Historizität Jesu von Nazareth

welcher Jesus ist das? der reale Wanderprediger oder die spätere Kunstfigur (Messias)? ich frage das deshalb, weil ja die Bibelstellen mit dem Streit mit den Pharisäern quasi Quelle für den realen Jesus sein müssten.
Der überlieferte Jesus. Hesemann versucht aus dem überlieferten Jesus einen Pharisäer oder einen den Pharisäern nahe stehenden zu machen. Er behauptet z.B. - wenn ich mich recht erinnere - dass das letzte Abendmahl in einem Haus der Pharisäer stattgefunden habe. Das Problem ist, dass er diese Behauptung m.E. nirgends belegt. Sie sticht bei Hesemann auch heraus, weil man ihn als durchaus katholisch-evangelikal bezeichnen kann (katholisch, weil das meines Wissens seine Konfession ist, evangelikal, weil er als Historiker den Evangelientext und andere religiöse Texte i.d.R. bemerkenswert quellenunkritisch liest). Ausgerechnet bei seiner Pharisäer-Behauptung steht er dann im Widerspruch zum überlieferten Text.

Die Anrede "Rabbi" spricht vielleicht auch nicht gegen eine Zugehörigkeit zu den Pharisäern. Schließlich ist aus den Pharisäern das rabbinische Judentum hervorgegangen.

Das wäre methodisch ein Umkehrschluss. Rabbi heißt zunächst einmal nichts anderes als 'Lehrer' (Johannesevangelium: διδάσκαλος), im semitischen ursprünglicher 'Großer'. Aus diesem Ehrentitel zu schließen, Jesus sei einer von denen, die er deswegen kritisiert, weil sie sich als Rebbai anreden lassen (Mt, 23, 2 - 9), also ein Pharisäer, würde bedeuten, diese Anrede zu überstrapazieren.
 
Das wäre methodisch ein Umkehrschluss. Rabbi heißt zunächst einmal nichts anderes als 'Lehrer' (Johannesevangelium: διδάσκαλος), im semitischen ursprünglicher 'Großer'. Aus diesem Ehrentitel zu schließen, Jesus sei einer von denen, die er deswegen kritisiert, weil sie sich als Rebbai anreden lassen (Mt, 23, 2 - 9), also ein Pharisäer, würde bedeuten, diese Anrede zu überstrapazieren.
Nun gab es ja innerhalb des Pharisäertums unterschiedliche Schulen, beispielsweise die des Rabbi Schammai und die des Rabbi Hillel. Was spräche dagegen, dass ein Rabbi Jehoschua auch eine oder sogar mehrere konträre Ansichten innerhalb des Pharisäertums vertreten hätte? Es war üblich zu disputieren. In dem Zusammenhang könnte man einem Kontrahenten auch mal den "Lehrer" absprechen, weil er falsche Ansichten vertritt.
Irgendwann wurde Jesus zu lästig, was aber m.E. in erster Linie politische Gründe hatte. Jesus war nicht der erste und nicht der letzte Unbequeme in dieser Welt, der beseitigt wurde.
Vielleicht vertue ich mich und schreibe jetzt Blödsinn: Aber war es nicht so, dass die Pharisäer - im Gegensatz zu den sadduzäischen Tempelpriestern und -dienern - die Tora (was Lehre und eben nicht in erster Linie Gesetz bedeutet) in unterschiedlichen Schulen mit Lehrern (Rabbis) vermittelten? Und nach der Zerstörung des Tempels war es ja gerade diese Gruppierung, die das Judentum weitergeführt hat, ohne Tempel als zentralen Versammlungsort.
(Hesemann ist mir übrigens unbekannt.)
 
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Es war üblich zu disputieren. In dem Zusammenhang könnte man einem Kontrahenten auch mal den "Lehrer" absprechen, weil er falsche Ansichten vertritt.

Das tut er ja nicht, er bezichtigt sie in cummulo vielmehr der Selbstgefälligkeit.

Irgendwann wurde Jesus zu lästig, was aber m.E. in erster Linie politische Gründe hatte.
Mag sein, vielleicht auch nicht. Warum meinst du, seien die Gründe politisch gewesen?

Vielleicht vertue ich mich und schreibe jetzt Blödsinn: Aber war es nicht so, dass die Pharisäer - im Gegensatz zu den sadduzäischen Tempelpriestern und -dienern - die Tora (was Lehre und eben nicht in erster Linie Gesetz bedeutet) in unterschiedlichen Schulen mit Lehrern (Rabbis) vermittelten? Und nach der Zerstörung des Tempels war es ja gerade diese Gruppierung, die das Judentum weitergeführt hat, ohne Tempel als zentralen Versammlungsort.
Warum sollte das Jesus zu einem Pharisäer machen? M.E. reduziert eine solche Auffassung das pharisäische Judentum auf eine Organisationsform. Meines Erachtens war es aber mehr als eine Organisationsform sondern definierte sich in erster Linie als theologische Richtung, die auf organisatorischen Zwängen basierte.
 
Das tut er ja nicht, er bezichtigt sie in cummulo vielmehr der Selbstgefälligkeit.
Ich kann, da ich die Evangelien nicht wörtlich nehme, nicht wissen, was er nun wirklich getan oder nicht getan hat, versuche nur, ihn als den zu sehen, der er war, nämlich ein gläubiger Jude, und ihn dementsprechend einzuordnen, was aber letztendlich auch Spekulatius ist, da ich keine Ahnung habe, was er nun wirklich gesagt hat. Weiter möchte ich auch nicht gehen, da es dann ins Theologische abdriften würde, was nicht Inhalt dieses Forums ist.
(Zur möglicherweise politischen Unbequemlichkeit äußere ich mich zu einem späteren Zeitpunkt, da ich meinen Beitrag dann auch gerne mit Textbelegen untermauern möchte, was Zeit kostet.)
 
Da passt aber der Zusammenhang schlecht, denn Paulus' Missionsreisen fanden ja wohl lange vor der Zerstörung des Tempels statt.

Das Jahr 70 als nach der Zerstörung des Tempels die traditionelle Tempelsteuer an den römischen Staat abgeführt abgeführt wurde oder das Jahr 95, als das Christentum ausgeschlossen wurde vom Judentum sind ja nur ungefähre Daten von wo an Christentum und Judentum sich endgültig voneinander trennten. Zuvor galt das Christentum als jüdische Sekte, viele der ersten Anhänger waren Juden und in der jüdischen Tradition vertraut. In der Heidenmission war das frühe Christentum aber erfolgreicher, und mit neugewonnenen Anhängern stellte sich die Frage, ob Heidenchristen die jüdischen Speisegebote einhalten oder sich beschneiden lassen mussten.

Eine Entfremdung von Judentum und Christentum muss aber spätestens dann eingetreten sein, als die ersten Christengemeinden sich auf die Heidenmission konzentrierten und die Beschneidung und jüdischen Speisegebote aufgaben, bzw von neuen Anhängern nicht verlangten.
 
Die Sikarier (wobei das sicher nicht ihr jüdischer/hebräischer/aramäischer Name, sondern eine Schmähung war, da das Wort von lat. sicus, 'Dolch', stammt, werden von Josephus als ziemliche Radikalinskis dargestellt. Judas Iskariot war möglicherweise ein solcher Zelot oder Sikarier. Alternativ kann er aber auch ein איש־קריות ʾΚ-qəriyyôt, ein 'Mann aus Qəriyôt' sein, wie Wikipedia schreibt. Meine Hebräischkenntnisse sind jetzt nicht sooo toll, aber ich meine, dass da eine Präposition, am ehesten ein zu kontrahiertes, präfigiertes min fehlen würde:
ʾΚ--qəriyyôt.
Vielleicht kann Ilan da weiterhelfen?

Bei Judas Iskariot ist die Zuordnung zu den Sicariern unklar, unter den Schülern Jesu wird aber neben Simon Kefas (aramäisch=der Fels=Petrus lt.) ein anderer Simon, genannt der Zelot, erwähnt, und in diesem Fall ist die Zuordnung ziemlich eindeutig.
 
Ich kann, da ich die Evangelien nicht wörtlich nehme, nicht wissen, was er nun wirklich getan oder nicht getan hat,...

Schon klar, deshalb unterscheiden wir ja den historischen Jesus vom überlieferten Jesus. Das Problem ist, dass wir - abgesehen von den Wundern und Widersprüchen - keinerlei vernünftigen methodischen Ansatz haben, um den historischen Jesus freizulegen. Wenn die Behauptung, Jesus sei pharisäisch gewesen, allein auf der Anrede "Rabbi" basiert ist das gegenüber dem eher antipharisäischen Text ein einfach schwaches Argument. Sollte es noch andere, sinnvolle Argumente dafür geben, dann bin ich darauf neugierig. Ich würde ja gerne - trotz meiner Ablehnung - die hesemannsche Argumentation wiedergeben, bin mir aber nicht sicher, ob sich sie noch korrekt zusammenbekommen. Daher schweige ich lieber.
 
Hesemann versucht aus dem überlieferten Jesus einen Pharisäer oder einen den Pharisäern nahe stehenden zu machen. Er behauptet z.B. - wenn ich mich recht erinnere - dass das letzte Abendmahl in einem Haus der Pharisäer stattgefunden habe.

Ich scheine mich hier sträflich vertan zu haben. In den Aufzeichnungen, die ich mir gemacht habe, leider ohne Stellenvermerk, steht etwas davon, dass Jesus nach Hesemann familiäre Verbindungen zu den Essenern gehabt und das letzte Abendmahl im Gästehaus der Essener stattgefunden habe. Leider gibt das Exzerpt nicht mehr her und ich müsste das Buch (Die Entdeckung des Heiligen Grals) erneut besorgen, woran es mir allerdings an Interesse mangelt.
 
In den Aufzeichnungen, die ich mir gemacht habe, leider ohne Stellenvermerk, steht etwas davon, dass Jesus nach Hesemann familiäre Verbindungen zu den Essenern gehabt und das letzte Abendmahl im Gästehaus der Essener stattgefunden habe. Leider gibt das Exzerpt nicht mehr her und ich müsste das Buch (Die Entdeckung des Heiligen Grals) erneut besorgen, woran es mir allerdings an Interesse mangelt.

Ja, diese Ansicht findet sich vor allem bei dem in Jerusalem lebenden Benediktiner und Archäologen Bargil Pixner in "Wege des Messias und Stätten der Urkirche". Pixner hat das "Tor der Essener" im Südwesten Jerusalems ausgegraben, welches auch Josephus: bellum V 4, 2 (§145) erwähnt. Der Abendmahlssaal der christl. Tradition liegt im einstigen Essenerviertel der Stadt. Zur Spekulation um das Gästehaus der Essener: Pixner meint, dass die Tatsache, dass die Jünger, die Jesus in die Stadt schickte, um ein Gästezimmer für das Passamahl zu findet, einem Mann folgten, auf einen essenischen Mönch schließen lässt: "Warum war es ein Mann, der den Wasserkrug tragen sollte? Wer den Orient kennt, der weiß, daß das Wasserholen mit dem Krug ausschließlich Arbeit der Frauen ist. War es hier ein Mann, weil zur 'Klausur' der zölibateren Gemeinschaft auf dem Zion Frauen keinen Zutritt hatten? Handelte es sich um einen essenischen Mönch?" (S. 220f). In der Apostelgeschichte wird vom "Gästehaus" der jüdischen "Hellenisten" (um Diasporajuden und Pilger zum Fest aufzunehmen usw.) gesprochen. Pixner geht davon aus, dass die Essener in ihrem Viertel ebenfalls ein solches Gästehaus betrieben, vorzugsweise um Essener auf Besuch in ihrer Herberge aufzunehmen. Pixner ist allerdings nicht der Meinung, Jesus und seine Jünger seien Essener gewesen, sondern nur, dass Kontakte bestanden.
Gleiche Ansicht vertritt auch Rainer Riesner in "Essener und Urgemeinde in Jerusalem". Insgesamt gut lesbar die Ausführungen der beiden. Und ich wette, Hesemann hat das von einem der beiden (oder eben von beiden).
 
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Eine Überlegung:

Vorausgesetzt Jesus war Pharisäer (was nicht unwahrscheinlich ist) [...]
Also ich habe auch in Erinnerung, dass viele NT-Exegeten der Einschätzung sind, dass Jesus am ehesten der Lehre und den religiösen Auffassungen der Pharisäer nahestand, wenn er auch kein Pharisäer war. Denn gegen letzteres sprechen ja tatsächlich – wie El Quijote richtig eingewandt hat – die vielen Aussprüche Jesu, in denen er die Pharisäer heftig kritisiert.
Bei den Pharisäern und im rabbinischen Judentum gab es zwar einerseits die Entwicklung, nach und nach alles Mögliche bis ins Kleinste zu reglementieren; während bei Jesus die Tendenz erkennbar ist, die Gesetze der Tora weniger dem Buchstaben nach auszudeuten, sondern mehr auf ihre göttliche Motivation hin zu befragen (ich weiß: ist sehr 'romantisch' formuliert, aber ich denke man versteht mich). Auf der anderen Seite aber legten die Pharisäer bzw. die rabbinischen Schulen die Tora für die einfachen als Bauer, Handwerker, Fischer oder Händler lebenden Juden doch sehr viel Alltags-näher aus als die Essener es taten. Ich finde die Formulierung „in pharisäischer Tradition stehend“ für Jesus also durchaus passend.

[...] so hat er - in pharisäischer Tradition stehend - Rabbi Schammais Auffassung (die deutlich strenger als die Hillelsche war, und beide waren Pharisäer) zur Ehescheidung aufgenommen und noch weiter verschärft. Denn mit dem "Schändlichen" könnten Untreue, Ehebruch als einzig gültige Rechtfertigung zur Scheidung bei Schammai gemeint sein.
Rabbi Schammaj und Rabbi Hillel dürften die ersten großen und berühmten Rabbiner gewesen sein, die das Pharisäertum hervorgebracht hat und auf deren Lehrtätigkeit gewissermaßen auch die Mischna gründete. Nun hast Du ohne Frage recht, dass Jesu Lehre zur Ehescheidung/ Wiederheirat viel näher an der des strengeren Schammaj als an der des 'sanften' Hillel lag. Auf der anderen Seite gibt es aber auch auffällige Gemeinsamkeiten zwischen Hillel und Jesus:

Während Schammaj es nicht vermochte, das Gesetz auf eine Kern-Forderung herunter zu brechen, vermochten dies Hillel sowie Jesus sehr wohl – und das mit erstaunlichen inhaltlichen Überschneidungen:

Babyl. Talmud, Seder Moed, Traktat Sabbath II, v:
Abermals ereignete es sich, daß ein Nichtjude vor Schammaj trat und zu ihm sprach: mache mich zum Proselyten unter der Bedingung, daß du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf e i n e m Fuße stehe. Da stieß er ihn fort mit der Elle. die er in der Hand hatte. Darauf kam er zu Hillel und dieser machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora und alles andere ist nur die Erläuterung; geh und lerne sie.

Auch Jesus scheute sich nicht, die Tora prägnant zusammenzufassen. Matth. 7, 12:
Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.

Vgl. sinngemäß auch Mk. 12, 28-31:
Ein Schriftgelehrter [...]: Welches Gebot ist das erste von allen?
Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr.
Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft.
Als zweites kommt hinzu: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.


Deine Formulierung „in pharisäischer Tradition stehend“ ist, finde ich, ganz gut gewählt, denn ich persönlich bin immer skeptisch, ob sich denn damals jeder Jude in Galiläa und Judäa, sei es vom Land oder aus der Stadt, zwangsläufig einer der vier bekannten jüd. Religionsparteien zugehörig gefühlt haben muss. Vielleicht hielten sich viele Juden damals einfach an den Synagogenvorsteher und die Ältesten ihres Dorfes, waren gewissermaßen einfach nur gläubige praktizierende Juden, ohne Pharisäer, Essener, Zeloten oder Sadduzäer zu sein. Das könnte bei Jesus letztlich auch so gewesen sein. Dass die Pharisäer von allen vier Parteien am volkstümlichsten waren und den wohl größten Einfluss auf das einfache Volk hatten, sagt Ios.: ant. 18, 1, 3 (§14f). Das pharisäische Judentum mag die Bewohner Nazareths und die Bewohner der Ortschaften am See Genezareth geprägt haben, ohne dass sich dort alle dieser Partei zugezählt haben.
 
Vielen Dank für die ausführliche Abhandlung. :respekt: (Hattest Du nicht gesagt Du seist ein Faulpelz.:))

Aber eigentlich hatte ich weniger an das pharisäische Judentum gedacht, sondern eher die vielen kleinen Sekten die es zu dieser Zeit gegeben haben soll gemeint. Außer zu den Essenern gibt es da aber wohl nur sehr wenige Informationen, oder?

Ja, ich denke auch, dass sich kaum rekonstruieren lässt, was bspw. die Zeloten zum Thema Ehescheidung und Wiederheirat lehrten. Zu den Essenern will ich aber noch was sagen.

Die Qumran-Schriften unterscheiden hier sowohl von der Mischna als auch von der "jesuanischen" Tradition:
Die Ehescheidung ist grundsätzlich erlaubt, die Wiederverheiratung nicht.

Wo in den Qumran-Schriften findet man denn etwas zum Thema Ehescheidung und Wiederheirat? Ich habe bisher nur ein paar Verse in der Damaskusschrift gefunden.

CD IV, 20-V, 2:
Sie sind durch zweierlei gefangen: in der Hurerei, dass sie zwei Weiber zu ihren Lebzeiten nahmen; aber die Grundlage der Schöpfung ist: Als Mann und Weib hat er sie erschaffen [Gen. 1, 27].
Und die in die Arche hineingingen, sind je zwei und zwei in die Arche gegangen. Und über den Fürsten steht geschrieben: Er soll nicht viele Weiber haben [Dtn. 17, 17].

Ich verstehe das so: Die Essener erlaubten anders als die Pharisäer (und wahrscheinlich erst recht als die Sadduzäer) keine Mehrehen (Polygamie). Die Wiederheirat eines Geschiedenen scheint tatsächlich auch ausgeschlossen (solange die erste Frau noch lebt: „zu ihren Lebzeiten“). Eine Frau, mit der man geschieden ist, und zeitgleich eine Frau, mit der man verheiratet ist, scheint nach Meinung der Verfasser der Damaskusschrift Polygamie zu sein. Ob eine Scheidung ohne Wiederheirat, also eine Scheidung mit anschließender lebenslanger Keuschheit der Geschiedenen, erlaubt war oder nicht, kann ich aus dieser Stelle nicht ersehen. Denkbar ist beides.

Jedenfalls muss ich mein Fazit in # 1381 revidieren: Die Lehre Jesu über die Ehescheidung u. Wiederheirat, wie sie in 1. Kor. und bei den Synoptikern auftaucht, ist zwar gegenüber der pharisäischen Lehre zum Thema neuartig, hat aber sehr starke inhaltliche Gemeinsamkeiten mit der Lehre, die uns dazu in der Damaskusschrift begegnet. Übrigens argumentiert Jesus im Markusevangelium ebenso wie die Damaskusschrift mit Gen. 1, 17.
Mk. 10, 2ff lautet:
Da kamen Pharisäer zu ihm und fragten: Darf ein Mann seine Frau aus der Ehe entlassen? Damit wollten sie ihm eine Falle stellen.
Er antwortete ihnen: Was hat euch Mose vorgeschrieben?
Sie sagten: Mose hat erlaubt, eine Scheidungsurkunde auszustellen und (die Frau) aus der Ehe zu entlassen.
Jesus entgegnete ihnen: Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er euch dieses Gebot gegeben.
Am Anfang der Schöpfung aber hat Gott sie als Mann und Frau geschaffen.
Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen,
und die zwei werden ein Fleisch sein. Sie sind also nicht mehr zwei, sondern eins.
Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen.
Zu Hause befragten ihn die Jünger noch einmal darüber.
Er antwortete ihnen: Wer seine Frau aus der Ehe entlässt und eine andere heiratet, begeht ihr gegenüber Ehebruch.
Auch eine Frau begeht Ehebruch, wenn sie ihren Mann aus der Ehe entlässt und einen anderen heiratet.

Ich sehe hier also letztlich schon erkennbare Überschneidungen i. d. Lehre. Dennoch bin ich trotz solcher Überschneidungen und Gemeinsamkeiten zwischen der Lehre Jesu und der Lehre der Qumran-Leute skeptisch, ob Jesus aus dem essenischen Judentum hervorgegangen ist. Denn der als „Fresser und Weinsäufer“ beschimpfte und mit Zöllnern und Sündern Umgang pflegende Jesus scheint mir nur ganz, ganz schlecht zu den religiös rigorosen, Genuß-kritischen, beinah asketischen, Regel-freudigen, und rituelle Reinheit über alles achtenden Essenern bzw. jenen Juden, die hinter den Qumran-Schriften stecken, zu passen. Man lese sich nur mal die rigorosen Ansichten zum Thema Sabbatheiligung in der Damaskusschrift Kap. IX durch (z. B.: „Einen lebendigen Menschen, der in ein Wasserloch fällt oder sonst in einen Ort, soll niemand heraufholen mit einer Leiter oder einem Strick oder einem anderen Gegenstand“). Das passt mit Jesu Ansicht (Der Mensch ist nicht für den Sabbat da, sondern der Sabbat für den Menschen) wohl kaum zusammen.
 
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Danke für den erhellenden Link!
Da ist außer CD IV 20ff auch noch eine Stelle, in der es um den König geht (keine Ahnung wie repräsentativ letztere ist) angegeben. Vor allem aber überzeugt mich CD XIII 17, dass das "Verstoßen" bzw. die Ehescheidung bei den Qumran-Leuten erlaubt war.
Übrigens sind auch zwei interessante Stellen aus den antiquitates des Iosephus zum Thema angegeben.

Um die Nebenfrage also abzuschließen:
Scheidung und Wiederheirat waren bei Pharisäern (sicher auch bei Sadduzäern) erlaubt und gängig.
Scheidung war auch bei den Qumran-Essenern erlaubt, Wiederheirat aber nicht.
Jesus spricht sich schon gegen die Scheidung aus (weil sie Wiederheirat nach sich ziehe, diese aber Ehebruch darstelle).
 
Also ich habe auch in Erinnerung, dass viele NT-Exegeten der Einschätzung sind, dass Jesus am ehesten der Lehre und den religiösen Auffassungen der Pharisäer nahestand, wenn er auch kein Pharisäer war. Denn gegen letzteres sprechen ja tatsächlich – wie El Quijote richtig eingewandt hat – die vielen Aussprüche Jesu, in denen er die Pharisäer heftig kritisiert.

Man sollte auch hier vorsichtig sein:
Im Johannes-Evangelium kritisiert Jesus "die Juden" sehr heftig.
Daraus würde ich nicht schließen, dass Jesus kein Jude war.
 
Man sollte auch hier vorsichtig sein:
Im Johannes-Evangelium kritisiert Jesus "die Juden" sehr heftig.
Daraus würde ich nicht schließen, dass Jesus kein Jude war.

Zugegeben, der Schluss, den ich aus Jesu Kritik an den Pharisäern ziehe - nämlich dass Jesus sich selbst nicht dazugezählt hat -, ist logisch betrachtet kein zwingender.

Aber dass Jesus Jude war setzen die Quellen an beinah unzähligen Stellen voraus (jüdische Abstammung wird sogar explizit behauptet). Dass Jesus hingegen Pharisäer war, setzen die Quellen nirgends voraus (noch viel weniger wird dies explizit behauptet).

Was meine persönliche Einschätzung (- mehr kann's gar nicht sein -) anbelangt, halte ich es, wie gesagt, mit Huldas Formulierung, dass Jesus gut in pharisäischer Tradition gestanden haben kann.

Stellt sich die Frage überhaupt, ob Jesus eher richtiger Pharisäer war oder eher "nur" in pharisäischer Tradition gestanden hat?
Die Pharisäer werden doch keine Mitgliedslisten geführt haben, so dass man hätte strikt trennen können: Hr. Meier steht auf der Liste; ergo ist er Pharisäer-Mitglied. Hr. Müller steht nicht drauf; ergo ist er kein Pharisäer. Mir scheint das war eine Bewegung mit mehreren unterschiedlichen Schulen (teils ergänzend? teils konkurrierend?). Das Pharisäertum wird kaum eine Institution und wohl auch keine Organisation gewesen sein (die Lehrbetriebs-Zentren der einzelnen Schulen um bestimmte Rabbiner vielleicht hingegen schon). Die Grenzen zwischen Pharisäertum und sonstigem ernsten jüdischen Glauben werden schwimmend gewesen sein.
Bei den Essenern wird das anders gewesen sein. Wir wissen aus den Qumranschriften, dass es Aufnahmebedingungen und -prozeduren gab, Probezeiten, Rechte und Pflichten des einzelnen Mitglieds in der Gemeinschaft. Ausstoß aus der Gemeinschaft bei bestimmten Verstößen. Bei einem Essener kann man schon irgendwie von einer echten offiziellen Zugehörigkeit zur bzw. einer Mitgliedschaft in der Gemeinschaft der Essener sprechen (wobei ich mal davon ausgehe, dass es auch hier mehrere Zentren und vielleicht auch Schulen bzw. Zweige gegeben hat). In der Mischna kenne ich da eigentlich kein Pendant, wo quasi die Mitgliedschaft bei den Pharisäern geregelt würde bzw. wo darüber gehandelt würde. Interessanterweise nennt uns Iosephus auch keine Anzahl von Pharisäern, aber eine von Essenern (näml. 4000). Deutet vielleicht auch in diese Richtung.

Ob also Jesus Pharisäer war oder nicht, ist wohl schon damals so ziemlich von Jesu eigener Einschätzung abhängig gewesen (die ich nicht kenne, sondern nur erahnen kann). Ich erlaube mir hingegen zu sagen, dass Jesus gemäß den Evangelien in einigen nicht unbedeutenden Lehrpunkten in pharisäischer Tradition stand. Das ist der kurze Sinn meiner langen Rede.:pfeif:

Ach, doch noch eines:
Ich denke Du wolltest darauf hinaus, was Zoki oben schon gesagt hat, dass nämlich die Kritik an den Pharisäern in den Evangelien, nicht zwangsläufig so generell von Jesus geübt worden sein muss, sondern auch nur auf Spannungen zwischen den ersten Christengenerationen mit dieser jüdischen Partei hinweisen kann. Ja, kann auch sein.
 
Zugegeben, der Schluss, den ich aus Jesu Kritik an den Pharisäern ziehe - nämlich dass Jesus sich selbst nicht dazugezählt hat -, ist logisch betrachtet kein zwingender.
Darauf wollte ich hinaus.

Ich denke Du wolltest darauf hinaus, was Zoki oben schon gesagt hat, dass nämlich die Kritik an den Pharisäern in den Evangelien, nicht zwangsläufig so generell von Jesus geübt worden sein muss, sondern auch nur auf Spannungen zwischen den ersten Christengenerationen mit dieser jüdischen Partei hinweisen kann. Ja, kann auch sein.
Solche Spannungen müssen nicht zwingend die Ursache für die Darstellung in den Evangelien sein.
Denkbar wäre auch, dass Jesus nur mit einer bestimmten Gruppe innerhalb der Pharisäer im Clinch lag, was die Evangelisten aber aus ihrer Perspektive (zeitliche und räumliche Distanz) nicht mehr differenzieren.

Mir scheint das war eine Bewegung mit mehreren unterschiedlichen Schulen (teils ergänzend? teils konkurrierend?). Das Pharisäertum wird kaum eine Institution und wohl auch keine Organisation gewesen sein (die Lehrbetriebs-Zentren der einzelnen Schulen um bestimmte Rabbiner vielleicht hingegen schon). Die Grenzen zwischen Pharisäertum und sonstigem ernsten jüdischen Glauben werden schwimmend gewesen sein.
Das sehe ich genauso.
 
Ich erlaube mir hingegen zu sagen, dass Jesus gemäß den Evangelien in einigen nicht unbedeutenden Lehrpunkten in pharisäischer Tradition stand. Das ist der kurze Sinn meiner langen Rede.:pfeif:

Und wie steht es mit den Punkten bei denen Jesus scheinbar in der Tradition der kynischen Pilosophie steht. Jedenfalls könnte man diesen Schluß unter anderem aus folgenden Zitaten ziehen.

Epiktet: "Alle Menschen haben immer und überall einen Vater der für sie sorgt."

Dio aus Prusa: "...betrachte die wilden Tiere dort drüben und die Vögel, wieviel sorgenfreier sie als der Mensch leben..."

Und bei Seneca findet man zum Thema kynische Philosophie folgendes: "Gestatte jedem Menschen, der es möchte, dich zu beleidigen und falsch zu behandeln; wenn jedoch nur Tugend in dir ist, wirst du nichts erleiden. Wenn du glücklich sein möchtest, wenn du in guter Absicht wünschen würdest, ein guter Mensch zu sein, lass den einen oder anderen Menschen dich verachten."

Natürlich bin ich kein Experte für kynische Philosophie. Wie wahrscheinlich unschwer zu erraten ist, habe ich diese Beispiele mal wieder bei Doherty gefunden. Er ist der Meinung das ein Teil von "Q" (hauptsächlich die allgemein unter "Q1" zusammengefassten Sprüche) einen hellenistisch/kynischen Charakter tragen.
 
Und wie steht es mit den Punkten bei denen Jesus scheinbar in der Tradition der kynischen Pilosophie steht. Jedenfalls könnte man diesen Schluß unter anderem aus folgenden Zitaten ziehen.

Epiktet: "Alle Menschen haben immer und überall einen Vater der für sie sorgt."

Gut möglich, dass es da Einflüsse von der einen zur anderen Seite gab.

Dass Q von Epiktet beeinflusst wurde, wird aber nicht einmal Doherty behaupten...

Er ist der Meinung das ein Teil von "Q" (hauptsächlich die allgemein unter "Q1" zusammengefassten Sprüche) einen hellenistisch/kynischen Charakter tragen.

Die Rekonstruktion von "Q1" halte ich schon für ziemlich spekulativ.
Kann man da von "allgemein" sprechen?
 
Die Rekonstruktion von "Q1" halte ich schon für ziemlich spekulativ.
Kann man da von "allgemein" sprechen?

Wenn man unter "Q1" die Weisheitssprüche zusammenfasst die meist ethische Ratschläge und Regeln enthalten, während man unter "Q2" die prophetischen und apokalyptischen Sprüche versammelt, hat das ja erst mal nichts mit Spekulation zu tun.
Spekulativ wird es erst, wenn man in einem 2. Schritt versucht diese beiden Teile in eine zeitliche Reihenfolge zu setzen. Da aber z.B. das Thomasevangelium fast nur Sprüche nach Art von "Q1" enthält, liegt die Vermutung nahe, dass "Q2" erst nach einer Abspaltung der Thomas-Gemeinde von der Q-Gemeinde hinzugefügt wurde.
 
Spekulativ wird es erst, wenn man in einem 2. Schritt versucht diese beiden Teile in eine zeitliche Reihenfolge zu setzen.
Davon gehen die Anhänger der Q1/Q2(/Q3)-Hypothese ja aus.

Wenn man unter "Q1" die Weisheitssprüche zusammenfasst die meist ethische Ratschläge und Regeln enthalten, während man unter "Q2" die prophetischen und apokalyptischen Sprüche versammelt, hat das ja erst mal nichts mit Spekulation zu tun.
Warum sollte man überhaupt eine Trennung vornehmen?
Weisheitliche Mahnung und prophetisch-apokalyptische Gerichtsrede lassen sich in Q daher nicht isolieren oder gegeneinander ausspielen. Beide gehören zusammen und sind zu innerst aufeinander bezogen.
Paul Hoffmann
 
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