für die tollen Antworten :)
Sind tolle Quellen und Bilder/Fotos;)

Was vllt. noch interessant wäre: Gab es zu der Zeit bereits erste Abendveranstaltungen für die Arbeiterklasse? Sprich existierten schon "moderne" Kneipen, Treffs oder gar öffentlich zugängliche Sportvereine?
Ich habe kein genaues Wissen über damalige finanzielle Möglichkeiten - außer das es gerade zum Leben reichte - nur durch die reduzierung der Arbeitsstunden bei steigenden Reallöhnen muss man die Zeit schließlich irgendwie genutzt haben - könnt ihr mich auf dem Gebiet auch noch mit Wissen bereichern? ;-)

mfg Zelandonii
 
Was vllt. noch interessant wäre: Gab es zu der Zeit bereits erste Abendveranstaltungen für die Arbeiterklasse? Sprich existierten schon "moderne" Kneipen, Treffs oder gar öffentlich zugängliche Sportvereine?

Die typische Berliner Eckkneipe, die heute dem berühmt-berüchtigten „Stammtisch“ beherbergt, dürfte in der Zeit entstanden sein; der Alkoholismus war ein großes Problem für die damalige Unterschicht: Der Vater säuft abends in der Kneipe sein Bier, während Frau und Kinder nicht wissen, womit das Brot bezahlt werden soll …

http://de.wikipedia.org/wiki/Elendsalkoholismus#Industrialisierungstheorie

http://wapedia.mobi/de/Elendsalkoholismus

Wieder was von Zille: ;)
http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/8c/Heinrich_Zille_In_der_Kneipe.jpg

Keine Ahnung, was das ist, sieht aber nicht uninteresant aus:
http://www.wcurrlin.de/links/basiswissen/basiswissen_industrialisierung.htm

Das Vereinswesen geht ebenfalls auf das 19. Jh. zurück. Gemäß der scharfen Spaltung der Gesellschaft waren aber auch die Vereine entsprechend diversifiziert. Es gab eigene Vereine bspw für Arbeiter (Arbeitersportverein, Arbeitergesangsverein etc.), da die „bürgerlichen“ Clubs die Proletarier nicht haben wollten. Gleiches gilt für andere Bevölkerungsgruppen, bspw Katholiken oder Polen.

Anders als heute war der Vereinsbegriff im 19. Jh. allerdings stärker politisch belegt. Als heutzutage. Die ersten Arbeitervereine waren primär politische Organisationen, die Vorgänger von Parteien und Gewerkschaften. Um das berühmteste Beispiel zu nennen: Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein ADAV.

http://de.wikipedia.org/wiki/Arbeiterverein

http://de.wikipedia.org/wiki/Allgemeiner_Deutscher_Arbeiterverein
 
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Mir sind noch zwei Dinge eingefallen, die im Zusammenhang mit Freizeitgestaltung des "kleinen Mannes" interessieren könnten.

Zuerst wäre die für Berlin so typische Laube; Laubenpieper (sprich die Nutzer einer solchen) kamen eher aus den unteren Schichten, wenn auch nicht den total verarmten Zeitgenossen. Dabei waren diese Lauben mit ihrem kleinen Gärtchen nicht nur ein Ort der Erholung, sondern dienten auch der Versorgung mit frischen Lebensmitteln (Gemüse, Kräuter etc.).

Kleingarten ? Wikipedia

Zweitens war der Ausflug ins Jrüne ein bei Groß und Klein beliebter Spaß; mal raus aus dem versifften Hinterhof und Arbeiterbezirk zu einer der zahlreichen Ausflugsgaststätten, die im Laufe des 19. Jh. im Umkreis von Berlin entstanden. Berühmt wurde das Strandbad Wannsee, nach einer weiteren bekannten wurde sogar ein Ortsteil benannt. (Naja, eigentlich "kaufte" sich der Gastwirt eine eigene S-Bahnstation, die zum Kern eines Ortsteils wurde):

Berlin-Waidmannslust ? Wikipedia

(Wobei die von Wiki das anders darstellen...)

http://de.wikipedia.org/wiki/Strandbad_Wannsee#Geschichte
(Erst ab 1907)

Hier die obligatorischen Zille-Bilder:

http://www.welt.de/multimedia/archive/1199947992000/00476/mim_zille8_DW_Berli_476914g.jpg

http://www.naturparkreisen.de/berlin/flussfoto.jpg

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b5/Berliner_Strandleben_Heinrich_Zille.jpg

Warum ich ausgerechnet jetzt kein Zille-Bild von nem Ausfluchslokal mit Tanzvernüjen finde hat wohl was mit Murphy zu tun...

Aber zum guten Schluss: Das Ganze wurde auch vertont, sehr prominent diese Weise (die ja eijentlich im tiefsten Berlinerisch jesungn werdn müsste...)

Bolle reiste jüngst zu Pfingsten, nach Pankow* war sein Ziel
Da verlor er seinen Jüngsten janz plötzlich im Jewühl
Ne volle halbe Stunde hat er nach ihm jespürt
//: Aber dennoch hat sch Bolle janz köstlich amüsiert ://

Bolle reiste jüngst zu Pfingsten free midi mp3 download Strand Hotel Sechelt bed breakfast

* Da gehts um genau so eine Sonntagsausflug von Wedding, Kreuzberg oder Rixdorf ins Grüne, zB den Vorstadt-Bezirk Pankow.
 
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