Wieger schrieb:
Mir erschließt sich nich warum man zu Beurteilung dieses Faktes westliche Moralnormen heranzieht, wo doch offensichtlich die Täter anders gehandelt haben? Die Herangehensweise funktioniert doch gar nicht. Und wer bestimmt die westlichen Moralnormen? Ich denke schon, dass Gewalt in vielfältiger Form auftritt,sogar gewollt, zumindest aber toleriert wird.
Das ist schon interessant - du willst also nur die Normen der Täter gelten lassen, um die Morde zu rechtfertigen. Die "Natürlich wird zurückgeschossen"-Norm, der letztendlich auch viele RAFler zum Opfer fielen, weil sie in aussichtlosen Situationen bei Verhaftungen rasch die Waffe zückten. Die "Polizisten=Pigs"-Norm, nach der sich auch die Morde an Beamten bei stinknormalen Raubüberfällen zur politischen Tat hochjazzen ließen. Und selbst wenn man sich auf diese verquere Sichtweise einließe, hat die RAF noch völlig unschuldige Menschen umgebracht - wie die ältere Schweizer Passantin, die bei einer chaotischen Schießerei im Jahr 1979 einfach im Weg stand. Und so "anders" haben die Täter auch nicht gehandelt - ideologisch gesehen, waren die RAFler sehr klassische und recht orthodoxe Kommunisten alten Stils - und dieser Kommunismus hat natürlich starke "westliche Wurzeln".
Wieger schrieb:
Und wo sind die Dokumente dazu, dass es der RAF nur um den Arbeitgeberpräsident ging und nich zufällig auch noch um seine Vergangenheit, wenn es schon strategisch geplant wurde, dann wird man doch wohl auch was zur Vergangenheit suchen und wie waren die Ziele der 68er?
Etwas zum Hergang der Ereignisse, die zur Schleyer-Entführung führten und zu deren Ursache:
Die sogenannte "Offensive 1977" wurde wahrscheinlich im Herbst 1976 geplant. Gegen Ende des Jahres nahm die Polizei den damaligen Anführer Siegfried Haag fest. In dessen Auto fanden sich Notizblätter mit geplanten Aktionen der RAF. Die Fahnder konnten nicht sofort feststellen, was genau im Rahmen der Operationen "Margarine", "Big Money" und "Big Raushole" geplant war. Später stellte sich heraus, dass "Margarine" die Ermordung Bubacks meinte, "Big Money" und "Big Raushole" die Schleyer-Entführung mit anschließender Freipressung der Stammheim-Gefangenen. Nach einer Verhaftungswelle lief die Offensive an, nachdem Brigitte Mohnhaupt im Februar 1977 freigelassen wurde. Sie wurde von den "Stammheimern" als geeignet für die Führung und Koordination der Operationen angesehen. Die "Offensive 77" begann an Ostern dieses Jahres mit der Ermordung von Generalbundesanwalt Buback. Danach soll endlich die Befreiungsaktion der Gefangenen geschehen. Dabei wählte die RAF zunächst Jürgen Ponto - aus ganz praktischen Gründen. Die Terroristin Susanne Albrecht ist Patenkind Pontos; so würde es wesentlich einfacher, so das Kalkül der Terroristen, sich Zugang zu Pontos Haus zu verschaffen. Dieses Kalkül geht auf, allerdings widersetzt sich Ponto den Entführern und wird erschossen. Danach konzentrierte sich die RAF auf die Schleyer-Entführung. Obwohl sogar mittlerweile öffentlich bekannt ist, dass Schleyer im Visier der Terroristen steht, gelingt es nicht, den geschickt geplanten Anschlag zu verhindern.
Das erste Bekennerschreiben nach der Schleyer-Entführung trifft am fünften September 1977 ein. Darin wird Schleyer knapp als "Präsident des Arbeitgeberverbandes und des Bundesverbandes der deutschen Industrie" beschrieben, aber es gibt keinerlei Hinweise auf seine Nazi-Vergangenheit. Dabei ließ es die RAF normalerweise nicht daran fehlen, ihre Taten auch moralisch zu begründen.
Nach der Ermordung Schleyers gab es in der RAF kein Bekennerschreiben, nur eine kurze Notiz. Erst etwas später gab es eine Erklärung zur "Offensive 77", in der die RAF darauf verweist:
"Die Gefangennahme von Schleyer konfrontierte den BRD-Staat mit seinem Legitimationsproblem - durch diesen Funktionär des 3. Reichs und seines Nachfolgestaats, dessen Herrschaftsgrundlage lediglich von außen erbeutet und nach innen erzwungen wurde." Das ist alles, weiter wurde Schleyers Nazi-Vergangenheit von der RAF nicht genutzt - wobei sie in der Erklärung ohnehin vor dem Problem steht, Schleyer als besonders tragisches Opfer des faschistoiden Staates darzustellen.
Auch die damals in Stammheim inhaftierte Irmgard Möller begründete die Entführung Schleyers in einem späteren Interview nach ihrer Freilassung mit dessen beruflicher Position:
"Ponto war ein Ziel, dass es bis dahin so nicht gegeben hatte, er war ebenso wie später Schleyer ein Wirtschaftsführer. So jemanden auszuwählen entsprach insofern unserer Analyse, als damals ökonomisch, gerade auf dem Weltmarkt, ungeheuer viel in Bewegung geraten war." Weiter heißt es:
"Beide Wirtschaftsführer, Ponto und Schleyer, standen in diesem historischen Moment im Schnittpunkt von Entscheidungen mit strategischen Wirkungen. Durch ihre Entführung die Machtfrage zu stellen und die Freiheit von elf Gefangenen zu fordern, musste Wirkung in die eine oder andere Richtung haben."
Quelle:
http://www.ra-tolmein.de/cms2/documents-upload/pdf/1153328364.pdf
Wieger schrieb:
Da war doch irgendwas mit Elterngeneration und Adenauermief und Nazi-Vergangenheit. Und gehört die RAF nich zur 68er Bewegung?
Da sollte man doch die Realitäten sehen. Die RAF war kein munterer Debattierzirkel, sondern eine terroristische Gruppe. Es ging für sie immer auch darum, welche Aktionen überhaupt möglich waren und wie erfolgreich diese sein konnten. In den ersten Jahren der "zweiten Generation" war das Ziel, dass alles überlagerte, die Befreiung der Gefangenen. Sie musste Menschen als Entführungsopfer finden, die wichtig genug sein könnten, damit die Gefangenen ausgetauscht würden. Dass Schleyer Funktionsträger im Dritten Reich war, gibt dem ganzen zwar eine interessante ideengeschichtliche Note, war aber nicht - wie ich oben nachgewiesen habe - das Handlungsmotiv der RAF bei der Entführung. Wäre Schleyer SPDler gewesen (was zugegebenermaßen in seiner Position sehr unwahrscheinlich ist) hätte ihn die RAF genauso entführt.