Gesetzgebung als historische Quelle

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Rhesusaffengott

Gast
Hallo liebe Gemeinde,

immer wieder lese ich die folgende Argumentation:
Die Regierung X hat ein bestimmtes Gesetz erlassen. Sagen wir, es ist ab jetzt für Männer verboten, anderen Männern den Hut vom Kopf zu hauen.
Daraus ziehen viele historische Schriftsteller dann die Schlussfolgerung, es muss im Vorfeld ein gewisses Problem mit diesem Verhalten gegeben haben, sonst wäre das Gesetz nämlich nutzlos gewesen. Auf diese Art wird ein Gesetz, dass eine bestimmte Sache explizit verbietet sogar zum Beleg dafür, dass diese Sache wohl eine Zeit lang Usus gewesen sein muss.
Beispielsweise wenn die alten Griechen das Trinken von Wein im Amphietheater untersagen, so bedeutet das, dass hier Betrunkene wohl wiederholt Ärger gemacht haben.

Was ist nun mein Problem mit diesem Argument?
Das Argument basiert im Wesentlichen darauf, dass man von einer Handlung (Gesetz wird erlassen) auf eine Motivation (gesellschaftlichen Misstand abstellen) schließt.
Diese Schlussfolgerung scheint mir aber nicht angemessen. Nehmen wir das berühmt-berüchtigte Gebot "Du sollst nicht töten" oder "Du sollst nicht falsch Zeugnis geben wider deinen Nächsten usw. Wenn man auf diese Gebote die obere Argumentation anwendet, so müsste man von den Personen, die sie aufgestellt haben, ein sehr negatives Bild gewinnen.
Dabei ist das sehr wahrscheinlich falsch. Der Grund für die 10 Gebote war, dass hier erstmals im Namen Gottes bestimmte Verhaltensregeln aufgestellt werden sollten.

Genaus erlassen wir auch heute häufig Gesetze, die nicht auf einen konkreten Misstand abzielen. Beispielsweise Regulierungen zur Gurkenkrümmung. Wieso sollten alte Regierungen so etwas nicht auch getan haben?
Der Wunsch, eine möglichst umfassende Regelung aller möglichen Verhältnisse vorzunehmen ist natürlich etwas modernes. In der Antike hatten die Menschen meines Wissens ein anderes Verstandnis. Manchmal war es erforderlich, Gesetze noch mal explizit zu erlassen, damit sie weiter gelten...

Die Argumentation scheint mir daher nicht schlüssig.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Die Gurkenkrümmungsverordnung, die immer wieder zitiert wird, um die EU als Bürokratiemonster zu verunglimpfen, existiert nicht mehr, wird aber von den Händlern nach wie vor eingehalten: Weil sie praktisch ist. Und dies zeigt wiederum, dass es sehr wohl eine Notwendigkeit gab, sie zu erlassen.
Die Zehn Gebote sind eine reduzierte Gesetzgebung, welche im Prinzip die notwendigen Lebensregeln in einer Gemeinschaft festlegen. Dabei wird als Durchsetzungsinstanz Gott genannt. Nüchtern betrachtet bilden sie die Probleme ab, welche eine Gemeinschaft hat: Gleichgültigkeit, Neid, Eifersucht und die daraus resultierenden Übrgriffe.
 
Ein Problem ist leider, dass die meisten Menschen einfache Erklärungen haben und vieles einfach wortwörtlich nehmen, statt erst einmal zu bedenken, was tatsächlich dahinterstecken könnte.

Beispiel: Sagen wir, es ist ab jetzt für Männer verboten, anderen Männern den Hut vom Kopf zu hauen.

Wichtig wäre, so unsinnig uns diese Verordnung heute erscheint, uns dem Kontext anzunähern. Die Überlegung, es kam vor, dass Männer anderen Männern den Hut vom Kopf hauten, daher musste das verboten werden, macht es sich zu einfach.

Die Fragen, die für mich jedenfalls relevant wären:
Warum gleich ein Verbot?
Ist etwas überliefert, über die Sanktionen, die bei der Nichteinhaltung vorgesehen waren? Musste der Täter die Reinigung und Reparatur des Hutes bezahlen oder den Hut gegebenenfalls ersetzen? Hatte er dem Staat ein Geldstrafe zu zahlen? Musste er ins Gefängnis dafür oder war sogar die Hinrichtung vorgesehen?
(Die Sanktionen würden uns doch wenigstens einen Hinweis geben, was das Schlimme an diesem Hutvergehen war, sodass ein gesetzliches Verbot verabschiedet wurden. Ging es dabei um Behebung und Vermeidung von Sachschaden, handelte es sich um ein Delikt, das für den Betroffenen eine Entehrung bedeutet oder dürfte es sich nur um eine Geldbeschaffungsmaßnahme der Regierung gehandelt haben?

Interessant wäre sicher auch, welche anderen Probleme und Schwierigkeiten in diesem Staatswesen etwa zeitgleich herrschten. Hatte es zu dieser Zeit Probleme gegeben, die dringlicher gewesen wären.

Daneben wäre auch nicht uninteressant, zu wissen, ob dabei die vorsätzliche Absicht für eine Verurteilung relevant war.
Und schließlich wäre auch zu fragen, warum so ein Gesetz sich ausschließlich auf Männer bezog?
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Ein gutes Beispiel wäre auch Caligula, der ein Pferd zum Senator ernannt haben soll. Das wird meistens als Bestätigung seiner Geistesgestörtheit gesehen, aber warum kann es nicht auch, eine gezielte Provokation gegen den Senat gewesen sein, mit dem der Kaiser einen Konflikt hatte und die der Kaiser damit demütigen wollte.
 
Ich habe gerade zwei Bücher gelesen, die sich mit der Frage befassen, inwieweit in den USA das Justizwesen/Strafgesetz rassistisch ist und da scheint es in der 2. Hälfte des 20 Jhds. in den USA durchaus so gewesen zu sein, dass bei sinkender Verbrechensrate die Gesetze verschärft wurden - man würde eigentlich zumindest keine Verschärfung erwarten.
Oder doch? Weil gerade die zurückgehende Zahl an Verbrechen die Kapazitäten der Gefängnisse entlastete, so dass man härtere Urteile sprechen konnte?
Ich denke, die Sachverhalte sind meist so kompliziert, dass es nicht für alle die gleiche Erklärung geben kann.
 
Das wiederum ist eine andere Ebene, eure Heiligkeit. Denn das man überhaupt ein Gesetz zu etwas schafft, bedeutet, dass man ein Problem X erkannt hat und meint, es nun gesetzlich regeln zu müssen, um Rechtssicherheit zu schaffen.
Die Strafe bei Verstößen gegen bereits vorhandene Gesetze zu mildern oder zu verschärfen dagegen, ist etwas anderes.
Gerade in vormodernen Gesellschaften bestand ja z.B. die Möglichkeit einer Gefängnisstrafe allenfalls bedingt.
 
… und da scheint es in der 2. Hälfte des 20 Jhds. in den USA durchaus so gewesen zu sein, dass bei sinkender Verbrechensrate die Gesetze verschärft wurden - man würde eigentlich zumindest keine Verschärfung erwarten.
Das scheint nicht nur in den USA so zu sein, sondern war/ist allgemeiner Trend. Um mich auf Deutschland zu beschränken: Nach dem großen Aufräumen der 1960er und 1970er Jahre im deutschen StGB, gab und gibt es ab den 1980er bis heute fast nur noch Verschärfungen: Es wurden/werden alte Gesetze verschärf und/oder neue Straftatbestände geschaffen.

Seit der Zeit gehen die in den 1970er Jahren permissiv denkenden Gesellschaften wieder vermehrt davon aus, dass man die Menschen mehr kontrollieren und bei Übertretungen stärker strafen soll. Und der Resozialisierungsgedanke steht wieder an der zweiten Stelle. Exemplarisch dafür ist das bayerische Strafvollzugsgesetz, im dem es seit 2007 u.a. heißt: Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Er soll die Gefangenen befähigen, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Behandlungsauftrag). Davor, also vor 2007, war die Reihenfolge der beiden Sätze noch umgekehrt: Erst Resozialisierung, dann Schutz der Allgemeinheit.

Als in den 1980er Jahren der damalige Kanzler Kohl die „geistig moralischen Wende“ verkündete, konnte kaum einer ahnen, was er damit meinte. Inzwischen sehen wird das klarer. :D

PS: Das ist ein wenig Tagespolitik mit drin, ich weiß, aber das musste sein, um die gesellschaftlichen Veränderungen in der Zeit darstellen zu können. Und will ich damit keinesfalls eine Diskussion über hier und heute anstoßen.
 
Ich will nicht unerwähnt lassen, Papa_Leo, dass sowohl die Liberalisierungswelle der 60er und 70er Jahre als auch später die Gegentendenz aus den USA zu uns kamen – Zitat aus dem Deutschlandfunk vom 11.11.2012:

"Das ging vor allen Dingen auf die Entwicklung in den USA zurück, wo schon in den 60er-Jahren große Resozialisierungsprogramme mit beachtlichem Erfolg durchgeführt wurden. Also, Therapie in Vollzugsanstalten, Wiedereingliederung nach Haftentlassung. Und solche Dinge. Und das hat auch etwas nach Deutschland übergeschwappt."
 
@El Quijote : naja, USA 2. Hälfte 20. Jhd ... da kann man die Verschärfung wohl nicht mit "in vormoderner Zeit gab es die Möglichkeit der Gefängnisstrafe nur bedingt" erklären.
Noch etwas gelesen: zu Beginn der 80er sahen 2% der Amerikaner das Drogenproblem als das massivste Problem der USA. Dann wurde der "Krieg gegen Drogen" ausgerufen (mit entsprechender Gesetzesverschärfung und wenn ich mich nicht täusche auch einigen neuen Gesetzen) und am Ende der 80er glaubten 64%, die Drogen wären das massivste Problem. Der Krieg gegen Drogen wurde übrigens auch ausgerufen, BEVOR Crack zum großen Problem wurde. Soll heißen: manchmal gibt es Gesetze, obwohl es kein Problem gibt - weil eine andere Agenda verfolgt wird, als ein bestimmtes Problem zu lösen.
(vgl. Michelle Alexander: The new Jim Crow).

PS: Nickname hat mit Päpsten nix zu tun ;)
 
Natürlich ist es so das kein Gesetz erlassen wird ohne Grund. Den "war on drugs" gäbe es ohne Drogen nicht.

Aus Gesetzen lässt sich eindeutig erkennen, dass es das Problem gab. Vor Mohammed wurden die geborenen Mädchen lebendig begraben, also kann es kein Matriarchat in Arabien gegeben haben, wie es einige sich vorstellen.
 
@El Quijote : naja, USA 2. Hälfte 20. Jhd ... da kann man die Verschärfung wohl nicht mit "in vormoderner Zeit gab es die Möglichkeit der Gefängnisstrafe nur bedingt" erklären.
Noch etwas gelesen: zu Beginn der 80er sahen 2% der Amerikaner das Drogenproblem als das massivste Problem der USA. Dann wurde der "Krieg gegen Drogen" ausgerufen (mit entsprechender Gesetzesverschärfung und wenn ich mich nicht täusche auch einigen neuen Gesetzen) und am Ende der 80er glaubten 64%, die Drogen wären das massivste Problem. Der Krieg gegen Drogen wurde übrigens auch ausgerufen, BEVOR Crack zum großen Problem wurde. Soll heißen: manchmal gibt es Gesetze, obwohl es kein Problem gibt - weil eine andere Agenda verfolgt wird, als ein bestimmtes Problem zu lösen.
(vgl. Michelle Alexander: The new Jim Crow).

PS: Nickname hat mit Päpsten nix zu tun ;)

Seh ich auch so.
Die, stets nutzbare, allgemeine Wahrnehmung eines Problems steht nur bedingt mit der tatsächlichen Größe eines Problems in Zusammenhang.

Und das ist auch das benannte Problem der Threaderöffnung.
Man kann nicht einfach aus dem Vorhandensein von Regeln auf deren Notwendigkeit schließen.

P.S.
Der Nickname der Päpste hat mit dem Deinen zu tun. ;)
 
Natürlich ist es so das kein Gesetz erlassen wird ohne Grund. Den "war on drugs" gäbe es ohne Drogen nicht.

Kein Gesetz ohne Grund - richtig. Ich würde aber formulieren: "Aus Gesetzen lässt sich eindeutig erkennen, dass jemand ein Problem hatte" - aber nicht unbedingt, was das Problem genau war.
Laut den Büchern, die ich gerade lese (gelesen habe) hat der War on Drugs weniger mit Drogen zu tun, als man meinen möchte - und die Gesetze ebenso (hat mich in dem Umfang selbst überrascht). Die Diskussion würde jetzt wohl den Rahmen hier sprengen, deshalb nochmal der Verweise auf Michelle Alexanders Buch oben und auch auf Bryan Stevenson: Ohne Gnade.
Es gibt genug Beispiele für diskriminierende Gesetze, die nicht deswegen erlassen wurden, weil ein bestimmtes Verhalten ein Problem war, sondern weil man in der reinen Existenz einer Gruppe ein Problem sah - und dazu muss ich nicht auf totalitäre Diktaturen zurück greifen. Um in den USA zu bleiben: die Jim Crow Gesetze wurden sicher nicht erlassen, weil das Verhalten der Farbigen das Problem war.
 
Das Problem liegt im Selbstverständnis bürokratisch-legislativer Strukturen vermeintliche Regelungslücken schließen zu müssen. Dadurch werden Regelungen,die zunächst grobe Leitlinien vorgaben mit der Zeit immer kleinteiliger und detaillierter und damit in der Regel auch unsinniger.
Beispiel; gab es zunächst das Gesetz ,dass auf dem Markt Eier gehandelt werden dürfen, so folgen diesem Gesetze und Verordnungen,die die Größe und Herkunft der Eier regelt,die Größe und Gestaltung der Eierstände, die Qualifikation der Eierhändler,der Legehennen und des Hahns nebst zugehörigem Mist,
Es werden also anlasslos immer mehr Details geregelt ,einfach aus dem Bestreben heraus, jeden denkbaren Einzelfall in den Griff zu bekommen,
Mit Fortschreitender Differenzierung der Bürokratischen Apparate haben wir also das Problem der sich verselbständigenden ,anlasslos handelnden Legislative
 
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